Grundlagen der Internationalen Beziehungen - Eine Einführung

von: Hubert Zimmermann, Milena Elsinger

Kohlhammer Verlag, 2019

ISBN: 9783170323995 , 264 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 25,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Grundlagen der Internationalen Beziehungen - Eine Einführung


 

1          Einleitung: Fragestellungen, Methoden und der Sinn von Theorien in den Internationalen Beziehungen


 

Internationale Beziehungen studieren


Die Welt des 21. Jahrhunderts ist eine unruhige Welt. Mit ungeheurer Symbolkraft haben die spektakulären Bilder der Anschläge des 11. Septembers 2001 die Illusion beseitigt, dass sich nach den Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und dem Ende der Teilung der Welt in zwei sich feindlich gegenüberstehende Machtblöcke während des Kalten Krieges endlich Schritt für Schritt eine friedlichere Weltordnung herausbilden würde. Seitdem haben eine Serie katastrophaler Terroranschläge, endlose Kriege im Nahen und Mittleren Osten mit verheerenden Folgen, Spannungen zwischen atomaren Mächten in Asien, tiefgreifende Finanzkrisen, die sich abzeichnende Klimakatastrophe, enorme Migrationsbewegungen und der weltweite Aufstieg nationalistischer und populistischer Bewegungen die Hoffnungen auf einen grundlegenden Wandel der internationalen Beziehungen hin zum Positiven tief erschüttert.

Viele, nicht nur populistische, Bewegungen, suchen die verlorengegangene Sicherheit in einer Rückkehr zu sich abschottenden und unabhängigen Nationalstaaten. Allerdings werden die Notwendigkeit der Bekämpfung globaler Probleme, die vor Grenzen nicht Halt macht, und die Suche nach zwischenstaatlichen, einvernehmlichen Lösungen für globale Streitfragen nicht einfach verschwinden. Vielmehr bleiben die internationale Politik und ihre Konsequenzen weiter von zentraler Bedeutung für die großen Fragen der Zukunft. Umso wichtiger ist es, die zugrundeliegenden Strukturen und Mechanismen zu kennen und ein Verständnis für die Abläufe im internationalen Raum zu entwickeln, welches über die zufällige und selektive Ansammlung von Fakten, welche nur die eigene Meinung bestätigen, hinausgeht. Dieses Verständnis systematisch zu entwickeln, dem dient das Studium der Internationalen Beziehungen (IB)1. Gerade in einer Zeit, in der die Informationsflut des Internets eine unüberschaubare Menge an Meinungen, Vermutungen, vermeintlichen Wahrheiten und alternativen ›Fakten‹ produziert und verfügbar macht, ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit internationalen Phänomenen umso wichtiger. Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen gefühlten Wahrheiten, die im Netz mühelos erworben werden können (und die oft eine wohlige und denkfaule Selbstbestätigung der eigenen Ansichten und Vorurteile liefern), und einer auf wissenschaftlichen Standards beruhenden Betrachtung, Analyse und Erklärung globaler Politik. Dazu gehört, die eigenen Vorannahmen zu hinterfragen, Informationen kritisch zu prüfen und die häufig frustrierende, aber unausweichliche Begrenztheit der verfügbaren Informationen über die meisten internationalen Vorgänge zu akzeptieren und produktiv nutzbar zu machen.

Dieses Buch hat zwei Hauptfunktionen. Zunächst soll es Ihnen durch seine nachvollziehbare und verständliche Gestaltung helfen, das Studium des Fachs Internationale Beziehungen erfolgreich und mit bleibendem Erkenntnisgewinn zu bewältigen. Es soll außerdem Hilfestellung leisten bei der Einschätzung und Bewertung der vielen wichtigen und spannenden Fragen der internationalen Geschehnisse, die tagtäglich die Medien dominieren. Nicht umsonst sind die IB meist die populärste Teildisziplin im Bereich der Politikwissenschaften und auch ausgesprochen attraktiv für Studierende anderer Studiengänge, wie zum Beispiel die Geschichtswissenschaften, die Wirtschaftswissenschaften, Geographie oder zahlreiche Regionalwissenschaften.

Wenn Sie mit dem Studium der IB beginnen, ist es ganz wichtig, sich zwei fundamentale Unterschiede einer wissenschaftlichen oder akademischen Beschäftigung mit internationaler Politik im Gegensatz zur alltäglichen Beobachtung der Weltpolitik klar zu machen:

