Perspektiven der Regulationstheorie. - Sozialtheoretische Reformulierungsversuche

von: Patrick Eser

Diplomica Verlag GmbH, 2008

ISBN: 9783836614047 , 199 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: frei

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Online-Lesen für: Windows PC,Mac OSX,Linux

Preis: 53,00 EUR

Mehr zum Inhalt

Perspektiven der Regulationstheorie. - Sozialtheoretische Reformulierungsversuche


 

Kapitel 3.3.3, Zu „objektiven Notwendigkeiten unter kapitalistischen Bedingungen“ und zum theoretischen Stellenwert der Werttheorie
 
Versuch einer Synthese:Wenn ein Teil eines Ganzen einem bestimmten Ziel entsprechen soll (die Regulationsweise entspricht dem Akkumulationsregime), liegt die Vermutung nahe, dass diese theoretische Konstruktion von der Vorstellung des Ganzen als einem System geleitet wird. Auch wenn sich die Regulationstheoretiker gegen die Kategorisierung ihres Ansatzes als funktionalistisch oder als Systemtheorie wehren, ist dennoch ein grundsätzlicher Systembezug des Begriffes der Regulationsweise nicht abzustreiten. Eine zentrale Voraussetzung des sozialwissenschaftlichen Funktionalismus ist, „dass objektive Notwendigkeiten analog zu natürlichen Organismen die Bezugspunkte gesellschaftlichen Lebens sind, die dann auch noch durch objektive Mechanismen ihre eigene Entsprechung garantieren“. Angewendet auf die Regulationsweise, existieren die regulativen Institutionen als objektive gesellschaftliche Funktionsträger eben weil sie den Notwendigkeiten entsprechen. In Umkehrung zur Kausallogik erklärt ein Effekt hier seine Ursache, d.h. eine Funktion die Existenz des Funktionsträgers.

Ein zentrales Problem des sozialwissenschaftlichen Funktionalismus besteht darin, dass weder Entstehung und Herausbildung gewisser gesellschaftlicher Funktionen noch deren weitere Entwicklung erklärt werden können. Von Interesse ist für diesen lediglich die Realisierung der Funktionen – nicht ihre Genese. Im Hinblick auf die Systemtheorie von Luhmann ist es ein bekannter Einwand, dass in seiner Theorie Entwicklung nicht gedacht werden kann. „Die Herrschaft der systemischen Codes, die Logik der funktionalen Differenzierung und die Gesetzmäßigkeit der Autopoiesis bilden die Grenze, in der allein der Fortbestand der Gesellschaft denkbar ist“. Gesellschaftsverändernde Praxis erscheint angesichts der Prä-Existenz bestehender Systemlogik dysfunktional. Versuche der bewussten Steuerung von Gesellschaft sind angesichts der angenommenen Eigendynamik des Systemszusammenhangs eher systemgefährdend denn nützlich. 

Somit reduziert sich die Offenheit für Entwicklung und Innovation auf die Reproduktion des vorgegebenen Systemzusammenhangs und kann lediglich in der Form der „funktionalen Differenzierung“ gedacht werden. Die Konsequenz ist ein restriktives Politikverständnis: so erscheint z.B. die Forderung nach der bewussten, politischen Gestaltung von gesellschaftlichen Regelzusammenhängen vor diesem Hintergrund als ein die gesellschaftliche „Evolution“ bedrohender Entdifferenzierungsprozess (vgl. ebd.). Weingarten macht auf die Parallele dieser Rhetorik mit der der klassischen „Neoliberalen“ aufmerksam und vermag somit, den zutiefst konservativen Charakter gewisser Spielarten von Neoliberalismus aufzuzeigen. Am Beispiel der Sozialphilosophie von Hayeks zeigt er auf, dass dessen Orientierung an den Leitgedanken der „spontanen Ordnung“ und des „selbstorganisierenden Systems“ es ihm unmöglicht macht, solche Entwicklungen zu denken, die über einen schon etablierten Ordnungs- und Stabilitätszustand hinausgehen – auch hier findet sich die Identifizierung von bewusst gestaltender Politik mit dem Bild der Störung eines Gleichgewichtszustandes.Die „Ambivalenz“ der Regulationstheorie durch das Nebeneinander von sytemtheoretisch-funktionalistischer und von der Offenheit der Entwicklung betonender Rhetorik, versucht Becker mit dem Vorschlag der „Theorie offener historischer Systeme“ zu klären. Diese erkennt prinzipiell objektive funktionale Notwendigkeiten an, eine Garantie für die Entsprechungen der Notwendigkeiten wird jedoch ausgeschlossen. Diese Notwendigkeiten sind nicht zu verstehen als Ableitungen aus Prinzipien wie „der Geschichte“ oder anderen metyphysischen Konstruktionen, sondern als „existentielle Notwendigkeiten des gesellschaftlichen Lebens“. 

