Grundlagen der Psychologie

von: Franz J. Schermer, Arno Drinkmann, Franz J. Schermer

Kohlhammer Verlag, 2017

ISBN: 9783170310681 , 256 Seiten

4. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 22,99 EUR

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Grundlagen der Psychologie


 

 

2          Wahrnehmung, Gedächtnis und Beobachtung


 

 

 

In jedem Moment – den Zustand des Schlafes ausgenommen – erleben wir die vielfältigsten Arten von Wahrnehmungseindrücken. Wir sehen, hören, riechen etc., was um uns herum vor sich geht, und haben so Anteil an der uns umgebenden physikalischen und sozialen Wirklichkeit. Häufig richten wir – zumeist unwillkürlich – unser unmittelbares Verhalten nach diesen Wahrnehmungseindrücken aus. So bleiben wir bei »Rot« an der Verkehrsampel stehen, verlassen nach dem Klingelzeichen den Hörsaal, laufen bei der Wahrnehmung eines verbrannten Geruches in die Küche und nehmen den (überlaufenden) Kochtopf von der Herdplatte.

Die grundlegenden Komponenten der Wahrnehmung bestehen, wie diese Beispiele zeigen, in einem Wahrnehmungsobjekt (Wahrnehmungsgegenstand), einem Wahrnehmungssubjekt (der wahrnehmenden Person) sowie der Repräsentation des Wahrnehmungsgegenstandes in der Person (Wahrnehmungsbild). Dabei kann zwischen Wahrnehmung als Ergebnis, d. h. der Abbildung eines Wahrnehmungsgegenstandes im Bewusstsein des Wahrnehmungssubjekts, und Wahrnehmung als Prozess, d. h. der Art und Weise, wie dieses Abbild zustande kommt, unterschieden werden (vgl. Schönpflug & Schönpflug, 1997, S. 103). Im Alltag gehen wir im allgemeinen davon aus, dass unsere Wahrnehmungseindrücke ein verlässliches Abbild der Wirklichkeit darstellen und vertrauen am meisten dem, was wir mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört haben. Wir werden in diesem Kapitel jedoch sehen, dass dieses Vertrauen nicht immer gerechtfertigt ist. Auch aus unserem Alltag kennen wir ja Situationen, in denen beispielsweise zwei Personen trotz Beachtung des gleichen Wahrnehmungsgegenstandes zu deutlich unterschiedlichen Beurteilungen gelangen. Wahrnehmung ist also nicht als ein passiver Prozess aufzufassen, der zu einem getreuen Abbild der Wirklichkeit führt, sondern Wahrnehmung ist als ein aktiver Vorgang zu verstehen, der durch die wahrnehmende Person mitgestaltet wird (vgl. z. B. Carbon, 2015). Wahrnehmung ist – sobald es um das Erkennen eines Wahrnehmungsobjektes geht – immer mit weiteren kognitiven Funktionen vernetzt. Deshalb behandelt dieses Kapitel ausführlich grundlegende Befunde der Gedächtnispsychologie und präsentiert Modellvorstellungen zur Aufmerksamkeit. Das Wahrnehmungsgeschehen wird nachfolgend unter drei Perspektiven dargestellt werden, welche subjektiv mit der Empfindung, dem Erkennen und dem Handeln einhergehen bzw. kovariieren.

Als datengesteuerter Prozess ist Wahrnehmung durch die Merkmale des Wahrnehmungsgegenstandes und deren Verarbeitung durch die wahrnehmende Person zu verstehen. Der Schwerpunkt der Betrachtung liegt hier auf dem Zusammenhang von Wahrnehmung und Realität. Die Informationsverarbeitung erfolgt dabei auf der Grundlage des anatomisch-physiologischen Systems des Individuums, also seiner körperlichen Voraussetzungen zur Informationsverarbeitung. Daneben spielen bereits auf dieser Ebene genuin psychologische Aspekte eine Rolle und zwar in Form der sog. Organisationsgesetze des Wahrnehmungsgeschehens. Sowohl die körperlichen als auch die psychischen Prozesse dieser Ebene verlaufen weitgehend unbewusst und invariant, d. h., sie gelten für alle Personen in vergleichbarer Form und sind nur in sehr begrenztem Umfang beeinflussbar. Das Ergebnis dieses Prozesses stellt die Empfindung dar, worunter man eine noch nicht mit Bedeutung versehene Wahrnehmung versteht. Da der Erwachsene die ihn umgebende Wirklichkeit automatisch bedeutungsgeladen wahrnimmt, sind für ihn – anders als für Kleinkinder – reine Empfindungen nur noch dort möglich, wo er nicht auf Wissensbestände zurückgreifen kann, z. B. bei der Betrachtung eines vollkommen abstrakt gehaltenen Bildes.

Als konzeptgesteuerter Prozess ist Wahrnehmung mit anderen kognitiven Grundprozessen vernetzt zu sehen. Der Schwerpunkt dieser Betrachtung liegt in dem Erkennen der Bedeutung des Wahrgenommenen. Der Wahrnehmungsgegenstand wird deshalb zu existierenden Wissensbeständen der Person in Beziehung gesetzt, wobei vornehmlich Erwartungen und Gedächtnisinhalte aktiviert werden müssen. Die hier interessierenden Zusammenhänge verlaufen innerhalb der gleichen Person (intraindividuell) vergleichsweise stabil und invariant, unterscheiden sich aber unter Umständen deutlich bei verschiedenen Personen (interindividuell).

