Dem Schmerz entkommen - So hilft Ihnen die Cannabis-Therapie - Die sanfte Revolution

von: Martin Pinsger, Thomas Hartl

Goldmann, 2019

ISBN: 9783641237820 , 288 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 11,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Dem Schmerz entkommen - So hilft Ihnen die Cannabis-Therapie - Die sanfte Revolution


 

KAPITEL 1

Ein Autounfall und seine Folgen

ICH WERDE IN DIESEM BUCH über meine eigene Erfahrung als Betroffener und Schmerzpatient berichten. Dieses Outing habe ich bisher vermieden; aber jetzt möchte ich den Mut dazu aufbringen, damit das hier Berichtete authentisch und nachvollziehbar wird. Auch wenn sich viele von uns wünschen, jeden menschlichen Atemzug zu digitalisieren und damit messbar zu machen – als Orthopäde und Schmerztherapeut mit jahrzehntelanger Erfahrung erlebe und sehe ich den Menschen als durch und durch analoges Wesen. Der Versuch zu quantifizieren scheitert an dieser Stelle erbärmlich und bringt uns von sinnvollen Lösungen weit, weit weg. Natürlich nutze ich die Möglichkeiten der modernen Technik, jedoch nur, wenn sie im Interesse des Menschen und der Menschlichkeit stehen. Ich bin sehr dankbar für dieses Buch, weil es zeigt, worunter wir als Individuen konkret leiden. Erst durch das Schildern von Patientenschicksalen lassen sich Schmerzen wirklich verstehen. Studien dagegen liefern nackte Zahlen und zeigen eine bessere Nutzen-Risiko-Relation. Was aber bedeutet das für den Betroffenen, was kann man als Mensch mit Zahlen anfangen?

Wäre ich nicht selbst Betroffener, würde ich zu manchem Patienten sagen: »Nehmen Sie mehr Medikamente, machen Sie eine intensivere Therapie und Sie werden geheilt.« Heute weiß ich, dass man Schmerz nicht vergessen und dass chronischer Schmerz auch nicht völlig ausgelöscht werden kann. Und trotzdem kann man den Menschen Hoffnung geben. Umstände lassen sich verbessern, langsame Fortschritte erzielen, selbst bei jenen, die bereits verzweifeln und keine Hoffnung mehr haben. Aber die Sache ist alles andere als einfach, denn Medikamente alleine helfen nicht. Es geht auch darum, an sich und seinem Lebensstil zu arbeiten. Als Patient brauche ich Partner, die mich beraten, die mich bereichern mit Information und Motivation. Ich benötige Analyse und Kritik und muss akzeptieren, dass auch Veränderung zum gesunden Leben gehört.

Ein Peitschenschlag änderte mein Leben

Nun kurz zu meiner persönlichen Geschichte. Sie hat zum Glück viele positive Seiten. Ich sage gerne: »Der Großteil meines Lebens ist völlig in Ordnung, aber da bleibt ein Rest, an dem gearbeitet, der verändert werden muss!« Nach einer tollen und glücklichen Kindheit erlitt ich 1978 einen schweren Autounfall. Ich war 18 Jahre jung, unerfahren, ein Führerscheinneuling. Mein kleines Auto prallte frontal gegen einen Mercedes, das hat meiner Halswirbelsäule und auch meiner Psyche ordentlich zugesetzt. Zum Glück gab es keine Schwerverletzten. Zunächst war da die Angst um das Materielle: Das erste Auto war hin. Was würden die Eltern sagen? Aber denen war das Auto völlig egal; wichtig war ihnen, dass ihr Sohnemann überlebt hatte.

Ich hatte beim Unfall einen typischen Peitschenschlag erlitten, aus dem sich ein chronisches Cervicalsyndrom entwickeln sollte, also Beschwerden, die von der Halswirbelsäule ausgehen beziehungsweise den Halswirbelsäulenbereich betreffen. Physiotherapie und vor allem Traumatherapie war damals kein Thema, ich lebte so weiter wie bisher. Bloß: Mein Leben war nun plötzlich ganz anders.

