Bruderherz - Ich hätte dir so gern die ganze Welt gezeigt

von: Marian Grau

Eden Books - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe, 2018

ISBN: 9783959101493 , 208 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 11,99 EUR

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Bruderherz - Ich hätte dir so gern die ganze Welt gezeigt


 

Kapitel 1


Mama und ich – in einer Stadt, die in Deutschland kaum einer kennt, irgendwo am Arsch der Welt. Wir sind in Battambang, einer großen Stadt in Kambodscha mit ein paar hunderttausend Einwohnern. Ich sitze auf einem alten Plastikhocker in einem Restaurant. Sonderlich bequem ist er nicht, aber das muss er auch gar nicht sein, denn das würde doch nur das ganze Flair zerstören! Seltsam eigentlich, dass dieses Restaurant zu den gehobeneren der Stadt gehört, wir aber auf Plastikhockern an Klapptischen sitzen.

Es ist Heiligabend. Mein allererstes Mal, dass ich Weihnachten im Ausland verbringe, und mein allererstes Mal, dass ich es ohne den Großteil meiner Familie tue. Lediglich meine Mutter sitzt hier mit mir am Tisch. Wir zwei feiern gemeinsam Weihnachten – und das in einem Land, in dem man das Christentum nicht mal kennt, und von dem niemand in meiner Klasse je gehört hat.

»Kam-Kam-Kampotscha?! Wo soll denn das sein, Marian?«, fragten meine Klassenkameraden, als ich ihnen von meinem Reiseziel erzählte.

»In Asien«, lautete meine Antwort. Um ehrlich zu sein, wusste ich selbst nicht genau, wo ich eigentlich hinreisen würde, denn ich konnte mir diese ungeheuerliche Distanz (etwa 9.200 Kilometer Flugstrecke) einfach nicht vorstellen. Ich glaubte meiner Mutter nicht einmal, als sie mir erzählte, dass das Flugzeug, in dem wir nach Singapur fliegen würden, zwei Gänge habe. Etliche Male hat sie mir das Schema auf ein Blatt Papier gezeichnet: Sitze – Gang – Sitze – Gang – Sitze. Geglaubt habe ich ihr erst, als ich auf einmal mittendrin im Flieger stand.

Das Ganze war übrigens ihre Idee. Unvorstellbar eigentlich, was sie damit ins Rollen gebracht hat. Vor 21 Monaten war mein Bruder Marlon gestorben, und seitdem fehlte etwas so Grundsätzliches in unserem Leben, dass ich nicht vorwärts oder rückwärts wusste, dass ich mir nicht einmal Gedanken darüber machte, wie es eigentlich weitergehen sollte. Mit uns, unserer Familie. Mit mir. Bis meine Mutter diese Reise buchte.

Seitdem weiß ich wieder, wohin es geht: In die Länder und Städte dieser Welt. Ich möchte reisen, möchte viele Menschen kennenlernen, die Naturwunder unserer Erde sehen, die Großstädte der Welt erkunden und fremde Kulturen verstehen – mit dieser Reise hat alles begonnen.

Inzwischen war ich über 280 Tage meines doch noch recht kurzen Lebens auf Achse, bin Hunderttausend Kilometer geflogen und in 31 Ländern auf drei Kontinenten gewesen – to be continued! Ich will mir nicht vorstellen, wie das nun wäre, wenn Mama niemals so aufgeregt ins Haus gekommen wäre, wie an jenem Tag.

Irgendwann im Mai 2013 saß ich am Esstisch und machte meine Deutschhausaufgaben. Es muss ein Dienstag gewesen sein, dann da musste Mama immer lange arbeiten, und ich saß allein zu Hause. Es war zehn nach vier, also würde Mama gleich kommen. Wenige Augenblicke später hörte ich auch schon, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte.

»Marian, huhu! Wo bist du?«, rief meine Mutter. So aufgeregt war sie schon lange nicht mehr gewesen. Ich sprang vom Tisch auf und lief zur Tür, wo ich sie erst einmal umarmte.

»Marian, lass uns zu Petra fahren. Ich habe gerade im Auto mit ihr telefoniert. Komm schon, Deutsch kannst du auch später noch machen!« Meine Mutter drehte sich um und war fast schon wieder an der Tür.

»Mache ich, wenn du mir erzählst, warum du so aus dem Häuschen bist«, sagte ich mit einem Lächeln – meine Mutter so aufgekratzt zu sehen, tat gut –, während ich meine Schulsachen zusammenschob und in den Rucksack stopfte.

»Erklär ich dir alles bei Petra, okay? Hast du Weihnachten eigentlich schon was vor?«

»Äh ... feiern? Kerzen anzünden? Weihnachtsbaum schmücken? Plätzchen essen?« Ich schlüpfte in meine Schuhe und folgte meiner Mutter hinaus zum Auto. Petra, zu der wir offensichtlich fahren würden, ist Mamas Schwester, also meine Tante, die im Nachbarkaff wohnt. Wenige Minuten später standen wir schon in ihrem Wohnzimmer. Sie hatte Kaffee gemacht, und ich naschte von den Keksen, die auf dem Esstisch lagen. Daneben stapelten sich irgendwelche Prospekte, die mich nicht interessierten. Noch nicht.

»Komm, setz dich mal hin, Marian«, forderte meine Mutter mich auf und drückte mich auf einen Stuhl. Sie griff nach den Katalogen, wedelte damit und grinste. »Petra, zeig mal ein paar Bilder!«

Ich war verwirrt. Meine Mutter hatte mir immer noch nicht verraten wollen, warum wir so spontan zu Petra gefahren waren. Wollte sie etwas kaufen? Ein neues Sofa vielleicht?