Unter den Bedingungen eines nach kapitalistischen Prinzipien organisierten Wirtschaftsystems stellt die Profitabilität des Kapitals eine solche existentielle Notwendigkeit dar. Diese ist durchaus vereinbar mit negativer Profitabilität individueller Kapitale wie auch mit fallender Profitabilität auf der makroökonomischen Ebene von Nationalökonomien. Langfristig ist jedoch die Gewährung zumindest eines gewissen Niveaus von Profitabilität im langfristigen Mittel eine existentielle Notwendigkeit des gesellschaftlichen Lebens im Kapitalismus: „Profite sind das Lebenselexier des Kapitalismus und die Profitabilität bestimmt maßgeblich die Akkumulations- oder (Netto-)Investitionsrate des Kapitals. An sie gebunden sind Arbeitsplätze, damit die Einkommen, das Steueraufkommen, die Lohnentwicklung und letztlich auch die Lebensplanung der Menschen“. Becker lehnt sich hier an den „Constraint“-Ansatz der Theorie des bürgerlichen Staates an. In der Kritik an marxistischen Staatskonzepten, die einen starren strukturellen Determinismus behaupteten, d.h. den Staat verstanden als die Ausführinstanz der ökonomisch-strukturellen Imperative, bildete sich ein Ansatz heraus, der eine Konzeption elastischer Determinationsverhältnisse vertrat, demzufolge gesellschaftliche Strukturen gewisse „limits“ setzen und benennbare „pressures“ ausüben. Diese „Constraint“-Theorie der Macht des Kapitals behauptet, dass sich der Staat unter kapitalistischen Bedingungen in einem strukturellen Kontext befindet, dessen Regeln er sich nicht entziehen kann. Diese limitierenden Regeln gewähren jedoch einen relativ breiten Rahmen an möglichen Handlungsoptionen. Strittig ist innerhalb dieses Ansatz die Frage, welches Ausmaß der strukturellen Macht des Kapitals eingeräumt wird. Die minimalistische Version der strukturellen Macht des Kapitals geht davon aus, dass die Gesellschaft abhängig ist vom Kapital (Arbeitsplätze, Konsumgüter, Wohnraum etc.), und eben diese Abhängigkeit die Position der Kapitalisten zu einer strukturellen Machtposition macht. Eine bestimmte politikbestimmende Macht des Kapitals könne hieraus jedoch nicht gefolgert werden. Die schwache Version der strukturellen Macht besagt, dass aus der Abhängigkeit der Gesellschaft von der kapitalistischen Akkumulation nicht gefolgert werden kann, dass das Kapital prinzipiell die Akkumulationsbedingungen diktieren kann – es treten immer wieder den Kapitalinteressen entgegen gesetzte Strategien auf, die gewisse Wirkungen zeitigen können. Die stärkere Version besagt, dass das Kapital aufgrund der Kontrollmöglichkeiten über die Produktionsmittel und der Fähigkeit zur Investitionsentscheidung über eine gewisse Drohkapazität verfügt, da es in der Lage ist, Investitionen zu stoppen oder die Produktion ins Ausland zu verlagern.Unabhängig davon, welches Ausmaß der strukturellen Macht des Kapitals zugestanden wird, behauptet die „Constraint“-Theorie noch andere als durch die kapitalistischen Verhältnisse begründete Limitationen. Die Politik erfährt z.B. auch von dem strukturellen Kontext des politischen Systems im Allgemeinen Einschränkungen in ihren Handlungsoptionen. Das Verdienst des „constraint“-theoretischen Ansatzes liegt somit darin, die strukturellen Grenzen der gesellschaftlichen Praxis unter kapitalistischen Bedingungen anzugeben, die rationaliter nicht überschritten werden können. Diese grundlegende, strukturelle Limitation des Möglichen trifft jedoch noch keine Aussage über die historisch-konkrete Entwicklung – diese ist vielmehr – rationaliter – im Bereich der eingegrenzten Möglichkeiten offen. Aus dieser Perspektive soll nun die oben offen gelassene Frage wieder aufgegriffen werden, welcher Plausibilitätsspielraum denn der Werttheorie (und auch der Formanalyse) zuzugestehen und wie rigide oder flexibel der „stumme Zwang der ökonomische Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ einzuschätzen ist.M.E. ist es gerade der Raum, den die schwache Version der strukturellen Macht des Kapitals beschreibt. Anhand der Werttheorie können gewisse Grenzen des Möglichen – ganz allgemein: in der Reproduktion gesellschaftlichen Lebens unter kapitalistischen Bedingungen – festgelegt werden: gewisse Grenzen für das Staatshandeln, gewisse Grenzen für die Regulationsweise, gewisse Grenzen für die hegemoniale Konstellation des historischen Blocks etc. 

