Vage Sehnsucht - Der Bassist von Ton Steine Scherben erzählt sein Leben

Vage Sehnsucht - Der Bassist von Ton Steine Scherben erzählt sein Leben

von: Kai Sichtermann, Jens Johler

Fuego, 2018

ISBN: 9783862872114 , 288 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 11,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Vage Sehnsucht - Der Bassist von Ton Steine Scherben erzählt sein Leben


 

ALLER ANFANG IST GEHEIMNISVOLL


Der eigentliche Anfang war bei mir nicht die Geburt, sondern die Zeugung. Und auch das stimmt nicht ganz. Da war noch etwas anderes. Ich sehe es noch genau vor mir. Ich bin ein feinstoffliches Wesen irgendwo im Jenseits, neben mir eine engelhafte Gestalt, die mir im Diesseits eine Frau und einen Mann zeigt, die meine zukünftigen Eltern sein sollen. Ich weiß, ich habe die Wahl Ja oder Nein zu sagen, überlege aber nicht lange und nicke. Irgendwie fand ich die beiden ganz okay. Wann diese Erinnerung in mir aufstieg, habe ich vergessen. – Nun aber zur Zeugung. 1986 habe ich bei Thorwald Dethlefsen in München eine Therapie begonnen. In deren Verlauf fiel ich durch beschleunigtes Atmen in einen Trancezustand und konnte meinen Eltern ganz deutlich von der Zimmerdecke aus beim Liebesakt zuschauen. Als ich meiner Mutter später im lockeren Plauderton davon erzählte, rief sie entsetzt aus: „wie indiskret!“. Ich gebe zu, das klingt alles etwas fantastisch, aber es ist die Wahrheit.

Meine richtige Geburt geschah am 6. März 1951 im Anschar-Krankenhaus in Kiels nördlichem Stadtteil Wik. Die Hebamme soll gesagt haben, „sieben Uhr sechs, ein Bub“. Gewohnt hat meine Familie damals in der Eckernförder Straße 20a, nicht weit entfernt vom Exerzierplatz, also ziemlich zentral. Im Haus befand sich ein Kino, aber das weiß ich nur aus Erzählungen. Etwas später sind wir an den Blücherplatz umgezogen, das ist die erste Wohnung, an die ich mich erinnern kann. Getauft wurde ich noch im selben Jahr zu Weihnachten in der Luther-Kirche am Kieler Schrevenpark; meine Eltern waren evangelisch. Meine beiden Schwestern, Barbara und Marie, waren acht beziehungsweise sieben Jahre älter als ich. Sie waren Wunschkinder, und das war ich auch, ich hatte allerdings noch eine spezielle Aufgabe; ich sollte die Ehe meiner Eltern retten. Das ist mir leider nicht gelungen. Kein Wunder, ein Jurist und eine Malerin, das konnte auf Dauer nicht gut gehen, zu wenig gemeinsame Interessen. Ich hab‘s nur ein bisschen hinauszögern können. 1956, ich war fünf Jahre alt, haben sich meine Eltern scheiden lassen; ich habe das damals gar nicht so richtig begriffen. „Ich verstehe das gar nicht, warum sind wir eigentlich geschieden“, soll ich meine Mutter später mal gefragt haben.

 

Meine ersten Lebensjahre habe ich in Kiel verbracht, der Landeshauptstadt von Schleswig-Holstein mit dem Hafen an der Ostsee. Ich liebe das Wasser, das Gekrei-sche der Möwen, die Schiffe, die salzige Luft und den Wind, wenn er sich nicht gerade zum Sturm entwickelt und einem tagelang wild um die Ohren bläst. Jahr-zehnte später habe ich zusammen mit Angie Olbrich das Ostseelied von Hildegard Knef aufgenommen. „Gib mir noch einmal den Strand meiner Kindheit, mit Muscheln und Bernstein auf trockenem Weiß. Gib mir den salzigen Wind meiner Ostsee, das Jammern der Möwe, die hoffnungsvoll kreist.“

