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Über die Trunksucht und eine rationelle Heilmethode derselben Alkoholabhängigkeit im 19. Jahrhundert - Über Alkoholsucht, die Alkoholkrankheit, Alkoholabhängigkeit und Alkoholiker im frühen 19. Jahrhundert


 

Über die Trunksucht und eine rationelle Heilmethode derselben:


Ein Übel, das auf die Population mancher Staaten, auf Sittlichkeit der Menschen und auf häusliche Zufriedenheit so vieler Familien, den nachtheiligsten Einfluss hat, die Trunksucht, sollte ein Gegenstand der geschärftesten Aufmerksamkeit eines jeden Mannes sein, der als redlicher Weltbürger auf die Veredlung und die Glückseligkeit der Menschen mitwirken will.

Dass sich über den vorliegenden Gegenstand aus verschiedenen Gesichtspunkten Betrachtungen anstellen ließen, ist einleuchtend. Ob aber die Trunksucht ein Gegenstand der Pathologie, und also eines therapeutischen Verfahrens sei, will ich hier auseinander zu sehen suchen. Die allgemeinere Meinung lässt den unmäßigen Genuss berauschender Getränke, nicht auf physischen, sondern vielmehr auf moralischen Gründen beruhen, und von diesem Gesichtspunkte ausgehend hat man geglaubt, die eigentlichen oder einzigen Mittel, diesen Fehler zu heben, möchten solche sein, die einen Widerwillen wider spirituöse Getränke erregen könnten, daher die Anempfehlung und Anwendung gewisser Mittel, die größtenteils entweder auf eine bloß physische Weise, oder auch durch Mitwirkung der Imagination, als bald nach einem Genusse berauschender Getränke Ekel oder Erbrechen, und somit einen Widerwillen wider solche erregen sollten, anderer aus groben Vorurteilen angewendeter Mittel nicht zu gedenken.

Das Resultat eines solchen Verfahrens musste am öftesten bloß unbefriedigend, in manchen glücklich geheißenen Fällen, aber eine Erschütterung der übrigen Gesundheit sein, daher wohl die häufige, zum Teil gegründete Meinung unter dem russischen Volke, dass nach der Heilung der Trunksucht der Mensch bald sterbe, welche Meinung aber auf eine rationelle Heilmethode dieser Krankheit, aus wesentlichem Grunde, keine Anwendung finden darf.

Ferner hat man zu betrachten, dass das Bestreben bei jemanden einen Widerwillen wider spirituöse Getränke hervorbringen zu wollen, wider die Genehmigung der Natur streitet, weil der Mensch von Natur keinen Widerwillen wider reine spirituöse Getränke hat; und es ist übrigens aus mehreren Gründen wahrscheinlich, dass ein eigentlicher Widerwille wider berauschende Getränke, nur durch Erregung eines andern und bedeutenden krankhaften Zustandes zuwege gebracht werden könnte.

Durch das äußerst missfällige Übel der Trunksucht häufig gegebene traurige, nicht selten jedweden Menschen in die widrigste Erschütterung versetzende Auftritte waren veranlassende Ursachen zu einem Entschluss, dieses Übel zum vorzüglichen Gegenstande meiner Beobachtungen und Untersuchungen zu machen, so wie zu einem Wunsch, womöglich, Mittel zur Verhütung, Verminderung oder zur gänzlichen Beseitigung desselben aufzufinden. Diesen nach war mein erstes Bestreben, zu erforschen, ob es in einer physischen Krankheit begründet sei oder nicht, und sehr bald fand ich mich überzeugt, dass dieses Übel auf einem, der ärztlichen Kenntnis gar nicht fremden pathologischen Gesetze beruhe, folglich eine physische Krankheit sei.

Es liegt mir ob, dieses vorläufig wenigstens durch einige, aus den Grenzen des leichter Wahrnehmbaren entnommene Umstände oder Erscheinungen zur allgemeineren Überzeugung zu bringen.

1) Müssen wir auf das eigene Geständnis der Trunksüchtigen selbst, und zwar der Vernünfte, gern reflektieren. Es gibt der Menschen nicht zu wenige, die es aufs lebhafteste fühlen, wie enterend an und für sich, und nicht bloß in den Augen anderer Menschen, wie schädlich für ihre Gesundheit, wie nachtheilig für ihren Hausstand dieses verabscheuungswürdigste Übel ist. Und die mit den festen Vorsatze wohl mehrere Male zu Werke gegangen sind, sich Zwang anzutun und sich des Trunkes zu enthalten. Es tritt der Zeitpunkt der Trunksucht ein, und siehe da, sie bitten flehentlich um ein wenig Branntwein, wenn man ihnen denselben gewaltsam vorenthält, und hernach versichern sie, dass es ein mächtiger, unüberwindlicher Trieb, ein Drang sei, der sie zum Genuss des Branntweines führe, und äußerste Qual, wenn er nicht befriediget würde.

2) Die Trunksucht ist oft periodisch intermittierend, auch remitierend.

3) Den Trunksucht Anfällen sehen gewisse Vorboten vorher.

4) Die Dauer der Anfälle ist gewissen bestimmten Gesetzen unterworfen.

5) Jeder Trunksuchtanfall endiget sich mit Erscheinungen, die denen der kritischen anderer Krankheiten ähnlich sind.

6) Wenn man beim Eintritt oder während eines Trunksuchtparorismus dem Kranken den Branntwein gewaltsam und durchaus vorenthält; so entstehet nicht selten Wahnsinn; man hat auch viele Beispiele, dass Menschen unter solchen Umständen plötzlich gestorben sind.