Als handlungsgesteuerter Prozess steht Wahrnehmung schließlich im Dienst von Orientierung und Erreichung der vom Individuum angestrebten Ziele. Eine Analyse des Wahrnehmungsgeschehens auf dieser Ebene muss deshalb Phänomene wie Aufmerksamkeit und Motivation berücksichtigen. Bei einer derartigen Betrachtung wird z. B. verständlich, warum zu einem bestimmten Zeitpunkt von einer Person aus der Vielfalt des »Wahrnehmungsangebotes« nur ein bestimmter Teil genutzt wird.

2.1       Datensteuerung: Empfindung


2.1.1     Physiologisch-anatomische Grundlagen


Im Unterschied zu anderen Funktionsbereichen geht es bei der Wahrnehmung immer um Signale aus der physikalischen Wirklichkeit, d. h. der den Menschen umgebenden Welt und seinem eigenen Körper. Um Informationen aus diesen Bereichen aufnehmen – also wahrnehmen – zu können, bedarf es bestimmter körperlicher Voraussetzungen. Die anatomisch-physiologische Grundlage für Wahrnehmungserfahrungen stellen dabei die verschiedenen Sinnessysteme dar. Sie bilden den Rahmen, innerhalb dessen Signale aus der Umwelt und dem Körper aufgenommen und verarbeitet werden können. Die physikalische Welt ist jeweils nur in dem Ausmaß wahrnehmbar, in dem unsere Sinne eine Aufnahme physikalisch-chemischer Reize gestatten. Für die Wahrnehmung einer Vielzahl tatsächlich bestehender Wirklichkeitsaspekte ist das menschliche Sinnessystem nicht ausgerüstet. So können wir z. B. aus dem von 106 bis 10-14 reichenden Gesamtspektrum elektromagnetischer Wellen nur den Bereich von 400–800 Millimikron als Licht bzw. Farbe sehen. Der ebenfalls elektromagnetische Wellenbereich der Infrarot-, Ultraviolett- oder Röntgenstrahlung bleibt demgegenüber für den menschlichen Organismus unsichtbar. Damit eine Wahrnehmung zustande kommt, müssen mehrere Bedingungen erfüllt sein: Es bedarf eines vom Wahrnehmungsobjekt ausgehenden physikalischen Reizes. Der Organismus muss in der Lage sein, die physikalische Energie dieses Reizes aufzunehmen und an das Gehirn weiterzuleiten. Dort muss schließlich die Erregung als Empfindung bewusstgemacht werden können.

Tab. 1: Übersicht zu den Wahrnehmungssystemen des Menschen

Eine Übersicht zu den Sinnessystemen des Menschen gibt Tabelle 1. Wie aus ihr hervorgeht, liegen in den Sinnesorganen die zur Reizaufnahme und Reiztransformation fähigen Rezeptoren. Von ihnen wird die an das jeweilige Sinnesorgan gelangende physikalische Reizenergie (z. B. elektromagnetische Wellen bestimmter Länge als adäquater Reiz für das Sehen) in Signale umgewandelt, die das Nervensystem weiterleiten kann (z. B. elektrochemische Impulse). Unabhängig von der Art der Reizung reagiert jedes Sinnessystem immer mit der nur ihm zukommenden Qualität. So führt jede Form der Reizung des Auges zu einer Sehempfindung. Bei einem für dieses Sinnesorgan »inadäquaten Reiz«, wie z. B. einem starken mechanischen Druck, »sehen« wir deshalb Sternchen.

Je nachdem ob Licht, Druck/Berührung oder chemische Reizenergie aufgenommen und transformiert wird, unterscheidet man zwischen Photo-, Mechano- oder Chemorezeptoren. Je nachdem ob Rezeptoren Informationen aus dem eigenen Körper oder aus der den Körper umgebenden Umwelt verarbeiten, spricht man von Enterozeptoren (synonym: Propriozeptoren) oder Exterozeptoren. Die in den Rezeptoren umgewandelte Energie kommt über spezifische Leitungsbahnen und Umschaltstellen in die verschiedenen Repräsentationsbereiche des Zentralnervensystems. Jedes Sinnessystem besitzt im Gehirn ein bestimmtes Projektionsfeld, an dem die von den Rezeptoren ausgehenden Impulse ankommen.

Mit den Fragen des Zusammenhanges von physikalischer Stimulation der Sinnesorgane und den dadurch bewirkten Empfindungen der wahrnehmenden Person hat sich vor allem die Psychophysik beschäftigt. Als eine ihrer Hauptbefunde gilt der Nachweis von Schwellenwerten, die erreicht werden müssen, um zuverlässig eine Empfindung hervorzurufen (absolute Reizschwelle) oder einen Empfindungsunterschied zu bemerken (Unterschiedsschwelle). Die absolute Schwelle definiert den niedrigsten Betrag an physikalischer Energie, der nötig ist, um eine bestimmte Sinnesempfindung auszulösen (z. B. elektromagnetische Schwingungen von 400 nm Wellenlänge im visuellen System; Tab. 1). Die Unterschiedsschwelle gibt an, wie hoch eine Reizdifferenz sein muss, um zu zwei gerade unterscheidbaren...