Der Blick ins Freie - Im Diskurs mit Janusz Korczak

von: Siegfried Steiger, Agnieszka Maluga, Ulrich Bartosch

Verlag Julius Klinkhardt, 2017

ISBN: 9783781556027 , 224 Seiten

Format: PDF

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 14,90 EUR

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Der Blick ins Freie - Im Diskurs mit Janusz Korczak


 

Pädagoge sein heißt, wieder klein sein (S. 28-29)
Friedhelm Beiner

Erich Kurzweil hat in seiner Würdigung von Korczaks Werk dessen künstlerische Fähigkeit zu einer »methodischen psychologischen Regression« hervorgehoben, die es ihm erleichtere, die Perspektive von Kindern einzunehmen, um dabei deren reiches Gefühlsleben kennen zu lernen und sie in ihren Sorgen, Nöten, Freuden und Wünschen besser verstehen zu können. (Kurzweil 1974, S. 143f.)

Aleksander Lewin, Mitarbeiter Korczaks und späterer Nestor der polnischen Korczak- Forschung, knüpft in seiner Korczak-Würdigung an einen Grundsatz Rousseaus an, der besagt: „‘Man muß das Kind gut und eindringlich kennenlernen, um es zu erziehen.‘ Dies ist zweifellos eine Wahrheit. Aber“ – so Lewin – „Korczak ging weiter: Es ist eine leidenschaftliche Hingabe nötig; man muß das Kind nicht nur verstehen, man muß auch fühlen wie ein Kind, mit ihm leiden, die Welt mit Kinderaugen anschauen, seine Position einnehmen, man muß in das Wunderland des Kindes eindringen, wie es Freinet und Suchmolinski getan haben. Man muß wie ein Kind denken, fühlen und erleben, kindlich reagieren. Man muß ein Kind werden, während man erwachsen bleibt.“ (Lewin 1984, S. 9f.)

Und wie solch ein Pfad ins Wunderland des Kindes gefunden werden kann, beschreibt Korczak selbst in „Das Kind in der Familie“ am Beispiel einer Mutter, der er empfohlen hatte, ihrem Neugeborenen so nahe wie möglich zu sein, auch in den Nächten. „Sie (die Nächte) können dir geben, was kein Buch, kein guter Rat zu geben vermögen. Hier liegt nämlich das Wesentliche nicht nur im Wissen, sondern in einem tiefen seelischen Umschwung, der nicht zu nutzlosen Überlegungen zurückkehren läßt: was sein könnte, was sein sollte, was gut wäre, wenn doch …, sondern dich lehrt, unter den gegebenen Bedingungen zu handeln. Während dieser Nächte wird vielleicht ein wunderbarer Verbündeter geboren, ein Schutzengel des Kindes – die Intuition des mütterlichen Herzens, jene Hellsichtigkeit, die beruht auf: forschendem Willen, aufmerksamer Überlegung und einem ungetrübten Gefühl.“ (Korczak 1919/1999b, S. 22)

Diese Haltung, hier bei Korczak mit „Intuition des mütterlichen Herzens“ umschrieben, die auf „forschendem Willen, aufmerksamer Überlegung und einem ungetrübten Gefühl“ beruht, dürfte der zentrale „Schlüssel“ zur erzieherischen Einwirkung auf ein Kind sein. Ich habe sie an anderer Stelle als „pädagogische Einfühlung“ bezeichnet. (Beiner 2008, S. 111ff.) Korczak macht auf wichtige Teil-Aspekte dieser Haltung aufmerksam: Zugewandtheit, Interessiertheit am Kind, Offenheit für neue Erkenntnisse, forschende Aufmerksamkeit, unvoreingenommenes Mitfühlen.

Den Aspekt des unvoreingenommenen Mitfühlens veranschaulichte er einmal mit einer Geschichte, die er als Antwort auf die Frage „Wer kann Erzieher werden?“ einer Gruppe von ErzieherInnen in Israel erzählte (Korczak 1934/2004, S. 433ff.): Es geht in der Geschichte um eine Familie, in der die drei Kinder Esterka, Arie und Srulek, deren Mutter und Vater und der kranke Großvater zusammen leben. Beschrieben wird eine Kette von kleinen Kümmernissen, von denen jedes einzelne Familienmitglied im Laufe eines Tages in seiner je eigenen Welt betroffen wird: Schon am Vormittag muss der Großvater, der seine Tage nur noch im Sessel des Wohnzimmers verbringen kann, bitterlich weinen, weil ihm seine Brille heruntergefallen ist, die er nicht aufheben kann, so dass nun Stunden der Hilflosigkeit auf ihn harren; das Mädchen Esterka schluchzt beim Heimkommen aus der Schule, weil sie von ihren Klassenkameradinnen im Stich gelassen wurde; ihr Bruder Arie ist erschüttert über eine erfahrene Beschämung durch ein von ihm verehrtes Mädchen; der Mutter kommen die Tränen, als sie am Abend über die herabsetzenden Äußerungen ihrer Kolleginnen über ihr einfaches Kleid berichtet; des Vaters Augen füllen sich vor Scham mit Tränen, weil er nicht mit einem eigenen Auto zur Arbeit fahren kann; und der kleine, zu Haus gebliebene Srulek, weint aus Angst, der Teufel könnte hinter der Tür stehen. – Kleine, alltägliche und unbedeutende Anlässe für kleine Traurigkeiten? – Der Erzähler beendet seine Geschichte mit dem Satz:

„Alle Tränen sind salzig. Wer das begreift, kann Kinder erziehen, wer das nicht begreift, dem gelingt es nicht, sie zu erziehen.“ (Ebd., S. 435)

Und wer es begreift, der begreift es qua Mitgefühl. Kein rationales Verfahren kann dieses Mitfühlen im mitmenschlichen wie im pädagogischen Bereich ersetzen. Darum trainiert Korczak die Fähigkeit „pädagogische Einfühlung“ als wichtige Bedingung für pädagogisches Handeln. Dazu versetzt er sich in die Rolle von Kindern und versucht, ihr Erleben aus ihrer Perspektive zu sehen und zu begreifen, und zwar: indem er das Erleben der Kinder literarisch ausgestaltet. Dies ist sein spezifischer Beitrag zur Erforschung und pädagogischen Förderung der kindlichen Entwicklung, mit der man sich zu jener Zeit international und in verschiedenen humanwissenschaftlichen Disziplinen beschäftigte. Anstöße zu diesem Arbeitsschwerpunkt dürfte Korczak zum einen während seines Berliner Fortbildungsaufenthalts von den Größen der damaligen sozialmedizinischen Forschung erhalten haben, die ihn anregten, eigene Studien zur Entwicklung und Entwicklungsförderung des Säuglings durchzuführen. (Korczak 1911/1999a, S. 116ff.) Zum anderen war die Zusammenarbeit mit dem Herausgeber der kritischen Zeitschrift „Glos“, Wladyslaw Dawid, für ihn inspirierend. Dawid, Dozent der Fliegenden Universität Warschaus, und einer der wichtigsten Pädagogen Polens, war nämlich Leiter eines Forschungsprogramms zur „psychologisch-pädagogischen Beobachtung der Entwicklung des Kindes von der Geburt bis zum 20. Lebensjahr.“