Ausgestorben, um zu bleiben - Dinosaurier und ihre Nachfahren

von: Bernhard Kegel

DuMont Buchverlag , 2018

ISBN: 9783832184032 , 272 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Ausgestorben, um zu bleiben - Dinosaurier und ihre Nachfahren


 

Einleitung

Sie beherrschten die Kontinente über 170 Millionen Jahre, tausendmal länger, als es Menschen gibt, und sie brachten die gewaltigsten Kreaturen hervor, die je über irdischen Boden wandelten. Ist es zu glauben, dass über diese Tiere ganze Bibliotheken für Kinder und Jugendliche existieren, aber kein einziges einigermaßen aktuelles Buch in deutscher Sprache, das sich in erster Linie an ein erwachsenes Publikum richtet? Natürlich wünschen wir uns für unsere Kleinen nur das Beste, die Echsen der Urzeit sind aber in jeder Beziehung zu groß, um sie allein den Kindern zu überlassen.

Dieser Mangel ist umso erstaunlicher, als es viel zu erzählen gibt. Das Bild, das die Wissenschaftler von den Vorzeitechsen zeichnen, hat sich stark verändert. 85 Prozent aller heute bekannten Dinosaurierarten erhielten ihre Namen nach 1990, sind also relativ junge Entdeckungen.

Der Löwe ist Löwe und ist immer Löwe geblieben, und das Gleiche gilt für Elefanten, Nashörner, Mammuts, Höhlenbären, Säbelzahnkatzen und all die anderen Großtiere, die bis in unsere Zeit überlebt oder sie nur um ein paar Tausend Jahre verfehlt haben. Für Dinosaurier gilt es nicht. Seit der britische Anatom Richard Owen ihnen Mitte des 19. Jahrhunderts den Namen »Dinosauria« gab, haben sie sich (bzw. hat sich die Vorstellung, die wir uns von ihnen machen) immer wieder gewandelt. In Abhängigkeit von neuen Fossilfunden und wissenschaftlichen Erkenntnissen durchliefen sie mehrere zum Teil drastische Metamorphosen, wurden von der kriechenden Rieseneidechse zum aufrecht stehenden Kängurudrachen, vom schwerfälligen Kaltblüter zum dynamischen und intelligenten Jäger und zuletzt – vielleicht die überraschendste aller Wendungen, die bislang erst von einer Minderheit der Menschen wahrgenommen wurde – von der beschuppten Echse zum gefiederten Riesentruthuhn. Fast hat es den Anschein, als ob jede Menschengeneration sich ihre eigenen Dinosaurier geschaffen hätte. Diesem Gestaltwandel und seinen Spiegelungen und Resonanzen im Geistes- und Kulturleben der jeweiligen Zeit spürt das Buch nach und bietet dabei auch, jenseits der Biologie, rein fiktiven Gestalten wie Drachen, Godzilla und King Kong Raum.

Tatsächlich muss es hier um beides gehen, um Naturwissenschaft und um Kultur, denn die Dinos waren nicht nur spektakuläre Lebewesen, von denen noch heute eine kaum zu überbietende Faszination ausgeht, sie waren und sind auch Teil der Populärkultur, ein Besuch in einem Spielzeugladen, einem Kino oder einer Videothek macht das überdeutlich. Von allen Tieren haben es, abgesehen vielleicht von den Mammuts, nur die Dinosaurier geschafft, in einen Status der Quasi-Unsterblichkeit einzutreten, obwohl es dafür unter den Urzeitwesen viele Kandidaten gegeben hätte, skurrile wie spektakuläre. Dinos sind Stars, Helden der Literatur und der Kinoleinwand, Fernsehberühmtheiten und Hauptdarsteller der Erdgeschichte. Und einer von ihnen ist der unbestrittene König, ein Megastar: T. rex.

Es geht aber nicht nur um ihre Kraft, um Tonnen von Muskelmasse, um Zähne wie Dolche, um keulenbewehrte Schwänze und mit Speeren gespickte Knochenkragen, um Kämpfe und Tänze, bei denen der Boden bebte. Dinosaurier sind nicht nur für Rekorde gut. Mehr als alle anderen verschwundenen Lebensformen erinnern sie uns daran, dass der Existenz selbst der gewaltigsten Wesen auf diesem Planeten zeitliche Grenzen gesetzt sind.

Dinosaurier sind Kult und waren es von dem Moment an, da ihre versteinerten Knochen zum ersten Mal einer staunenden Öffentlichkeit präsentiert wurden. Schon immer wollten die Menschen sich ein Bild von diesen unglaublichen Kreaturen machen, und im 20. Jahrhundert erweckte der Film sie sogar zum Leben. Der Traum von Ray Bradbury, der zusammen mit seinem Freund, dem Hollywood-Trickspezialisten Ray Harryhausen, den ultimativen Monsterfilm schaffen wollte, ist längst Wirklichkeit geworden. Niemand staunt heute mehr, wenn Dinos lebensecht über die Leinwand galoppieren. Dank ausgefeilter Computeranimationen erscheinen uns Dinosaurier heute so real und präsent wie jede beliebige auf Erden lebende Tierart – mit dem Unterschied, dass viele Kinder zwar die komplizierten lateinischen Namen von mindestens einem halben Dutzend Dinos aufzählen können, aber keine einzige Vogel- oder Pflanzenart des nächstgelegenen Stadtparks.

