Mein Vaterland zertrümmert - 1918-Kriegsende und Neuanfang in Briefen, Tagebüchern und Erinnerungen

von: Gudula Walterskirchen

Residenz Verlag, 2018

ISBN: 9783701745715 , 224 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 16,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Mein Vaterland zertrümmert - 1918-Kriegsende und Neuanfang in Briefen, Tagebüchern und Erinnerungen


 

Kapitel 2


Die Not an der Heimatfront


Kriegswaisen, Hunger und Heimweh – das Leid der Kinder


Mit der Kriegserklärung an Serbien und der Mobilmachung begann auch für die Kinder in Österreich-Ungarn eine schwere Zeit. Sie mussten von ihren Vätern Abschied nehmen, spürten die Bedrohungen des Krieges, ohne den Zusammenhang recht zu verstehen, und lebten in beständiger Angst. Bald bekamen sie selbst die Auswirkungen der Mangelwirtschaft zu spüren, litten Hunger, mussten sich nächtelang um Lebensmittel anstellen und konnten immer seltener in die Schule gehen. Schon bald nach Kriegsbeginn schnellte die Kindersterblichkeit hoch, von 1000 Babys starben 160 bei oder kurz nach der Geburt. Kinderkrankheiten wie Masern oder Scharlach rafften die geschwächten Kinder dahin. Und gegen Kriegsende führte die sogenannte »Spanische Grippe« auch bei Kindern zu einem Massensterben.

Viele Kinder wurden wegen Unterernährung und Lungenkrankheiten ins Ausland, vornehmlich in die Schweiz, verschickt. Es gab auch immer mehr Kriegswaisen, die in Heimen untergebracht werden mussten. Dieses ganze Kriegselend schildern, stellvertretend für das Trauma einer Generation, zwei Kinder in ihren Tagebüchern. Es sind seltene zeitgeschichtliche Dokumente, die teilweise in der Zeit und teilweise nach dem Krieg geschrieben wurden. Sie geben einen unmittelbaren und besonders berührenden Einblick in das Zeitgeschehen und die Gefühle der Menschen, die diese Zeit mitmachen mussten.

Martha Siedler, später verheiratete Rimser, geboren 1906 in Wien, war bei Ausbruch des Krieges acht Jahre, ihre Schwester Roserl sechs Jahre alt. Ihr Schicksal zeigt besonders anschaulich die Tragik der Kriegsjahre. Martha Siedler hat ihre Erlebnisse in Tagebüchern festgehalten oder unmittelbar nach Kriegsende aufgezeichnet.19

Es bleibt mir nichts anderes übrig, als gerade bei der Schreckenszeit, im ersten Kriegsjahr 1914, anzufangen. Das, was unsere kleinen Herzen vorher schon in Anspruch nahm, war nur Schönes, Heiteres. Der gute, oft strenge Vater ging zufrieden seiner Arbeit nach und sorgte treu für seine Familie. Die liebe Mutter hatte genug zu tun, in der Haushaltung und mit der Erziehung ihrer beiden »Wildlinge«, wie sie uns oft nannte. Aber sie war doch immer wieder glücklich und zufrieden, wenn wir beide ins Zimmer hereingestürmt kamen, mit wichtigen Schulnachrichten.

Eines Tages war ich besonders froh, so bald wie möglich in die Nähe der Mutter zu kommen, denn ich hatte schreckliche Angst. Auf der Straße standen Männer, Frauen, Kinder und die alten Leutchen beisammen und sprachen von nichts anderem als vom »Krieg«. Daheim angekommen, fand ich die Mutter ganz allein bei der Nähmaschine sitzen und die Zeitung lesen, in der die Mobilisation in alle Welt hinaus geschrieben war. Auf meine vielen Fragen, wie das alles sei und ab wann unser Vater auch fortgehen müsse, gab die Mutter geduldig Antwort, sie war vielleicht froh, dass ich sie um vielerlei fragte, damit sie auf etwas anderes zu denken käme. Mein Namensfest am 29. Juli wurde ganz vergessen. Umsonst freute ich mich auf schöne Sachen und auf den Spaziergang, den wir meistens alle machten. Ich getraute mich nicht, irgendetwas darüber zu sagen, denn etwas weit Wichtigeres, überaus Trauriges erfüllte die armen Herzen meiner lieben Eltern. Ach, der Krieg, überall nur das Wort Krieg, wie Blei lag es auf den Gemütern, sogar wir Kleinen fürchteten uns und das Singen und Lachen hat für einige Zeit aufgehört, obwohl wir es noch nicht verstanden haben.

In unseren Zimmern war alles durcheinander, Koffer und Kisten standen herum und da wurde beraten zwischen Vater und Mutter, was einzupacken. Und wir, Rosl und ich, wussten nicht, was machen, wie verscheuchte Vögel standen wir herum und weinten, denn dass die Tränen der armen Mutter über die Wangen rollten, war uns schon längst aufgefallen.

Es heißt vom lieben Vater Abschied nehmen. Der 1. August 1914, er wird mir unauslöschlich eingeprägt sein, Vater, Mutter, Rosl und ich sind auf dem Bahnhof gestanden, alle mit einem dumpfen, traurigen Gefühl, ich wollte nicht begreifen, dass die anderen Soldaten noch alle so singen konnten, wo überall auf dem ganzen Bahnhof herum weinende Frauen und Kinder standen. Wollten die Tapfern vielleicht mit dem Singen die Tränen hinunterschlucken? Sie werden wohl auch traurig gewesen sein.