Doch außer dieser grundlegenden Limitierung der Möglichkeiten, kann die Werttheorie keine direkten, ausschlaggebenden Wirkungen auf der historisch-konkreten Ebene beschreiben (wie es z.B. das Konzept des Staates als „Verwaltungs- und Vollzugsorgan“ der Kapitalinteressen impliziert). Die Spezifik der gesellschaftlichen Oberfläche – will man die räumliche Metaphorik von Basis und Überbau beibehalten – samt ihrer Machttechnologien, Menschenführungskonzepte, ideologischen Anrufungsmodi der Subjekte, kulturellen Kodierungen und ihren Diskurssystemen, all dies lässt sich aus der Perspektive der Werttheorie nicht erklären. Jessop zielt in seiner Kritik der Methode der Formanalyse in die gleiche Richtung: „Although capitalism cannot be understood without exploring the ramifications of the value form, the latter does not itself fully determine the course of accumulation“. Während die Wertform die Grundparameter des Kapitalismus bestimmt, kann dessen Dynamik nicht vollständig in werttheoretischen Begriffen beschrieben werden und weitere Determinationen müssen in die Analyse miteinbezogen werden. In diesem Sinne spricht Jessop von einer „underdetermination“ des Kapitalismus durch die Wertform.Die hier dargelegte Kritik an Werttheorie und Formanalyse ist jedoch nicht im Sinne einer totalen Zurückweisung zu verstehen. Als Theorie kann sie durchaus auf die grundlegenden immanenten Widersprüche des kapitalistischen Reproduktionsprozesses, wie auf die „notwendig“ konfliktbehafteten kapitalistischen Klassen- und Ausbeutungsverhältnisse hinweisen. Damit ist jedoch noch keine Aussage darüber getroffen, ob mit ihr als Methode reale gesellschaftliche Auseinandersetzungen und Konfliktlinien zutreffend erklärt werden können. „Als Theorie kann sie auf Wirkungszusammenhänge kapitalistischer Vergesellschaftung aufmerksam machen, z.B. auf die Aneignung des Mehrwerts durchs Kapital trotz formal-juristischer Gleichstellung (…) oder auf mögliche Krisentendenzen wie der Fall der Profirate aufgrund einer steigenden organischen Zusammensetzung des Kapitals. Doch sollte nicht vergessen werden, dass sie als Gesetz auf ähnlich restriktiven Annahmen beruht, wie das neoklassische Marktmodell“. Zusammenfassend ist der kapitallogischen Argumentation in der Analyse gewisser Grundstrukturen und der Limitationen gewisser Möglichkeitsfelder durch die spezifisch kapitalistische Vergesellschaftung durchaus eine gewisse Plausibilität zuzugestehen. Diese darf jedoch nicht dahingehend missverstanden werden, dass sich bestimmte Wirkungen und Bewegungen und der historisch-konkreten Ebene aus dem kapitallogischen Raum ableiten ließen. Aus dieser Perspektive, die gewisse spezifisch „kapitalistisch“ bestimmte Limitationen der geschichtlichen Möglichkeiten behauptet, soll die Frage nach dem theoretischen Status des Begriffs der „Regulationsweise“ wieder aufgegriffen werden.