1) Häufiger als bei anderen Disziplinen herrscht gerade beim Studium der IB die Vorstellung, es genüge eine informierte, möglichst umfangreiche Ansammlung von (sogenannten) Fakten und Meinungen, um internationale Geschehnisse zu verstehen und zu bewerten. In Tageszeitungen, audiovisuellen Medien oder dem Internet finden sich schließlich unzählige Beiträge über beinahe jedes Thema der internationalen Politik. So erscheint es zunächst recht unkompliziert, gut informierte, überzeugende und ›richtig‹ erscheinende Quellen zu finden, um zu verstehen, weshalb Staaten Kriege gegeneinander führen, weshalb es andauernde Unterentwicklung gibt oder weshalb globale Umweltprobleme nicht effektiv bekämpft werden. Eine kurze Materialsammlung über Google reicht dazu aus. Diese Vorgehensweise ist bequem, denn zum einen ist sie weniger arbeitsintensiv als eine wissenschaftliche Analyse, wie sie in diesem Buch eingeübt werden soll. Zum anderen ist sie aber auch psychologisch angenehmer, denn oft werden bewusst oder unbewusst die Texte ausgesucht, die den eigenen vorgefassten Ideen, Thesen und Einstellungen entsprechen. Man erspart sich so die Mühe, sich mit den vielen Widersprüchen, Sachzwängen, Gegenmeinungen und Zweideutigkeiten der internationalen Politik auseinandersetzen; damit geht aber auch das verloren, was eigentlich das ausgesprochen Spannende an der internationalen Politik ist. Denn dies besteht weniger darin, dass in diesem Themenbereich ›scharf geschossen‹ wird, Menschen sterben oder ausgebeutet werden, und Staaten ›gewinnen‹ oder ›verlieren‹. Das eigentlich Faszinierende ist vielmehr, dass man das ›Warum?‹ zu verstehen beginnt. Warum gibt es Krieg, Ausbeutung, Krisen, Gipfeltreffen, Rivalitäten, Ungerechtigkeiten etc.?

Es geht im Studium der IB also nicht darum, mit einem Vollständigkeitsanspruch zu beschreiben, wie die USA in den Irak einmarschiert ist und was dann alles so passiert ist, oder zu erzählen, wie es dazu kam, dass die Bundeswehr in Afghanistan ist, oder worum es in der Kubakrise während des Kalten Kriegs ging, und wie dabei beinahe die Welt untergegangen wäre. Das reine Aufzählen von Tatsachenwissen, zumal von allgemein zugänglichen Basisinformationen, und die solide Recherche und Präsentation dieser Informationen sind wichtig und gut. Sie sind aber für ein universitäres Studium unzureichend. Der so häufig in Referaten, Thesenpapieren und Seminararbeiten dargebotene ›historische Überblick‹ und ähnliche Materialsammlungen sind meist überflüssig und vergebene Liebesmüh, wenn sie nicht durch eine klar definierte Fragestellung und eine nachvollziehbare Methodik (dazu mehr später) strukturiert werden. Die Zusammenhänge hinter diesen Informationen, und ihre Relevanz zu verstehen ist das Ziel. Dieses Ziel zu erreichen ist eine komplexe, aber lohnende Aufgabe.

2) Es geht bei den IB auch nicht primär darum festzustellen, wie schlimm es ist, dass weiterhin so viele Waffenexporte existieren, oder darüber zu lamentieren, wie inkompetent der Westen in Afghanistan war, oder festzustellen, wer schuld daran ist, dass nun schon seit vielen Jahren der Osten der Ukraine im Kriegszustand ist. Der politische Diskurs im Netz, häufig auch in den Medien, ist oft mehr oder weniger deutlich von der Annahme geprägt, dass die politisch Handelnden dumm, korrupt, kindisch, verbrecherisch usw. sind. Mit souveräner Geste wird dann gezeigt, wie man es besser oder politisch korrekter hätte machen können – fertig ist die Analyse. Tatsächlich ist es nicht schwer, den katastrophalen Einmarsch im Irak durch die US-Regierung von George W. Bush als gigantischen Fehler zu demaskieren, oder sich über Waffenexporte Deutschlands in Konfliktregionen zu empören. Völlig vergessen wird dabei die eigentliche Frage: Weshalb kommt es zu diesen moralisch verwerflichen Aktionen? Das Ziel ist es wieder, erst zu verstehen und dann zu urteilen, und nicht zu (ver-) urteilen, ohne zu verstehen. Das heißt nicht, dass moralische Werturteile völlig irrelevant sind, oder dass man völlig unvoreingenommen an die Thematik herangehen soll oder kann. Es bedeutet vielmehr, dass der eigene Standpunkt selbst reflektiert und Teil einer analytischen Herangehensweise wird. Der deutsche Soziologe Tilman Allert hat das in einem Interview sehr schön ausgedrückt:2

»Wenn ich aber verstehen will, dann muss ich meine Empörung über diese Welt kontrollieren, und zwar nicht moralisch kontrollieren, sondern methodologisch kontrollieren. Ich muss nicht ein anderer Mensch werden. Ich muss nicht meine Motive, diese Welt zu verändern, ändern … [Aber um einen Fall zu verstehen] muss ich ihn überhaupt erst zu einem Gegenstand machen, der es wert ist, verstanden und nicht bejammert zu werden …«

Ziel einer universitären Politikwissenschaft ist es also nicht in erster Linie, mehr oder weniger richtige oder korrekte Werte auszudrücken...