Mein Urgroßvater mütterlicherseits hieß Jacob Möllgaard und war ein Bauernsohn aus Angeln, das ist ein Landstrich im Nordosten Schleswig-Holsteins. Von hier wanderte um 400 n. Chr. ein Teil der Bevölkerung auf die britischen Inseln aus – daher der Name Angel-Sachsen. Mein Urgroßvater gründete so um 1900 in der Hafenstraße in Kiel-Gaarden eine Fischräucherei, in der Sprotten geräuchert wurden. Damals war die Kieler Förde noch voll von diesen kleinen Fischen, die unter dem Namen Kieler Sprotten verkauft wurden. Die Sprotten wurden in Holzkisten verpackt, in die halbe Welt verschickt und auf diese Weise weltbekannt. Meine Oma hat mir davon erzählt, auch, dass sie dafür die Adressen schreiben musste. Von ihr kenne ich den Spruch „Kieler Sprott, halb verrott, Kopp und Steert, is nix wert“. Sie war eine richtige Bilderbuch-Oma, sehr verständnis- und liebevoll. Ich habe sie über alles geliebt. Manchmal durfte ich bei ihr übernachten, dann habe ich mit großer Begeisterung ferngesehen, Bonanza oder Kommissar Maigret, alles in schwarzweiß. Zu Hause, in meiner Familie, gab es während meiner gesamten Kinder- und Jugendzeit überhaupt keinen Fernseher. Das kann man sich heute kaum noch vorstellen.

Wenn ich mit der Straßenbahn in die City fuhr, hörte ich das Glockenspiel des Kieler Rathausturmes; um viertel nach ein Viertel der Melodie – um halb die Hälfte – um viertel vor Dreiviertel – und um voll die ganze Melodie. Meine Oma verriet mir den Text dazu, „Kiel hat kein Geld, das weiß die Welt, ob es was kricht, das weiß man nicht“. Es gab ein Ritual zwischen uns. Früh am Morgen stand sie auf und zog sich ihren Morgenmantel an. Ich war ein alberner Junge von vielleicht acht, neun Jahren und habe dann immer zu ihr gesagt: „Oma, das ist doch ein Morgenmantel, den darfst du doch erst morgen anziehen.“ Da hat sie geantwortet: „Du Ütz!“ Das heißt, glaube ich, so viel wie Schlingel oder Frechdachs. Gestorben ist sie im Sommer 1970.