Alles, was noch zu besprechen war zwischen Vater und Mutter, wurde immer wieder von unserem Zwischenruf »Gell Vaterl, du kommst bald wieder zu uns heim« unterbrochen. Allen drei war es bang um den Fortziehenden. Wir haben ganz sicher versprochen, der Mutter immer zu folgen und Freude zu machen. Nun aber Abschied nehmen, der gute Vater hat uns alle noch innig geküsst, Mutter sagte: »Geb’s Gott, dass es nicht das letzte Mal ist, dass wir beim Vater stehen können.« In gedrückter Stimmung sind wir drei nach Hause gelaufen. Am Abend, wenn uns Mutti ins Bett schickte, hat sie immer mit uns gebetet, von nun an wurde extra für den Vater in der Ferne gebetet: »Mein lieber Gott, beschütze und beschirme unseren guten Vater.«

Alle Wochen zwei bis drei Mal kam eine Karte oder ein Brief aus der Innsbrucker Kaserne, wo mein Vater einquartiert war. Aber bald wurden sie seltener, denn er musste auch, wie alle andern, ins Feindesland ziehen. Daheim ging’s, so gut es eben gehen konnte. Die Mutter hatte sehr viel Arbeit, denn viele Frauen opferten für die Soldaten ihre freie Zeit und nähten Uniformen, oder Sandsäckli fürs Feld, damit sie sich schützen konnten. Auch ich hab der Mutter tüchtig geholfen […].

Kurz vor Weihnacht 1914 kam endlich der ersehnte Brief vom Vater, und welche große Überraschung, er kommt heim, er kommt, das klang immer in den Ohren. Weil er Ruhe und etwas Pflege brauche, sei er beurlaubt worden, auf zwei Monate. Es waren schöne, noch sehr fröhliche Weihnachtstage, nur gar zu bald musste man wieder an den Abschied denken. Dieses Mal mit etwas leichterem Herzen, denn der liebe Vater wurde wegen seiner Kenntnisse in ein Militärbureau versetzt, wo ihm weniger Gefahr drohte, obwohl es auch im Feindesland war. Nur ganz kurze Zeit war er fort und kam für zwei Tage wieder zu uns heim, denn er wurde versetzt nach Italien. Dort musste er in den Schützengräben den Telegraphendienst besorgen. Unter beständigem Kampf und Kugelregen. Wie schaurig horchten wir auf, wenn das arme Vaterle so vom Feld erzählte, wie die Kugeln über seinen Kopf flogen. Nach neun langen Monaten kam der Vater wieder heim, aber schwer krank … Er hatte mal einen Unfall gehabt, wegen dem musste er sieben Stunden ohne Hilfe im Schnee liegen. Dort schon holte er sich einen Lungenspitzenkatarrh, der sich jetzt wegen dem unregelmäßigen Leben in den feuchten, unterirdischen Gängen verschlimmert hat, und der arme Vater war gezwungen, mit seinem schweren Leiden nach Hause zu fahren. Zu dem hat sich noch ein Kehlkopfkatarrh gesellt. Alle Tage musste er ins Spital zum Doktor, der ihn mit Röntgenstrahlen zu heilen suchte. Alles vergebens, es war so fest in seiner Brust eingenistet, dass er fort musste, in den Süden, um sich zu pflegen. Wieder mal begleiteten wir den Vater auf die Bahn, dieses Mal ging’s nach Arco am Gardasee. Traurig wie schon so mancher Abschied war auch dieser. Mein Mutterl hat sich an solches gewöhnt, sie wurde stiller und ernster mit jedem Tag, es war zu viel Schmerz für die arme, schwache Mutter, ihre Augen blickten immer so ängstlich, wenn der Briefbote wieder was von Italien brachte.

Wir, Rosi und ich, waren doch fröhlich und lustig, wir vergaßen das Traurige schneller, aber auch auf uns lag schon ein gewisser Ernst. Die Lehrerschaft in der Schule hatte uns gerne und wir lernten noch gut.

Als sich der Vater wieder einigermaßen erholt hatte, kehrte er für einige Monate nach Wien zurück, musste dann aber wieder abreisen. Martha war zu diesem Zeitpunkt zehn Jahre alt, Roserl acht.

Wie verändert und anders war doch unser Vaterle, mager und eingefallen ging er von uns fort, am Bahnhof, es ist mir jetzt noch immer, er habe besonders lieben Abschied von uns genommen. Den Kuss, den er mir noch gab, es war der letzte, oh, hätte ich ihn halten können, diesen lieben schützenden Vaterkuss – … es sollte anders kommen. […] Gut, wussten damals die ahnungslosen Herzen noch nicht, was für schwere Schicksalsschläge noch kommen werden.

Am 4. oder 5. Dezember 1916 war’s, als uns Mutter wie gewöhnlich zur Schule weckte. Sie sah heute so elend und müde aus und musste zum Unglück noch allein die Wäsche waschen. Als wir gehen wollten, ermahnte uns Mutti noch, wir sollen schnell nach der Schule heimkommen, damit wir ein wenig helfen könnten. Wir gingen, aber für mich war kein langes Stillsitzen heute möglich. Nach zweimaligen Bitten, ob ich heim dürfe, die Mutter sei krank, schickte mich Frl. Nasty wirklich. Aber welch schmerzliche Überraschung, Mutterl lag schwach und matt wirklich schon im Bett und bis über den Kopf in Federn und Decken. Frau Wiedhalm, die Hausmeisterin, war...