Die Seele Europas - Von Sinn und Sendung des Abendlands

von: Stephan Baier

Fe-Medienverlags GmbH, 2017

ISBN: 9783863572006 , 196 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 6,99 EUR

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Die Seele Europas - Von Sinn und Sendung des Abendlands


 

I.
Vom Sterben der Staaten


– Am Ende aller Sicherheiten? –


Die am Beispiel von Huhn und Ei vielfach ins Absurde gewendete Frage, was nun Ursache und was Folge sei, ist schwer zu beantworten: Sind die Gesellschaften in Europa fragil geworden, weil Sicherheit spendende – oder wenigstens suggerierende – Stabilitäten zusammenbrachen? Oder brechen Strukturen zusammen, weil die Gesellschaften und deren Mentalität fragiler wurden? Am sichtbarsten tritt das Phänomen in der Staatenwelt Europas zutage: Zwar leben wir in einer Epoche des Etatismus, einer bis heute tief sitzenden, naiven Staatsgläubigkeit, die auch eine Folge der gesellschaftlichen Verdrängung Gottes ist, doch zugleich purzeln die Staaten die Kellertreppe der Geschichte hinab.

Überdauerten das Römische und später das Heilige Römische Reich ebenso wie das orthodox geformte oströmische Reich von Byzanz trotz vielfachen Wandels jeweils rund ein Jahrtausend, so sahen wir im 20. Jahrhundert viele Staaten kommen und gehen. Im Ersten Weltkrieg zerbarst die Friedens- und die Staatenordnung Europas: Das zaristische Russland wich dem roten Imperium Lenins, das deutsche Kaiserreich einer tief verunsicherten und geschwächten Weimarer Republik, das habsburgische Österreich-Ungarn einer Vielzahl kaum lebensfähiger und in sich zerrissener Kleinstaaten, das viele Völker beheimatende Osmanische Reich dem laizistischen Nationalstaat Atatürks sowie südlich davon den Protektoraten von Briten und Franzosen im Nahen Osten. Unübersehbar litten viele der neuen Staaten an schweren Geburtstraumata: die Weimarer Republik, die erste Republik Österreich, das verstümmelte Ungarn, der zerrissene Nahe Osten. Die neuen Kunststaaten trugen unüberwindbare Spannungen, ja einen Keim des Todes bereits in sich: Jugoslawien, die Sowjetunion, die Tschechoslowakei.

Anders als beim Wiener Kongress am Ende der Napoleonischen Kriege suchte nach dem Ersten wie auch nach dem Zweiten Weltkrieg niemand nach einer für alle gerechten oder wenigstens stabilen Ordnung Europas. Die Sieger verteilten die Beute. Völker, die zuvor Opfer des Kriegs geworden waren, wurden Opfer des Friedens. Doch während sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter amerikanischer Patronanz im Westen so etwas wie eine neue Ordnung, ein Gefüge der Staaten Europas friedlich entwickeln konnte und zur Europäischen Union reifte, verhüllte die Sowjetdiktatur lediglich die ungelösten staatlichen und nationalen Probleme ihres Herrschaftsraums. In dem Moment, in dem sich die Grabplatte der Diktatur hob, zerbröselten die künstlichen Staaten in Serie. Estland, Lettland, Litauen, die Ukraine, Weißrussland, Georgien, Armenien, Aserbaidschan und andere rissen sich von Moskau los; Tschechien und die Slowakei trennten sich friedlich; Jugoslawien zerfiel unter Strömen von Blut und unsagbarem Leid in viele Teile.

Der grüne Trieb am sterbenden Baum der europäischer Staatlichkeit könnte das vereinte Europa sein: geboren aus der Erkenntnis, dass die nationalstaatliche Verkeilung der Europäer nur durch gemeinsame Interessen und Ideale friedvoll und zum allseitigen Nutzen gelöst werden kann. Weltweit wird dieses Modell bewundert. Bewundernd oder auch neidvoll blicken Millionen Menschen außerhalb Europas auf diesen einzigartigen Raum des Friedens, des Rechts, der sozialen Sicherheit und – trotz aller Gefährdungen und Verwerfungen – auch des Wohlstands. Einzig die Europäer selbst können mit ihrer Erfindung wenig anfangen: Verunsichert durch die Fragilität der eigenen Staatlichkeit scheint ihnen die Europäische Union zu stark und zu schwach zugleich: kein Raum der Sicherheit, sondern vielfacher Verunsicherungen.

Im Gegensatz zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts liegen die Ursachen für große Katastrophen und Erschütterungen unserer wirtschaftlichen Sicherheiten heute längst nicht mehr in Europa: Eine amerikanisch-russische Verstimmung, ein neuer Krieg im Mittleren Osten, ein paar islamistische Machtübernahmen im südlichen Mittelmeerraum, eine Eskalation im südchinesischen Meer – und unsere Energieversorgung bricht zusammen. Ob in Indien ein Bürgerkrieg ausbricht und in China ein Systemwechsel droht, dürfte für unsere wirtschaftlichen Interessen langfristig wichtiger sein als die nächste Parlamentswahl in einem beliebigen europäischen Nachbarstaat.