In meiner frühen Kindheit gab es ein einschneidendes Erlebnis: Einen Sturz aus dem Kinderbett, durch den ich eine Gehirnerschütterung bekam. Aber der Sturz war eigentlich nicht das Schlimme. Ich bin zwar auf den Kopf gefallen, war aber kein Patient mit Dachschaden, so wie Jerry Lewis in dem Film. Wirklich schlimm war der Krankenhausaufenthalt, der folgte. Es war kurz vor Weihnachten 1952, ich war eindreiviertel Jahre alt. Unsere Ärztin gab meiner Mutter den verhängnisvollen Rat, mich in eine Kinderklinik zu geben, weil sie meinte, ich bräuchte Ruhe und müsste liegen. Dort hat man mich dann im Bett festgebunden. Meine Mutter durfte während der Besuchszeit nicht zu mir, sondern nur durch ein kleines Fenster gucken, und sie sah und hörte, wie ich immer den Kopf hin und her bewegte und „Mama, Mama!“ rief. Das war schrecklich für meine Mutter, aber sie traute sich nicht, gegen die Autorität der Ärzte anzugehen. Als mein Vater mich nach zwei Wochen aus dem Krankenhaus abholte, sagte er, „wir haben ein neues Kind bekommen.“ Und wirklich: Vor dem Klinikaufenthalt war ich ein lebhaftes und aufgewecktes kleines Kind, das interessiert an seiner Außenwelt Anteil nahm. Hinterher war ich introvertiert, verschlossen und wirkte oft abwesend. Ich weiß das aber alles nur aus Erzählungen. Kurze Zeit später bekam ich eine schwere Lungenentzündung. Ich wollte offenbar sterben. Doch die Antibiotika, die damals erst knapp zehn Jahre auf dem Markt waren, retteten mich. Meine Mutter erzählt, ich sei ein vollkommen anspruchsloses und wunschloses Kind gewesen. Einmal hätte sie mich gefragt, was ich mir zu Weihnachten wünschte; ich hätte mich ratlos im Zimmer umgesehen, mein Blick sei zufällig auf ein Glas mit Pinseln gefallen, und ich hätte gesagt „einen Pinsel“. Daraufhin war sie vollkommen begeistert und hat gedacht, endlich interessiert der Junge sich für etwas, und dann auch noch für Malerei! Also bekam ich einen wunderschönen Malkasten zu Weihnachten, habe ihn aber nie angerührt, nicht ein einziges Mal. Peter Handke hat das Buch über das Leben seiner Mutter Wunschloses Unglück genannt. Ich war auch ziemlich wunschlos, würde aber nicht generell sagen, dass ich unglücklich war. Ich war nur oft traurig, das kam bestimmt von diesem schrecklichen Krankenhausaufenthalt. Latent leide ich heute noch unter den Folgen, die Trauer ist mein ständiger Begleiter. Es fällt mir zum Beispiel schwer, mich zu verabschieden. Sogar, wenn ich bei einem Abschied gar nicht beteiligt bin, tut es mir weh. Ich stehe im Bahnhof und warte auf meinen Zug. Auf dem Bahnsteig gegenüber verabschieden sich zwei mir völlig unbekannte Menschen. Die Bahn fährt ab, der eine drinnen im Zug, der andere draußen auf dem Bahnsteig, sie winken einander zu. Und ich bin traurig, obwohl ich nur ein unbeteiligter Beobachter bin. Unbeteiligt, aber nicht ohne Empathie. Aber ich glaube inzwischen, Trauer ist ein wichtiger Baustein unseres Daseins. Der buddhistische Meditationsmeister Chögyam Trungpa sagt, „Das Ideal der Kriegerschaft besteht darin, traurig und sanft zu sein, nur dadurch kann der Krieger auch mutig sein. Ohne diese tiefe Traurigkeit ist der Mut brüchig wie Porzellan. Der Mut des Kriegers ist wie eine chinesische Lackschale: Holz unter dünnen, elastischen Lackschichten. Lässt man solch eine Schale fallen, dann zerbricht sie nicht, sondern federt zurück. Sie ist hart und weich zugleich.“ Als ich diese Sätze las, war ich wie befreit. Innere Traurigkeit kannte ich ja aus Erfahrung, aber sie als Tugend und Stärke zu verstehen, das war neu für mich. Ich bin mit Leitsätzen aufgewachsen wie „Ein Junge weint nicht“ oder „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“.

 

Die allerfrühesten Erinnerungen meiner Kindheit sind vermischt mit der Vorstellung von Nichtzugehörigkeit. Das war wirklich seltsam. Ich glaubte, alle meine Mitmenschen würden mir etwas vorspielen und die Welt wäre in Wirklichkeit ganz anders, auch wenn ich nicht wusste, wie. Als hätten sich alle Menschen untereinander abgesprochen und ich wäre ihr Versuchsobjekt. Ungefähr vierzig Jahre später sah ich im Kino The Truman Show. Ich war vollkommen perplex! Offenbar gab es Menschen, die ähnliche Gedanken hatten wie ich, wenn auch etwas anders gelagert. Truman ist Hauptdarsteller einer Fernsehserie, ohne dass er selbst davon etwas ahnt – anfangs jedenfalls. Ich konnte mich sofort in ihn hineinversetzen, weil ich es aus eigener Erfahrung kannte. Auch wenn in meiner Fantasie keine TV-Show vorkam, war es für mich ein faszinierendes Aha-Erlebnis. Der Unterschied zwischen mir und Truman war allerdings, dass ich das Gefühl hatte, alle spielen mir etwas vor, obwohl es nicht so war, während Truman das Gefühl hat, sie sind echt, obwohl sie alle nur Darsteller der Fernsehshow sind – genau spiegelverkehrt.

 

Eines Morgens – es muss so in meinem...