Für mich bist du tot - Zerstörte Illusionen

von: Elisabeth Charlotte

epubli, 2018

ISBN: 9783746744223 , 199 Seiten

25. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 6,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Für mich bist du tot - Zerstörte Illusionen


 

Mein erstes Leben


1949 – 1970 

 

 

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war von den Siegermächten 1945 vereinbart worden, Berlin in vier Sektoren aufzuteilen. Margarete und Paul, meine Eltern, lebten in der Ostzone und lernten sich 1947 in einem Tanzlokal kennen. Mein Vater war siebzehn Jahre alt und kam aus der Gefangenschaft. Meine Mutter, ein Jahr älter, absolvierte ihr hauswirtschaftliches Pflichtjahr, so wie es damals für junge Mädchen üblich war. Ein Jahr später im Juli 1948 haben sie geheiratet. Beide brauchten zu der Zeit noch die Genehmigung ihrer Eltern, weil man damals erst mit einundzwanzig Jahren volljährig war. Sie waren jung, sehr verliebt und lebenshungrig und sie genossen beide das Leben nach Kriegsende in vollen Zügen. Meine Eltern lebten anfangs zusammen mit der gerade unglücklich geschiedenen Mutter meines Vaters in einer kleinen Wohnung in der sowjetischen Besatzungszone im Bezirk Friedrichshain. Wie man sich vorstellen kann, vertrugen sich Margot und ihre Schwiegermutter, zwei charakterlich sehr unterschiedliche Frauen, überhaupt nicht und immer wieder gab es Spannungen wegen Kleinigkeiten. Doch eigener Wohnraum war nicht so einfach zu bekommen. Gut ein Jahr nach der Hochzeit meiner Eltern, wurde ich im März 1949 im elterlichen Schlafzimmer in der Boxhagener Straße geboren. Damals war es eher selten im Krankenhaus zu entbinden, die meisten Geburten fanden zu Hause statt. Außer der Hebamme war noch meine Oma bei meiner Geburt dabei. Jahre später erzählte sie mir einmal, dass sie während des Geburtsvorganges den Eindruck hatte, dass ich gar nicht auf diese Welt kommen wollte. Heute ist mir auch klar, warum.

Spätestens bei meiner Ankunft wurde den jungen Eltern klar, dass sie sich dringend nach eigenem Wohnraum umschauen mussten. Den fanden sie dann auch ein paar Straßen weiter in der Rigaer Straße. Damals eine ruhige Straße mit vielen kleinen „Tante-Emma-Läden, einigen Kneipen. Die Wohnung war nicht groß, bestand nur aus Wohnzimmer und Küche, die Toilette befand sich eine halbe Treppe tiefer.  Endlich hatten sie ihr eigenes Reich.  Im selben Jahr, am 7. Oktober, wurde auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone die Deutsche Demokratische Republik gegründet.

Drei Jahre später, im Oktober 1952, kam mein Bruder Gerhard einen Monat zu früh auf die Welt. Auch er war eine Hausgeburt. Im Gegensatz zu meiner Geburt waren meine Eltern auf die Ankunft dieses zweiten Kindes anscheinend nicht vorbereitet. Nichts war für das Baby vorhanden. Die Hebamme wickelte das Neugeborene notdürftig in ein Handtuch und meine Oma wurde nun beauftragt, das Nötigste für das kleine Wesen zu besorgen. Wie ich viel später erfuhr, war mein Bruder kein Wunschkind. Meine Mutter soll während der ersten Monate einige abenteuerliche Versuche unternommen haben, um diese Schwangerschaft zu unterbrechen. Warum sie dieses Kind nicht wollte, hat sie uns nie gesagt. Nur meine Oma verbreitete hartnäckig das Gerücht, dass dieses Kind nicht von ihrem Sohn sein könne. Woher sie das zu wissen glaubte, blieb ihr Geheimnis. Aber der Stachel war zumindest bei meinem Vater gesetzt. Es gelang ihm auf diesen bloßen Verdacht hin nie, eine normale Vater-Sohn-Beziehung zu dem Jungen aufzubauen. Der Kleine war von Geburt an in seiner Entwicklung etwas zurück und blieb ein Sorgenkind. Die Ehe meiner Eltern lief schon recht bald nicht mehr so optimal, obwohl sie sich immer sehr liebten. Mein Vater war als Busfahrer viel unterwegs und meine Mutter daher oft allein. Die Wohnung war viel zu klein für nunmehr vier Personen. Oft kam es zu heftigen lauten Streitereien, verbunden mit Handgreiflichkeiten.