»Nun sagt schon, was ist denn so spannend?! Ich will auch aufgeregt sein!«, sagte ich. Statt zu antworten hielt Petra mir ihr Handy entgegen. Das Display zeigte mir ein Bild von irgend so einem Tempel aus Gold. Ein paar Elefanten liefen übers Bild, und links war ein Händler mit seinen Waren zu sehen. Mitten im Getümmel entdeckte ich meine Tante, in Rock und Bluse, mit Sonnenbrille.

»Wo ist das?«, fragte ich sie.

»In Kambodscha!«, rief meine Mutter laut. »Und weißt du was? Da fliegen wir auch hin. Ich will dir etwas von der Welt zeigen. Marlon hätte sie bestimmt auch gern gesehen.«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich war noch nie so richtig im Urlaub gewesen, kannte nur das Kinderhospiz, in das wir immer gefahren waren, weil mit Marlon einfach nichts anderes möglich gewesen war.

»Ja … gut. Okay. Wann willst du denn da hin? Gibt’s da nicht eine Regenzeit?«

»Doch, klar, und deshalb reisen wir im Dezember. Über Weihnachten. Silvester im Ausland, das wird sicher supercool!«, rief meine Mutter immer noch total aufgeregt.

Ich brauchte einen Moment, um diese Neuigkeit zu verdauen. Es ist nicht so, dass ich an Weihnachten oder Silvester unbedingt zu Hause bleiben wollte, im Gegenteil. Seitdem mein Bruder gestorben war, war Weihnachten eh nicht mehr dasselbe. Und einmal so ganz ohne Familie, nur Mama und ich, irgendwo am Ende der Welt? Warum nicht? Das konnte doch nicht schaden. Ich wurde neugierig.

»Aber ist das nicht zu teuer?«

»Ach waaaas!«, sagte meine Tante. »Das Teuerste ist der Flug – wenn ihr erst einmal dort seid, wird es total günstig. Das Herumreisen, das Essen und die Hotels sind spottbillig. Da macht euch mal keine Sorgen.«

Ich zögerte, sagte dann aber schließlich: »Und wann fangen wir mit der Planung an?«

»Also, wir können den Flug gleich buchen, wenn ihr wollt! Ich habe da ein paar Tricks auf Lager«, antwortete meine Tante. Und das war der Beginn einer Ära.

Mama war völlig aus dem Häuschen und so langsam war ich es auch. Ich kann nicht sagen, ob ich richtige Reiselust verspürte. Es war vielmehr die Neugier, die Lust, etwas zu entdecken, das noch nie jemand aus meiner Klasse gesehen hatte. Einen neuen Teil dieser Welt kennenzulernen, und vielleicht auch einfach mal Mama nur für mich zu haben.

Wir fuhren den Laptop hoch, und wenige Minuten später war der Flug gebucht – heute würde ich das nie so spontan machen, heute plane ich meine Reisen Monate im Voraus und recherchiere akribisch durch alle Angebotsseiten, denn es lässt sich doch immer noch ein besserer Preis finden. Aber das war uns in diesem Moment egal. Mama und ich wollten dieses Abenteuer – wir zwei am anderen Ende der Welt!

Kurz darauf hörte ich, wie im Büro meiner Tante, das im zweiten Stock liegt, der Drucker Papier zog. Die Buchungsbestätigungen! Ich rannte die enge Wendeltreppe hoch und starrte gebannt auf das Ausgabefach. Vor mir wurde gerade nicht irgendeine Bestätigung gedruckt – das war mein Ticket in ein neues Leben. Nicht nur eines nach Asien, an einen anderen Flecken der Erde, sondern gleichzeitig das Ticket zu einer neuen Welt von mir selbst. Ich wusste das alles damals natürlich noch nicht, als ich da vor diesem Drucker saß. Doch irgendwie hatte ich es im Gefühl. Und es fühlte sich verdammt gut an.

Noch am selben Tag, als wir abends wieder nach Hause fuhren, ging ich in den Keller. »Marian, kommst du auch mal wieder hoch?!«, hörte ich meine Mutter nach einer Weile rufen.

»Gleich!« – Das sage ich immer besonders gern und, ich fürchte, ein wenig zu oft. Ich kramte zwischen den alten Werkzeugkästen meines Vaters, der zu der Zeit bereits ein paar ­Straßen weiter getrennt von uns lebte. Auch die Schubladen des Werkzeugtisches durchleuchtete ich mit der Taschenlampe. Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, fand ich, wonach ich die ganze Zeit gesucht hatte: ein Metermaß. Zollstöcke hatte ich genug gefunden, aber es musste ein Maßband sein. Und es sollte mindestens zwei Meter lang sein.

»Perfekt«, sagte ich, als ich das Drei-Meter-Band in der untersten Schublade entdeckte. Ich trug es in die Küche hinauf, und meine Mutter fragte neugierig: »Wofür in aller Welt brauchst du denn das Maßband? Verschlamp es nicht, vielleicht brauchen wir das noch!« – Ja, ist klar. Da gammelt es jahrelang in einer Schublade unseres Kellers herum, vermutlich ist es älter als ich, und gerade jetzt, wo ich es wiederentdeckt habe, brauchen wir es natürlich ganz dringend.

»Das brauchst du ganz bestimmt nicht mehr«, versicherte ich meiner Mutter. »Außerdem mache ich was Tolles damit. Kannst du mir vielleicht kurz einen Kalender geben?«

Sie reichte mir einen, und dann machte ich mich ans Zählen. Ich zählte die Tage bis zum 21.12, unserem Abreisetag. Der Tag, der mein Leben verändern sollte. Ich konnte es kaum erwarten. Schnell ging ich mit dem Maßband in der Hand die Treppen hoch. Ich befestigte das obere Ende mit der »1« voran an der Decke. Den anderen Teil pinnte ich mit...