Mein Körper war die nächsten Wochen schwer wie Blei. Schmerzen überall und die angehenden Konflikte mit den Behörden inklusive Gerichtsverhandlung und Lokalaugenschein, also die Beweisaufnahme vor Ort, belasteten mich. Meine Wirbelsäule wurde immer steifer, in der Nacht konnte ich keine entspannte Lage im Bett finden. Dann begann mein Studium; das bedeutete viel lesen und schreiben und damit ein ständiges Verharren in einer sitzenden Zwangshaltung. Lediglich mit Schwimmen und Spazierengehen versuchte ich ein wenig gegenzusteuern. Dann, ich wusste das damals natürlich nicht, begann ein neues Zeitalter in meinem Leben, das Zeitalter der Kopfschmerzen. Es fing mit einem Druck vom Hinterhaupt bis in die Stirn an, Spannungskopfschmerz genannt. Dieser Kopfschmerz hat mich genau 15 Jahre nicht verlassen.

Mein Glück war, dass ich mich sehr bald, wahrscheinlich intuitiv, für die Behandlung von Schmerzen interessierte. Als Assistenzarzt machte ich Kurse in Manueller Medizin und Akupunktur und war auch immer an psychosozialen Zusammenhängen interessiert. Die Jahre der Grundausbildung als Turnusarzt waren schwierig; zum Glück hatte ich einen Vater, der selbst Landarzt war und mich unterstützte. Durch meine Arbeit in einer Anästhesie-Abteilung hatte ich mehrfach erlebt, wie schnell das Leben zu Ende gehen kann und wie schwierig es ist, Komplikationen vorauszusehen und das kleine Zeitfenster für Korrekturen zu nutzen. So verspürte ich einen immensen Druck, meine Arbeit zu perfektionieren. Ich hatte vielfach erlebt, dass ich mich als Arzt in entscheidenden Situationen auf niemanden verlassen konnte – mein Kontrollbedürfnis stieg ins Unermessliche.

Tag und Nacht war mein Gehirn im Einsatz, um die besten Ergebnisse bei diversen Therapien zu erzielen. Bald konnte ich nicht mehr schlafen; ich musste ja nachdenken und das erschien mir wichtiger als der Schlaf. Mit der Zeit wurden meine Tage finsterer (so habe ich es empfunden) und ich konnte mich nur mit Mühe in die Arbeit schleppen. Trotz oder wegen aller Plagerei hatte ich wenig Freude an meiner Tätigkeit und es machte sich tiefe Erschöpfung breit. Offensichtlich war zum chronischen Cervicalsyndrom mit Spannungskopfschmerz noch eine Depression dazugekommen. Immer dieselben Gedanken, die ich nicht abschließen konnte, kreisten in meinem Kopf, Gefühle der Sinnlosigkeit machten sich breit, ebenso wie das Gefühl, aufgedreht und trotzdem unermesslich müde zu sein.

Ich hatte zu diesem Zeitpunkt schon eine Familie mit einer tollen Frau und zwei bezaubernden Töchtern, die ich natürlich nicht vernachlässigen wollte. Nach ausgedehnten Sommerurlauben mit den Kindern am Meer entwickelte ich nachts die Fotos. Dort, im Urlaub am Meer, suchte ich auch nach Lösungen und fand sie für den Augenblick: in der Bewegung, im Laufen, Spazierengehen, Schwimmen, im Lesen, im Spiel mit den Kindern, in der gemeinsamen, unbeschwerten Zeit.

Der lange Weg Richtung Heilung

In der Zeit meiner Orthopädie-Ausbildung, das war so 1990 herum, kam ich zum ersten Mal mit Akupunktur in Kontakt. Man schickte mich zu einem Seminar nach Oberösterreich an den schönen Traunsee und ich verbrachte dort zwei Wochen mit Gleichgesinnten. Dr. Ingrid Wancura war eine erfahrene Akupunkteurin, die Jahre in China verbracht und offensichtlich Ahnung von der Sache hatte.