7) Der Kranke kann durch physische Mittel von diesem Übel befreiet werden: Beweise verschiedener Art, dass die Trunksucht ein unwillkürliches Übel, folglich eine Krankheit und nicht in einer Verletzung der Moralität, wie man gewöhnlich zu glauben geneigt ist, begründet sei.



Vorhergehende, zum Teil aus den formellen Erscheinungen herbeigeführte Beweise beziehen sich zunächst größtenteils auf die in abgesonderten Anfällen bestehende Trunksucht. Die anhaltende Trunksucht lässt nur feinere, auf genauere Naturkenntnis zu gründende und aus dem Nachfolgenden zu eruirende Beweise zu, und dieses mag die Ursache sein, weshalb sie vorzüglich bis jetzt als eigentliche Krankheit verkannt war.

Es ist für jetzt genügend, im Allgemeinen zu bemerken, dass von einer formellen Verschiedenheit der Arten einer Krankheits-Gattung auf eine wesentliche Verschiedenheit ihres ursächlichen kein Schluss zu ziehen ist. Vor der Hand mag aber in Hinsicht der anhaltenden Trunksucht, ein Schluss durch die Analogie, die Stelle eines direkten Beweises vertreten. Man möchte aber vielleicht einwenden, dass wenigstens die Gelegenheitsursache zu dieser Krankheit unmoralisch war.

Die Gelegenheitsursache ist am öftesten der Genuss des Spirituösen selbst, so lange aber der Genuss des Branntweins überhaupt nicht für unmoralisch gehalten wird, ist es schwer zu bestimmen, auf welchem Grade des Gebrauches die Moralität in Anspruch zu nehmen sei; mithin ist es, für viele Menschen wenigstens, nicht so leicht, sich für das besagte Übel zu bewahren, als man glauben sollte; es sei denn, dass man dem Genusse des Spirituösen ganz entsage.

Jeder Trunksüchtige hat anfänglich und sehr oft viele Jahre hindurch, den Spiritus in dem Maaße genossen, wie ihn viele zu genießen pflegen, die der Krankheit tunlichst unterworfen gehalten werden, und manche haben sich wohl sorgfältig bestrebt, desselben nicht zu viel zu genießen; aber durch den nur einige Zeit fortgesetzten mäßigen Gebrauch des Spirituösen wird der Genuss desselben zuletzt schon notwendig, welche Notwendigkeit sich in einem eigenen Verlangen, desselben zu genießen, und in einer besondern Unbehaglichkeit, wenn dasselbe, vorzüglich zur sonst gewöhnlichen Zeit, nicht genossen wird, ausspricht. Auf diesem Punkte ist es nun leicht, gelegentlich aus den Grenzen des Gebührenden herausgebracht zu werden, und eine nicht eigentlich gesuchte Veranlassung kann einen Trunksüchtigen bilden.

Einige male zufälligerweise besuchte Zechgelage, oder die Gesellschaft eines Trinklustigen haben dann wenigstens insofern ihre Wirkung fühlbar gemacht, dass der Mensch nun mehr, ohne erst eine Gelegenheit abzuwarten, aus eigenem Antriebe, und schon mit einer gewissen Sehnsucht öfter zu berauschenden Getränken greift, auf solche Weise immer allmählich sein Wohlverhalten untergräbt und sich dem unglücklichsten Zustande näher fährt.

Zwar ist es wahr, dass eine Festigkeit des Willens, sich des übermäßigen Genusses zu enthalten, jetzt noch eine glückliche Änderung zuwege bringen kann, was im Weitern Verlaufe aber, der Erfahrung zufolge, nicht mehr möglich ist; indessen der sinnliche Genuss, bei einer Unkenntnis der unseligen Folgen desselben, lässt einen glücklicheren Vorsatz in den allermeisten Fällen nicht erwachen.

Oft wird aber die Trunksucht nicht durch den Genuss des Branntweines selbst, sondern durch ganz andere Ursachen ausgebildet, ein Umstand, der die Meinung über ein von moralischer Seite entspringendes Motiv zur Trunksucht noch mehr schwächen muss. Doch aber scheint dieses nur alsdann möglich werden zu können, wenn durch den Genuss berauschender Getränke überhaupt, eine Prädisposition (Empfänglichkeit für bestimmte Krankheiten) zur Trunksucht rege gemacht worden war. Wenigstens ist mir kein Fall bekannt, dass jemand, der aus nachfolgenden Ursachen trunksüchtig geworden, früher durchaus gar keine berauschende Getränke genossen hätte: Heftiger Verdruss und Ärger, vorzüglich aber deprimierende geistige Gefühle, wie Traurigkeit, Harm und Kummer, erregen nach bereits erworbener Anlage zu vorliegender Krankheit, ein unwillkürliches, man möchte sagen, instinktmäßiges Verlangen zum Genuss des Branntweines u. s. w., den der Mensch in diesem Falle als ein besänftigendes, erheiterndes Mittel, als einen Labetrank genießet, und somit bei sich diese Krankheit ausbildet.

So z. B. datiert ein sehr großer Teil der Trunksüchtigen in Moskau von der Zeit der unglücklichen Katastrophe her, als so viele Menschen ihrer Ruhe, ihres Vermögens, auch ihrer nächstes Verwandten verlustig wurden. Auch ist die Erfahrung von jeher zu häufig gewesen, dass, wenn ein Mensch von niederem Stande durch irgendein Unglück plötzlich sein Vermögen einbüßte, eine heftige Beleidigung erlitt, oder eine Treulosigkeit von seiten der ihm vertrautesten Subjekte erfuhr, er dem Trunke ergeben ward; daher der im Russischen beinahe zum Sprüchwort gewordene Ausdruck: Er trinkt aus Gram.

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