Achtsamkeit in der Suchttherapie

von: Götz Mundle, Oliver Bilke-Hentsch, Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank, Michael Klein

Kohlhammer Verlag, 2017

ISBN: 9783170306257 , 192 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 28,99 EUR

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Achtsamkeit in der Suchttherapie


 

 

 

 

 

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Achtsamkeit in der Psychotherapie


 

»Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart. Der bedeutendste Mensch ist immer der, der dir gerade gegenüber steht. Das notwendigste Werk ist stets die Liebe.«

Meister Eckhart (1260-1328)

Die Integration von Achtsamkeit in die westliche Psychologie und Psychotherapie wird als »dritte Welle« der Psychotherapie bezeichnet (Heidenreich und Michalak 2009, 2014). Im Gegensatz zur buddhistischen Psychologie wird im heutigen westlichen Verständnis der Psychotherapie versucht, die Essenz buddhistischer Meditationsformen ohne einen »religiösen« Überbau zu übernehmen, wobei buddhistische Philosophie und Psychologie große Überschneidungen aufweisen. Beide Wissenschaften beschäftigen sich mit den Ursachen von Leiden und Möglichkeiten der Befreiung von Leiden.

Trotz der schnellen und weiten Verbreitung der Prinzipien von Achtsamkeit in der Psychotherapie, ergeben sich für Psychotherapeuten, die sich intensiv mit dem Thema Achtsamkeit auseinandersetzen, vielfältige therapeutische und persönliche Herausforderungen. Bei genauerer Betrachtung der Quellen von Achtsamkeit werden viele Grundprinzipien und Selbstverständlichkeiten westlicher Psychologie in Frage gestellt. Veränderungen durch »Nicht-Verändern-Wollen« erreichen zu können, stellt einen Paradigmenwechsel des therapeutischen Grundverständnisses für westliche Therapeuten dar (Weiss und Harrer 2010). Die Integration achtsamkeitsbasierter Therapieprinzipien, wenn diese in ihren Wurzeln und in ihrer Radikalität verstanden und verinnerlicht werden, wirft im therapeutischen Handeln viele Fragen auf, die nicht einfach zu beantworten sind. Wie kombiniere ich eine achtsame Grundhaltung mit notwendigen Veränderungsmodellen westlicher Psychotherapie, insbesondere der Verhaltenstherapie? Welche Möglichkeiten der Ergänzung und welche Grenzen gibt es bei der Integration von Achtsamkeit in unser westlich geprägtes Verständnis von Psychotherapie als aktiven Veränderungsprozess?

Definition von Achtsamkeit


Der Begriff Achtsamkeit beschreibt ein grundlegendes Prinzip buddhistischer Meditationspraxis. Thich Nhat Hanh (1998), ein vietnamesischer buddhistischer Mönch, beschreibt Achtsamkeit wie folgt:

»Achtsamkeit ist die Fähigkeit, in jedem Augenblick unseres täglichen Lebens wirklich präsent zu sein … Achtsamkeit ist eine Art von Energie, die jedem Menschen zur Verfügung steht. Wenn wir sie pflegen, wird sie stark, wenn wir sie nicht üben, verkümmert sie. … Achtsamkeit lässt uns erkennen, was im gegenwärtigen Augenblick in uns und um uns herum wirklich geschieht«. Und er führt weiter aus: »Wirkliches Leben erfahren wir nur im Hier und Jetzt. Die Vergangenheit ist schon vorüber, und die Zukunft ist noch nicht da. Nur im gegenwärtigen Augenblick können wir das Leben wirklich berühren.«

Grundgedanke dieser Ausführungen ist, dass Lebendigkeit, Lebensqualität und Lebenszufriedenheit im Kern nur im gegenwärtigen Moment erlebbar sind. Mittels Achtsamkeit stärken wir unsere Fähigkeit, im Hier und Jetzt zu sein und damit unsere Fähigkeit, lebendig zu sein. Aufgabe von Psychotherapie in diesem Grundverständnis ist es, Patienten zu helfen, gegenwärtig zu sein und mittels Achtsamkeit die Fähigkeit zu fördern, den momentanen Augenblick zu erleben und zu akzeptieren, so wie er ist. Psychische Gesundheit setzt in diesem Grundverständnis Achtsamkeit als Grundbaustein der Psychotherapie voraus.

John Kabat-Zinn (1990), einer der wesentlichen Initiatoren achtsamkeitsbasierter Therapieverfahren in der westlichen Psychologie und Medizin, liefert eine nicht religiös gebundene, moderne und praxisorientierte Definition:

Achtsamkeit bedeutet auf eine bestimmte Weise aufmerksam zu sein, absichtsvoll (»on purpose«), im gegenwärtigen Augenblick (»present moment«) und ohne zu urteilen (»non-judgmental«).

Kabat-Zinn beschreibt in seiner Definition wesentliche Kerndimensionen von Achtsamkeit. Zusätzlich zu den von ihm genannten Komponenten Absichtsvoll, Gegenwärtiger Moment, Nicht-Bewertung wird häufig als weitere Dimension die Entwicklung eines Inneren Beobachters beschrieben (Kurtz 1994).