Damals, als orthopädischer Operateur, stand ich der Akupunktur noch recht distanziert gegenüber, aber als es galt, einen Freiwilligen für ein Experiment zu finden, meldete ich mich sofort. Ich kletterte auf einen Tisch, auf dem ein Sessel stand. Dr. Wancura machte bei mir eine kurze Anamnese. Augenscheinlich war ihr sehr bald klar, was nun zu tun war. Cervicalsyndrom und Peitschenschlag, Anfälligkeit für Wind und Wetter, Kopfschmerz bis hin zur Migräne. Mit höchster Präzision bohrte sie Nadeln in meine Arme und Beine, sodass mir »Hören und Sehen« verging. »Sie sind Sportler, da muss man ein wenig stimulieren«, meinte sie und drehte die Nadeln mehrmals in die Tiefe. Ich konnte plötzlich nichts mehr denken, fühlte nur das Ziehen und Stechen der Nadeln, einen unendlichen Druck in Unterarmen und Waden. Ich musste mich voll darauf konzentrieren, nicht vom Tisch zu fallen oder ohnmächtig zu werden. So ein paar Nadeln – und alles war anders.

Heute würde ich so ein Phänomen, das vieles verändert, Reset nennen. Ein Gefühl, das ich lange schon nicht mehr gehabt hatte, machte sich breit. Dort, wo ich normalerweise Schmerzen hatte, fühlte ich einfach nichts mehr. Nein, noch besser: Ich fühlte Leichtigkeit! Wahnsinn. Das Gefühl ebbte nicht sofort ab, es wurde für einige Tage sogar noch besser. Die Wirkung hielt jedoch leider nur wenige Wochen an. Anstatt die Akupunktur zu wiederholen, tat ich vorerst nichts. Ich war damals einfach zu inkonsequent, um gleich weiterzumachen. Aber ich hatte etwas gelernt: Mithilfe von Nadeln an bestimmten Stellen kann der Therapeut viel erreichen, wenn auch nur kurzfristig.

Heute weiß ich, dass die Nadeln so gesetzt waren, dass der Dickdarm-4-Meridian die Amygdala (Teil des limbischen Systems im Gehirn und reich an Cannabinoid-1-Rezeptoren, zudem mit der endocannabinoiden Überträgersubstanz Anandamid ausgestattet) angesprochen hat und so mein Schmerzverhalten beeinflusst wurde.1

Damals war das noch nicht bekannt, heute sehe ich die Zusammenhänge zwischen Nadel und Schmerz beziehungsweise endocannabinoidem System ganz deutlich. Das endocannabinoide System reagiert auf die körpereigenen Botenstoffe der Endocannabinoide, die vom Körper selbst gebildet werden und sich an die gleichen Rezeptoren im Gehirn binden wie Cannabinoide.2,3 Für mich bedeutete das damalige Erlebnis Hoffnung. Hoffnung, nun eine Methode zu haben, die ich wieder und wieder dazu benutzen konnte, um meinen Schmerz zu lindern. Damals wurde mir auch klar: Ein Arzt kann nur helfen, wenn der Patient zum Therapeuten tiefes Vertrauen hat und von der Wirksamkeit der Behandlung überzeugt ist.

Den Kopfschmerz hatte ich mittlerweile das 15. Jahr. Ich hatte mich schon daran gewöhnt, damit zu leben, irgendwie geht das. Doch im Alltag war ich sehr eingeschränkt. Beim Laufen etwa gab es immer wieder Stiche im Nacken, dann und wann, besonders beim längeren Radfahren, Stiche und Schmerzen bis in den Rücken und in die Arme. Nachdem ich schon 1985 Kurse in Manueller Medizin absolviert hatte, wusste ich, dass Kopfschmerz und Halswirbelsäule in einem engen...