Bildungsgerechtigkeit und Gymnasium

von: Susanne Lin-Klitzing, David Di Fuccia, Thomas Gaube

Verlag Julius Klinkhardt, 2017

ISBN: 9783781555945 , 196 Seiten

Format: PDF

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 13,90 EUR

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Bildungsgerechtigkeit und Gymnasium


 

Jürgen Rekus
Der Beitrag des Gymnasiums zur Bildungsgerechtigkeit (S. 23-24)

1 Einleitung

Regelmäßig werden Autofahrerinnen und Autofahrer von der Reifenindustrie daran erinnert, witterungsgerechte Reifen an ihre Fahrzeuge zu montieren. Besonders im Herbst wird auf die gesetzliche Regelung aufmerksam gemacht, dass eine wintergerechte Bereifung Vorschrift sei. Gemeint ist, dass die Reifen, mit denen man herumfährt, den anstehenden Witterungsbedingungen „gerecht“ werden sollen. Anders formuliert: Die Reifen sollen den Anforderungen, die im Winter an sie gestellt werden, entsprechen. Es geht mit anderen Worten um eine Passung von Reifen und Witterung im Hinblick auf die Erreichung bestimmter Fahrziele. Die Passung lässt sich empirisch leicht feststellen. Durch verschiedene Prüfungen lässt sich ermitteln, ob die Reifen tatsächlich witterungsgerecht für das Fahrzeug sind. 2 Was ist Bildungsgerechtigkeit?

Der Leser dürfte bereits ahnen, dass mit dieser Einleitung eine Analogie zur Schule angebahnt wird. In der Tat ist es so, dass die jeweils besuchte Schulform den Bildungsanforderungen der Schülerinnen und Schüler gerecht werden soll. Auch hier geht es um eine Passung von Bildungsangebot und Bildungsmöglichkeit im Hinblick auf die Erreichung von Bildungszielen. Auch diese Passung ist empirisch leicht feststellbar. Durch Prüfungen lässt sich ziemlich gut ermitteln, ob die Schulform tatsächlich bildungsgerecht für das Schulkind ist.

Den Ausdruck „Witterungsgerechtigkeit“ hat zwar noch niemand mit größerer Wirkmächtigkeit geprägt, aber grammatisch wäre er eine richtige Wortbildung. Aus dem Verb „gerecht werden“ im Sinne von „entsprechen“ lässt sich das Substantiv „Gerechtigkeit“ im Sinne von „Entsprechung“ bilden. Man kann dieses Wortspiel mit vielen Nomen unternehmen und erhält viele lustige Wortschöpfungen: Geschmacksgerechtigkeit von Kaffee, Klimagerechtigkeit von Outdoorjacken, Transportgerechtigkeit der Deutschen Bahn, um nur einige Beispiele zu nennen. Bei all diesen Gerechtigkeiten kommt freilich kein vernünftiger Mensch auf die Idee, den Begriff „Gerechtigkeit“ als ethische Kategorie aufzufassen. Bei dem Ausdruck „Bildungsgerechtigkeit“ liegen die Verhältnisse streng genommen genauso, aber hier ist dann Schluss mit lustig. Ob eine Schulform den Bildungsmöglichkeiten und -ansprüchen von Schülerinnen und Schülern gerecht wird, d.h. ihnen entsprechen kann, hat zwar auch wenig mit dem rechtsphilosophischen Begriff der Gerechtigkeit zu tun. Aber der bildungspolitische Diskurs läuft erstaunlicherweise mit großer Erregung anders.

Unter Berufung auf die Menschenrechtserklärungen der Vereinten Nationen werden im Zeichen der Bildungsgerechtigkeit die gegenwärtigen Schulreformen durchgeführt. Dabei wird die eigentlich naheliegende Differenzierung nach Leistung als „Selektion“ bezeichnet und als höchste Form schulischer Ungerechtigkeit gebrandmarkt. Schülerinnen und Schüler sollen unter dem Diktat der Bildungsgerechtigkeit stattdessen länger gemeinsam lernen. Offenbar haben US-amerikanische High-School-Konzepte, aber auch die ehemalige Polytechnische Oberschule der DDR Modellcharakter für neue deutsche Gemeinschaftsschulkonzepte. Dabei soll das Gymnasium nicht mehr wie bisher eine parallele Schulform ab Klasse 5 sein, sondern sich allenfalls als Ergänzung nach Klasse 10 verstehen, die allen offensteht.

Ist es das, was die Vereinten Nationen anmahnen? Wird so die vermeintliche Forderung nach Bildungsgerechtigkeit eingelöst? Werden reduktionistische Schulreformen mit Zielvorgaben eingefordert, die jeder erreichen kann? Werden tatsächlich eine Nivellierung der Ansprüche und konsequente Zusammenfassung der verschiedenen Schularten und -formen zu einer Schule für alle propagiert? Gilt die Parole: Länger gemeinsam zum kleinsten gemeinsamen Nenner?