Nicht nur wir Kinder bekamen alles mit, auch die Nachbarn wussten Bescheid. Hilfe und Unterstützung erhielten wir in solchen Situationen von einem älteren, kinderlosen Ehepaar, welches ursprünglich aus Schlesien stammte. Beide waren Rentner und wurden von uns liebevoll Tante und Opa genannt. Wir liebten die beiden sehr, denn sie versorgten und verwöhnten uns, als wären wir ihre Enkelkinder. Sie spielten mit uns, kleideten uns ein, unternahmen mit uns gemeinsame Ausflüge. Wir konnten bei ihnen übernachten, wenn unsere Eltern mal wieder eine Party feiern wollten, oder wenn sie sich stritten. Sie gaben uns die Geborgenheit, die wir zu Hause nicht fanden. An die leiblichen Großeltern mütterlicherseits kann ich mich nicht erinnern. Den strengen Großvater habe ich nie kennengelernt, er war vor meiner Geburt verstorben. Die Großmutter starb, als ich zwei Jahre alt war. Meine Mutter erzählte mir, dass ich sie sehr geliebt haben soll und sie immer Omileinchen genannt habe. Leider habe ich überhaupt keine Erinnerung an sie, was ich sehr bedaure. Zu den Großeltern väterlicherseits hatten wir nur oberflächlichen bzw. gar keinen Kontakt. Das lag wohl daran, dass sie geschieden waren und seitdem jeden Umgang miteinander mieden. Mein Opa unterhielt mit der besten Freundin meiner Oma ein Verhältnis und hat diese dann nach der Scheidung auch noch geheiratet. Das hat meine Oma ihm bis zu seinem Tod nie verzeihen. An ein besonderes Familienleben oder irgendwelche familiären Höhepunkte während der ersten Jahre meiner Kindheit kann ich mich nicht erinnern. Ich war ein ruhiges, in sich gekehrtes Mädchen. Wo man mich abstellte, spielte ich selbstvergessen bis man mich wieder einsammelte. So auch auf unseren Hof, in einer mit Blumen bepflanzten Ecke, unter den Wohnzimmerfenstern einer netten Familie. Hier spielte ich, versetzte mich in eine andere Welt, sang laut und voller Leidenschaft meine Lieblingslieder. Die Nachbarn waren wohl etwas genervt. Doch sie mochten mich und ließen mich gewähren. Bis auf das etwas laute Singen war ich so ruhig und unauffällig, dass mich meine Mutter bei einem Einkauf auch schon mal vor einem Geschäft vergessen hatte. Wieder zu Hause angekommen, bemerkte sie das Malheur und ging eilig den Weg zurück. Unversehrt und immer noch in mein Spiel versunken fand sie mich genau dort wieder, wo sie mich abgestellt hatte. Meine Eltern waren in der Nachbarschaft, bei Freunden und Bekannten sehr beliebt. Es sprach sich schnell herum, dass ihre Partys immer lustig und ausgelassen waren und dort jede Menge an Alkohol floss.