Die Dimension »Absichtsvoll« beschreibt die Fähigkeit, unsere Aufmerksamkeit bewusst zu lenken. Wahrnehmung und Erleben muss immer im Kontext unserer Aufmerksamkeitslenkung betrachtet werden. Im Regelfall erfolgen unsere Erfahrungen und unser Erleben nicht absichtsvoll, da wir unsere Aufmerksamkeit nicht aktiv gelenkt haben (»on purpose«), sondern, wie Kabat-Zinn (1994) es beschreibt, uns meistens im Autopilotenmodus befinden. Die Schulung der Achtsamkeit fördert die Fähigkeit, im ersten Schritt wahrzunehmen, wohin unsere Aufmerksamkeit gelenkt wird, um anschließend unsere Aufmerksamkeit bewusst zu steuern. In diesem Sinne ist eine regelmäßige Achtsamkeitspraxis mit einem »Fitnesstraining« zu vergleichen. Der »Muskel« Aufmerksamkeit wird durch Achtsamkeitsübungen trainiert und verliert ohne Training wieder rasch an »Kraft«. Ist unsere Aufmerksamkeit ausreichend trainiert, können wir diese bewusst auf bestimmte Inhalte unserer Innen- oder Außenwelt lenken. In den Übungen wird diese Fähigkeit trainiert, indem wir unsere Aufmerksamkeit auf einen einfachen Inhalt, z. B. den Atem oder unsere Gedanken, fokussieren. Weiterhin gibt es die Möglichkeit, dass wir unsere Aufmerksamkeit öffnen im Sinne eines offenen Gewahrseins. Ein offenes Gewahrsein befähigt uns, alles, was in unserem Bewusstsein auftaucht, wahrzunehmen und zu betrachten.

Die Dimension »Gegenwärtiger Augenblick« beinhaltet die Fähigkeit, sich ganz dem Hier und Jetzt zuzuwenden. Gerade bei psychischen Erkrankungen beschäftigen sich die Betroffenen mit der Vergangenheit oder Zukunft. Achtsamkeit kann helfen, diese Gedankenspiralen zu unterbrochen. Die Wahrnehmung der Gegenwart mit allen Sinneseindrücken wird ermöglicht. Die Fähigkeit, gegenwärtig zu sein, erhöht die Intensität und Qualität des Erlebens. Eine neue Form der »Präsenz« im Alltag wird ermöglicht. Wie Thich Nhat Than (1998) in seinem Zitat beschreibt, findet wirkliches Leben nur im Hier und Jetzt statt. Eine einfache Übung in diesem Kontext ist die Rosinenübung aus dem MBSR Programm. Im Regelfall erleben die Patienten eine neue Qualität einer achtsamen Wahrnehmung einer Rosine mit all ihren Sinnen. Häufig wird ganz überrascht festgestellt, dass der Geschmack einer Rosine noch nie so intensiv erlebt wurde. Übertragen auf den Alltag bedeutet dies, je gegenwärtiger und fokussierter wir auf den Moment sind, desto intensiver und bereichernder wird Alltag erlebt.

Die Fähigkeit der »Nicht-Bewertung« beinhaltet Offenheit, Neugierde, Akzeptanz und Wohlwollen als Grundhaltung bei der Durchführung von Achtsamkeitsübungen. Diese Grundhaltung bezieht sich auf alle Prozesse, die während der Übungen auftreten können. Wie bei einem Neugeborenen werden alle Prozesse, egal ob angenehm oder unangenehm, neugierig betrachtet. Übrigens bezieht sich die Grundhaltung der Nicht-Bewertung auch auf »bewertende« Gedanken, die während der Übung auftreten können. Nicht-Bewertung bedeutet nicht, dass unsere Gedanken niemals bewertend sein dürfen, sondern bezieht sich auf die Grundhaltung und Fähigkeit, alles was an Phänomenen auftritt, offen anzuschauen und zu akzeptieren. Ein weiteres Missverständnis ist häufig, dass Akzeptanz mit Resignation verwechselt wird. Probleme achtsam wahrzunehmen und zu akzeptieren ist in diesem Verständnis die Voraussetzung für realistische und hilfreiche Veränderungsprozesse.

Die Dimension »Innerer Beobachter« entspricht dem psychologischen Konstrukt der Meta-(Satelliten-)Position. Achtsamkeit fördert die Entwicklung des inneren Beobachters, der eine innere Distanz zum Erlebten ermöglicht. Wenn ich einen Gedanken beobachten kann, bin ich mehr als dieser Gedanke. Wenn ich Emotionen wahrnehmen kann, so bin ich diesen nicht hilflos ausgeliefert, sondern kann sie und ihre Veränderungen beobachten. Im Gegensatz zur Dissoziation sind in der Beobachterposition Gedanken oder Gefühle nicht verdrängt oder abgespalten, sondern Teil der eigenen Person, und können wie eigene Körperteile wahrgenommen werden. Offen und nur schwer mit Worten zu beantworten bleibt die Frage: »Wer beobachtet eigentlich?«. Die Einnahme einer Beobachterposition befähigt uns zu erkennen, dass wir mehr sind als unsere Gedanken, Gefühle oder Empfindungen. Eine Definition der Beobachterposition ist in ihrer gesamten Dimension mit Worten schwer zu fassen, im direkten Erleben...