Reformation heute - Band V: Menschenbilder und Lebenswirklichkeiten

von: Bernd Oberdorfer, Eva Matthes

Evangelische Verlagsanstalt, 2019

ISBN: 9783374059577 , 248 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 27,99 EUR

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Reformation heute - Band V: Menschenbilder und Lebenswirklichkeiten


 

DAS ERWACHEN


Menschenbilder und Konfessionskulturen in Renaissance und Reformation an der Epochenschwelle zur Neuzeit

Jörg Lauster

Romreisende besuchen gerne die Villa Farnesina am Tiberufer in dem heute populären Stadtteil Trastevere. 1511 ließ Agostino Chigi die prächtige Villa bauen und scheute dabei keine Kosten und Mühen. Als einer der reichsten Männer seiner Zeit beauftragte der Bankier erlesene Künstler mit dem Bau und der Ausgestaltung. Raffaels »Triumph der Galatea« ist vermutlich das berühmteste, aber nicht das einzige Kunstwerk von Rang, das in der Villa zu bewundern ist. Die Bilder kreisen um den Lobpreis der Schönheit und Liebe und boten die Kulisse für kultivierte Geselligkeit, zu der Chigi seine Gäste einlud, um mit ihnen die größten Vorzüge des Menschseins zu erörtern. Etwa zeitgleich brütet aus römischer Perspektive am Ende der Welt ein Augustinermönch am Rande der Verzweiflung über der Frage, wie er einen gerechten Gott bekäme. Luthers Klosterzelle in Erfurt und die Villa Farnesina sind Sinnbilder eines Gegensatzes, der seither in luftige Höhen hinaufstilisiert wurde. Auf der einen Seite steht das Ernsthaft-Teutonische, auf der anderen das Sinnenfroh-Profane der Renaissance. Über Jahrhunderte hat der Gegensatz dazu gedient, aus dem Reformatorischen eine eigene Konfessionskultur zu profilieren. Der Begriff »Konfessionskultur« hat jedoch auch seine Tücken. Er verschleiert, dass es zwischen der Renaissance und der Reformation eine sehr viel größere Kontinuität gibt, beide Bewegungen stehen für einen gemeinsamen Aufbruch im Selbstverständnis der Menschen in der europäischen Religions- und Kulturgeschichte.

1IMAGO DEI – ASPEKTE DES HUMANISTISCHEN MENSCHENBILDES


Als Ausgangspunkt der Renaissance und mit ihr des Humanismus als gedanklicher Bewegung innerhalb der Renaissance wird gemeinhin das Werk des italienischen Dichters Petrarca angesetzt. Seine Briefe und Traktate machen deutlich, wie sich der Mensch in der Kraft des Denkens selbst zur Aufgabe wird. Daran schließen sich im 15. Jahrhundert erste Überlegungen zu einer besonderen Würde des Menschen an, die zudem die besondere Stellung des Menschen im Kosmos zu erfragen suchen.1

Die in der Welt sichtbare Schönheit ist eine ihr eingelassene Spur des göttlichen Grundes, die Wirksamkeit göttlicher gratia. Auf diese Weise verbindet Ficino christlichen Schöpfungsglauben mit platonischer Emanationsphilosophie. Einen besonderen Stellenwert räumt Ficino in dieser Kosmologie drittens dem Menschen ein. Denn dessen Seele steht in der Mitte des Kosmos an der Grenzscheide zwischen ideeller und stofflicher Welt, zwischen Geist und Materie. Die Unsterblichkeit seiner Seele gründet in der dem menschlichen Denken eingegebenen Überwindung des Endlichen. Das ist nur möglich, weil das Denken selbst als eine Entäußerungsform des göttlichen Geistes im menschlichen Geist zu begreifen ist. Ficinos Welt- und Menschenbild dient so in besonderer Weise dazu, dem neu gewonnenen Selbsterleben des Menschen in der Renaissance einen philosophischen Ausdruck zu verleihen. Ficino bringt philosophisch, um das schöne Hegelwort zu bemühen, die Gedanken seiner Zeit über den Menschen auf den Begriff. Viertens begründet er in ausdrücklicher Anknüpfung an den antiken Platonismus ein Programm, in dem Philosophie nicht bloße Spekulation, sondern tatsächliche Lebensform ist. In praktisch ausgerichteten Büchern widmet er sich dem Thema, wie der Mensch den Aufstieg zu Gott als Rückkehr zu seinem Ursprung leben kann. Fünftens schließlich ist diese große Synthese eines christlichen Platonismus eingebettet in das Konzept einer philosophia perennis. Ficino gelingt es, in seiner Hochschätzung der prisca theologia die vorchristliche Philosophie in einer geradezu heilsgeschichtlichen Konzeption in das christliche Denken zu integrieren.