Auch der Rückzug ins Private bietet immer weniger Sicherheit. Gerade das Familiäre ist äußerst zerbrechlich geworden. Im Kampf gegen den Patriarchalismus fielen die Vater-Bilder und die väterlichen Vorbilder. Im Namen des Feminismus fielen schließlich auch die Mutter-Bilder und die mütterlichen Vorbilder. Heute ist ganz Europa arm an Vätern und Müttern geworden, arm an Kindern und deshalb zukunftsarm. Zerbrechende Ehen, zerfallende und sich neu formierende Familien sind vom Rand- zum Massenphänomen geworden. Sicher, die gesellschaftlichen Tabus hielten früher oft auch zusammen, was nicht zusammenpasste, verursachten damit auch viel Leid. Doch die totale Enttabuisierung von Ehebruch, Scheidung und multipler Wiederverheiratung, der vor- und nebenehelichen Beziehungen brachten einzelnen nicht nur Freiheit und Glück, sondern mindestens im selben Maß Verunsicherung, Verletzung und Verbitterung. Die leidenden Scheidungswaisen, die nicht mehr durch Krieg, sondern durch Beziehungsdramen vaterlos aufwachsenden Generationen, die mehrfach verlassenen und schließlich vereinsamten Menschen vererben diese Unsicherheit: Wie soll jemand den Mut zu einer – sakramentalen oder zivilrechtlichen – dauerhaften Lebensentscheidung aufbringen, wenn er rund um sich nur gescheiterte Lebensentwürfe, zerrüttete Familienverhältnisse und zerbrochene Lebenspartnerschaften sieht? Wo soll Bindungsfähigkeit wachsen, wenn Bindung nur temporär und konditional, also nie lebenslang und bedingungsfrei erlebt wird?

Wie kann man der eigenen, subjektiven Zukunft trauen, wenn es keine uns umgebenden, objektiven Sicherheiten gibt? Woran hält sich fest, wer den Staat und die Weltanschauungen, die Wirtschaft und die Währung, die Eltern und die Familien nur als Treibsand erlebte, wem Werte und Orientierungen, Ziele und Visionen als Welle auf dem Ozean der Zeitgeschichte präsentiert werden?

Ist die Zukunftsangst nun Henne oder Ei – Ursache oder Folge der fragiler gewordenen Gesellschaft? Soziologisch und psychologisch belegbares Faktum ist, dass unsere Gesellschaft auch von Ängsten und von Süchten – Versuchen, die Ängste zu betäuben – geprägt und geschüttelt ist. Psychiater und Psychotherapeuten können davon berichten: Nicht nur die Gesellschaften, sondern auch die einzelnen Menschen sind fragiler geworden. Wer sagt uns eigentlich, wer wir sind, wenn auf keinen Gott, keinen Vater, keine Mutter, keinen Staat, keine Religion oder Weltanschauung, keinen Markt und kein Gesetz mehr Verlass sein soll? Im Gegensatz zu seinem Handy ist der Mensch eben nicht selbsterklärend. Ohne Zuspruch von außen – oder von oben – wird sich der Mensch selbst zu einem Rätsel, das uns weder die bunte Fülle am Bahnhofskiosk noch Wikipedia lösen kann.

Kein Wunder, dass viele psychische Erkrankungen in erschreckendem Maß zunehmen. Gewalt an und unter Kindern, Drogen, Spiel- und Internet-Sucht sind kein Zeichen von Freiheit, sondern von Flucht. Wo die eigene gläserne Identität zu zerbrechen droht, weil die Gesellschaft keine sie bergende Watte mehr bereit zu halten scheint, bieten sich heute viele Illusionen von Fluchtmöglichkeiten an. Die Religion soll Opium für das Volk sein? Der Opiate sind heute viele: ein bunter, postmoderner Markt der Illusionen und der Eitelkeiten. Und es kann lange dauern, teuer werden und auch teuer zu stehen kommen, bis sie sich im Sinne Kohelets als „Windhauch und Luftgespinst“ entzaubert und verflüchtigt haben.

– Die Vergänglichkeit der Staatlichkeit –


Europa dürfe kein Staat, erst Recht kein „Superstaat“ werden, mahnen die Europa-Skeptiker. Europa sei und werde kein Staat, erst Recht kein „Superstaat“, beschwichtigen die Europa-Befürworter. Was genau ein Staat ist, und wozu er dienen soll, wagt man angesichts solcher Dogmatisierung kaum zu thematisieren. Dann nämlich würden all die Lehrbuchweisheiten schnell an der Realität zerschellen. Wenn sich der Staat primär durch Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt definiert, was ist dann mit den Vielvölkerstaaten – vom Heiligen Römischen Reich bis zur Sowjetunion? Was ist mit dysfunktionalen Staaten, denen die Staatsgewalt längst entglitten ist? Was ist mit kriminellen – mafiosen, pseudo-religiösen oder ideologischen – Großorganisationen, die zwar nicht als Staaten anerkannt sind, jedoch faktisch bestimmte Regionen kontrollieren und die dort lebende Bevölkerung ihren Regeln und Gesetzen gnadenlos unterwerfen? Gestehen wir uns also lieber freimütig ein, dass der Terminus „Staat“ höchst unterschiedliche Wirklichkeiten bezeichnet.

Ein Zweites dürfen wir uns eingestehen: Staaten kommen und gehen – im 20. Jahrhundert erwiesen sich manche sogar als erstaunlich kurzlebig. Meine Großmutter mütterlicherseits wurde im Österreich-Ungarn Kaiser Franz Josephs geboren. Ohne ihren Bauernhof in Böhmen zu verlassen, befand sie sich als junge Frau plötzlich in der Tschechoslowakei, ein paar Jahre später im Großdeutschen Reich. Neuerlich in einer zweiten Tschechoslowakei zu leben, verweigerte ihr – und Millionen anderer Deutscher und Ungarn – Edward Beneš. Sowohl das Großdeutsche Reich wie die beiden Tschechoslowakeien waren letztlich weniger haltbar als meine Großmutter, die 98 Jahre alt war, als sie in ihrer zweiten Heimat Bayern starb. Ähnliches haben viele Menschen erlebt, die vor mehr als einem Jahrhundert beispielsweise in Klausenburg (Cluj), Marburg (Maribor), Danzig (Gdansk)...