Doch wie gut kennen wir die Riesenechsen und ihre Welt wirklich? Wie authentisch sind die Wesen, die heute durch die »Jurassic World« stapfen? Nicht nur der Konzeptkünstler Alexis Dworsky, dem wir eine wunderbare und kenntnisreiche Kulturgeschichte der Dinosaurier verdanken, warnt: »Unsere Vorstellung des Dinosauriers ist nicht nur von der Naturwissenschaft bestimmt, sondern auch von der Politik, der Wirtschaft, der Kunst und anderen Lebensbereichen. Die vermeintlich rein naturwissenschaftliche Erkenntnis ist also keineswegs frei von gesellschaftlichen Einflüssen.«

Zweifellos wissen wir heute ungleich mehr über die ausgestorbenen Reptilien als die Menschen im 19. Jahrhundert, vermutlich waren aber auch die Wissenschaftler vor 50 oder 100 Jahren überzeugt davon, »ihre« Dinosaurier zu kennen. In jedem Fall täten wir gut daran, gegenüber den computeranimierten Riesenechsen und ihrer scheinbaren Perfektion ein wenig Skepsis zu bewahren. Der Tyrannosaurus rex hat mittlerweile in vielen Filmen mitgewirkt, sah aber in jedem Streifen anders aus. Welcher ist der richtige, der wahre T. rex?

Erinnern Sie sich an die Szene mit dem Wasserglas? Bestimmt tun Sie das, denn natürlich haben Sie den Film gesehen, Jurassic Park war schließlich bis 1998 der erfolgreichste Blockbuster aller Zeiten (bevor James Cameron mit Titanic neue Maßstäbe setzte), und Sie hätten sonst nicht zu einem Buch über Dinosaurier gegriffen. Im Mittelpunkt dieser Szene stehen neben dem mit Wasser gefüllten Glas zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, die es fassungslos anstarren. Der Held ist aber ein anderer. Er ist nicht zu sehen, wohl aber zu hören und zu spüren. Er erzeugt die dumpfen stampfenden Laute, die seit einer Weile zu hören sind, erst leise, dann lauter, Erschütterungen, die im Wasserglas zu konzentrisch zulaufenden Wellen führen. Die Zuschauer wissen, wer der Verursacher dieser Minibeben ist, einer, auf den alle warten, der aber bisher nur schemenhaft zu sehen war – eine Gänsehautszene, die niemand vergisst, der sie gesehen hat. Weil sie so gut funktioniert, wird sie in diesem und folgenden Filmen in verschiedenen Variationen wiederholt.

Sicher, ein Kinosessel ist nicht der Ort für nüchterne Überlegungen. Versuchen wir es trotzdem. Die Tiere sind zweifellos riesig und wiegen viele Tonnen – müssen sie deshalb mit jedem Schritt ein kleines Beben auslösen? Keineswegs. Elefanten, die größten Landtiere der heutigen Zeit und etwa in der gleichen Gewichtsklasse wie ein Durchschnitts-T.-rex, können, wenn sie wollen, sehr behutsam auftreten.

Nehmen wir einmal an, Sie und ich wären Raubtiere, egal, wie groß, und darauf angewiesen, Beute zu machen, also andere Tiere zu überfallen und zu töten, Tiere, die sich diesem Schicksal in der Regel nicht freiwillig ergeben – würden wir dann bei jedem Schritt derart auf den Boden stampfen, dass man unsere Anwesenheit schon in etlichen Hundert Metern Entfernung spüren könnte, auch ohne Wasserglas? Potenzielle Beutetiere verfügen meist über scharfe Sinne. Rechtzeitige Flucht ist ihre wirksamste Überlebensstrategie. Ich fürchte daher, ein solches Raubtrampeltier hätte beim Beuteerwerb große Schwierigkeiten, im Erdmittelalter genauso wie heute. Oder es müsste von Aas leben, von fleischlicher Nahrung, die nicht mehr weglaufen kann. Dem T. rex, Verursacher der berühmten Turbulenzen im Wasserglas, wurde genau das wiederholt nachgesagt.

Betrachten wir noch eine Eigenschaft, die offenbar typisch für die Riesenechsen ist, denn sie darf in keiner anständigen Dinofilmszene fehlen. Dinosaurier – vor allem ihre fleischfressende Variante, die uns, wenn wir ehrlich sind, am meisten interessiert – können wahnsinnig toll brüllen. Um dem Hauptdarsteller von Jurassic Park eine unverwechselbare Stimme zu geben, haben die Sounddesigner ganze Arbeit geleistet und Lautäußerungen von Krokodilen, Löwen und anderen zusammengemischt. Wir erleben es immer wieder: Kaum ist der Tyrannosaurus oder irgendein anderer Raubdinosaurier erdbebengleich ins Kamerabild getrampelt, fixiert er uns Zuschauer und brüllt, dass einem die Ohren klingen. Alle, vor und auf der Leinwand, sind starr vor Schreck und machen sich auf das Schlimmste gefasst.

Nun, Sie ahnen es schon, auch dieses den Dinosauriern von einfallsreichen Filmregisseuren angedichtete Verhalten ist Unsinn. Denn welches Raubtier verhält sich so? Träfe ein Saurier auf einen Rivalen, würde das Gebrüll vielleicht Sinn ergeben, aber sonst … In weitem Umkreis würden Beutetiere vertrieben und verschreckt werden. Alle wären gewarnt und würden das Weite suchen oder sich verstecken. Raubsaurier, die sich derart geräuschvoll verhielten, wären zum Verhungern verurteilt.

Das sind zwei Beispiele, die zeigen, wie sehr unsere Vorstellung von Hollywood geprägt wurde und nicht von seriöser Wissenschaft. Filmregisseure, die in ihren Werken Dinosaurier auftreten lassen, wollen in der Regel keine Tiere zeigen, sondern Monster und Bestien, für die ein Mensch nur ein kleiner Snack zwischendurch wäre. Um des Effektes willen scheuen sie sich nicht, Arten in einer Art virtuellem Gladiatorengemetzel aufeinandertreffen zu lassen, die in Wirklichkeit durch Jahrmillionen oder riesige Ozeane...