 

 

Im September 1955 war mein erster Schultag. Meine Schultüte, mit einer großen Schleife geschmückt, war zwar riesig, aber bis zur Mitte mit Zeitungspapier ausgestopft, nur ganz oben, wo der Tüll durchsichtig war, wurden einige Süßigkeiten und Schulutensilien sichtbar. Zu unserer Klassenlehrerin, welche uns von der 1. bis zur 4. Klasse begleitete, bekam ich sofort einen ganz besonderen Draht. Ich liebte sie abgöttisch, fühlte mich wohl bei ihr und hatte das Gefühl, dass sie mich etwas mehr mochte als die anderen Kinder in der Klasse. Natürlich bildete ich mir das nur ein, aber es stärkte mein kindliches Selbstbewusstsein enorm. Unter ihrer Leitung fiel mir das Lernen leicht und nur allein auf ihre Initiative hin trat ich dem Schulchor bei. Ob das so gut für den Chor war, weiß ich nicht mehr, aber für sie hätte ich ohne Widerspruch alles getan. Sehr schnell wurden wir Erstklässler in die Organisation der Jungpioniere aufgenommen und trugen von nun an mit Stolz das blaue Halstuch, das Kennzeichen für die Jungpioniere. Auch wenn das heute abfällig behandelt wird, die Pionierorganisation tat schon sehr viel für ihre kleinen Mitglieder. An den Pioniernachmittagen wurde gebastelt, gewerkelt oder Theater gespielt. Es gab Wandertage und Exkursionen. Das meist kostenlos bzw. mit einem kleinen erschwinglichen Obolus. In den Ferien konnten die Kinder für zwei Wochen zur Erholung von Schule und Eltern in Ferienlager reisen. Somit war immer dafür gesorgt, dass die Kinder beschäftigt waren, auch nach dem Unterricht beaufsichtigt wurden und so den Umgang miteinander lernten. Für Kinder wie mich, die nach dem regulären Unterricht noch nicht nach Hause konnten, weil die Eltern berufstätig waren, gab es den Hort. Dort wurden nach dem Unterricht die Mahlzeiten eingenommen, die Hausaufgaben unter Aufsicht erledigt und natürlich gespielt. Trotz der schulischen Fürsorge fühlte ich mich in diesen Gruppen nicht besonders wohl. Ich war unauffällig, schüchtern und viel zu ernst für mein Alter. Meine Freunde waren die Nachbarskinder aus den umliegenden Häusern und ein paar Schulkameraden. Mein allerbester Freund aber war Jürgen vom Haus gegenüber. Jürgen und ich waren im gleichen Alter, verstanden uns sehr gut, haben viel Zeit gemeinsam verbracht und unsere kleinen Geheimnisse miteinander geteilt. Beide besaßen wir ein Faible für Tiere und kümmerten uns bei einem Tierhandel um die Ecke um die Hunde, die bis zum Verkauf in enge Käfige gesperrt waren. Wir gingen mit ihnen Gassi, spielten mit ihnen und brachten sie dann einige Stunden später wieder zurück. Auf dem freien Platz an der Ecke wo früher mal ein Haus stand, war regelmäßig ein Rummel mit vielen Karussells oder auch oft ein Zirkus. Dort verbrachten wir Stunden, lauschten der Musik, beobachteten das bunte Treiben und träumten vor uns hin. Mich faszinierte diese Welt. Geld für die Karussells hatten wir beide nur ganz selten. Wie alle Kinder spielte auch ich überwiegend auf der Straße. Das war damals so üblich. Es gab keine Spielekonsolen, Erlebnishöfe, Spaßbäder oder Abenteuerlandschaften. Die Straße und die immer noch vorhandenen Ruinen waren Abenteuer genug. Spielzeug besaßen wir alle nur wenig. Sammelpunkt für unsere Kinderclique waren meist die Hausflure und die Ruinen. Wir bauten mit den herumliegenden Steinen kleine Wohnungen bestehend aus Küche und Wohnraum und versetzen uns damit in unsere eigene kleine Welt. Das am häufigsten von uns gespielte Spiel hieß „Vater, Mutter, Kind“ und es wurde jedes Mal neu gewählt, wer...