»Die Natur der übrigen Geschöpfe ist fest bestimmt und wird innerhalb von uns vorgeschriebener Gesetze begrenzt. Du sollst dir deine ohne jede Einschränkung und Enge, nach deinem Ermessen, dem ich dich anvertraut habe, selber bestimmen. Ich habe dich in die Mitte der Welt gestellt, damit du dich von dort aus bequemer umsehen kannst, was es auf der Welt gibt. Weder haben wir dich himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du wie dein eigener, in Ehre frei entscheidender Bildhauer dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst. Du kannst zum Niedrigeren, zum Tierischen entarten; du kannst aber auch zum Höheren, zum Göttlichen wiedergeboren werden, wenn deine Seele es beschließt.«4

Die Kraft zur Selbstgestaltung ist der eigentliche Sinn des menschlichen Daseins im Spannungsfeld zwischen Geist und Materie. Diese Grundüberzeugung des Renaissanceplatonismus hat nachhaltig hineingewirkt in die Kultur der Renaissance. Zwei prominente Beispiele aus der Kunst können das veranschaulichen. Raffaels »Schule von Athen« ist eines der bekanntesten Bilder der europäischen Kunstgeschichte. Im Zentrum des Gemäldes disputieren Platon und Aristoteles miteinander, umrahmt von vielen anderen klassisch zu nennenden griechischen Philosophen. Der Konstanzer Romanist Karlheinz Stierle hat darauf hingewiesen, wie sehr die Einrichtung von Akademien in Anknüpfung an die philosophische Akademie des antiken Platonismus in der Renaissance den Wissenschaftsbetrieb verwandelte. Der Humanismus habe nicht nur den Methodenkanon der mittelalterlichen Universität rasant verändert, sondern auch die Vermittlungsform von der Lehrunterweisung hin zum geselligen Dialog gleichberechtigter Gesprächspartner neu begründet. Obgleich die Akademie der Florentiner Platoniker nicht die erste und auch nicht die einzige Akademie der Renaissance war, spielte sie doch eine entscheidende Rolle. Ficinos Idee, nicht nur Philosophen, sondern darüber hinaus auch Künstler und Dichter in die Suche nach der Wahrheit mit einzubinden, galt als populärste und wirkungsmächtigste Form dieser neuen Art des Wissenserwerbs. Sinnfälliger Ausdruck dafür ist Stierle zufolge Raffaels »Schule von Athen«.5 Seine Schule von Athen zeigt Aristoteles und Platon entgegen einer langen Tradition nicht als Kontrahenten, sondern als miteinander gemeinsam Diskutierende, so wie die anderen Philosophen auch. Trifft Stierles These zu, dann ist Raffaels Bild aus den Stanzen nicht nur eines der berühmtesten, sondern auch eines der wichtigsten Bilder der Renaissancekunst. Es ist das zu Bild gewordene neue Bildungsideal des Renaissanceplatonismus: Das Erlangen von Wissen ist eine Aufgabe, die dem Menschen in gemeinsamer Anstrengung gestellt und im geselligen Austausch zu erfüllen ist.6

Der ikonographische Ansatz der Warburg-Schule ist in der kunsthistorischen Bildinterpretation etwas aus der Mode gekommen. Daran sind die Vertreter der Schule nicht ganz schuldlos. Insbesondere Panofsky, aber ähnlich auch Wind, neigen dazu, die künstlerische Produktion zu einseitig als Ausdrucksgestalt vorauslaufender weltanschaulicher Sinnstiftung zu interpretieren. Darin liegt, so der berechtigte Einwand, die Gefahr, das Kunstwerk zum bloßen Mittel zum Zweck zu degradieren.8 Natürlich wird man Michelangelo sowohl einen genuin künstlerischen Gestaltungswillen als auch mehrere ideengeschichtliche Einflüsse unterstellen dürfen, die er aufnahm und verarbeitete. Daraus resultiert in den Augen der Betrachter eine enorme Interpretationsvielfalt. In den unzähligen Büchern über die Deckenfresken der Sixtinischen Kapelle scheint jeder Interpret zu finden, was er in ihnen finden möchte. Vielleicht macht auch gerade das die geheimnisvolle Faszination dieses großen Werkes aus. Die Ansätze reichen von Michelangelo, dem kirchentreuen Maler, der ganz das theologische Programm des Papstes umgesetzt habe,9 über den Anhänger des reformorientierten Augustinergenerals Egidio da Viterbo10 bis hin eben zum Florentiner Neuplatoniker. Eine neuere Untersuchung kommt sage und schreibe auf 17 Interpretationsansätze.11 In Anbetracht dieser Interpretationsentropie mag es verständlich erscheinen, dass sich eine gewisse Interpretationsaskese durchzusetzen scheint, die sich auf die analytische Beschreibung des Kunstwerks beschränkt.12 Hermeneutisch gesehen wird damit aber doch vermutlich das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Korrigiert man ihren ausschließlichen Anspruch, dann hat die Interpretationslinie der Warburg-Schule einiges für sich. Denn in der Abwägung der Argumente kann sie noch immer die besten Erklärungsmöglichkeiten für die Komposition und Durchführung der Deckenfresken liefern.13 Diese sind zwar nicht gemalter reiner Florentiner Neuplatonismus, aber sie geben doch offensichtlich erhebliche Einflüsse zu erkennen, die Michelangelo seit seiner Ausbildung unter den Medici in Florenz aufgenommen hat. Damit gibt der Renaissanceplatonismus nicht den einzigen, aber doch einen wichtigen kulturellen Hintergrund für Michelangelos Werk am Deckengewölbe der Sixtinischen Kapelle ab.

Unter Rückgriff auf die platonische Philosophie stehen die einzelnen Bilder für eine Stufe im Aufstieg des Menschen zu seinem göttlichen Ursprung. Die ersten Bildsequenzen, Noahs Trunkenheit, die Sintflut und der Sündenfall, veranschaulichen die platonische Auffassung vom Körper als Gefängnis der Seele, den hoffnungslosen Kampf der in dieser Körper- und...