Die Schönheiten des Geschlechts - Intersex im Dialog

von: Katinka Schweizer, Fabian Vogler

Campus Verlag, 2018

ISBN: 9783593439075 , 423 Seiten

Format: PDF

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 36,99 EUR

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Die Schönheiten des Geschlechts - Intersex im Dialog


 

Ilka Quindeau VORWORT Nicht nur die Kunst, auch das Recht eilt einmal mehr der Wissenschaft voraus. Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Frage der Intersexualität vom Oktober 2017 wurde der dichotomen Zweigeschlechtlichkeit nun auch höchstrichterlich eine Absage erteilt. Die Gesetzgebung wurde aufgefordert, die bislang auf der Binarität der Geschlechter basierende Rechtsordnung zu verändern und ein drittes Geschlecht aufzunehmen oder aber gänzlich auf das Geschlecht als Merkmal des Personenstands zu verzichten. Um nicht neuen Ungleichheiten und damit einhergehenden, nahezu unvermeidlichen Diskriminierungen Vorschub zu leisten, erscheint letztere Option angemessener. Man darf gespannt sein, wie sich die gesellschaftliche Debatte in dieser Frage entwickelt, und hoffen, dass es in Zukunft Menschen und nicht nur Männer und Frauen gibt, die ihre Identität in scharfer Abgrenzung von Anderen ausbilden. Bereits Freud betont in seiner Vorlesung über die Weiblichkeit aus dem Jahr 1933: 'Männlich oder weiblich ist die erste Unterscheidung, die Sie machen, wenn Sie mit einem anderen menschlichen Wesen zusammentreffen, und Sie sind gewöhnt, diese Unterscheidung mit unbedenklicher Sicherheit zu machen'. Und er führt fort, dass die anatomische Wissenschaft diese Sicherheit nur begrenzt teile, denn es finden sich Teile des männlichen Geschlechts auch am Körper der Frau und umgekehrt: 'als ob das Individuum nicht Mann oder Weib wäre, sondern jedesmal beides, nur von dem einen so viel mehr als von dem anderen'. Doch Freuds elaboriertes Konzept einer konstitutionellen Bisexualität fand keinen Eingang in den Mainstream der psychoanalytischen Theoriebildung, die schon bald von einer eindeutigen Geschlechtsidentität ausging. Auch Jean Laplanche, der französische Psychoanalytiker, hinterfragt diese Eindeutigkeit und weist darauf hin, dass fast alle Fallgeschichten in der Psychotherapie mit der Feststellung des Geschlechts beginnen, etwa 'Es kommt ein 30-jähriger Mann ...' oder 'eine Frau von 25 Jahren klagt über ...'. Erstaunt fragt er: 'Ist das Geschlecht wirklich so konfliktfrei, dass man es gleich zu Anfang unhinterfragt annehmen kann?' (2011: 169). In einer Zeit, in der es bei Facebook über 50 verschiedene Geschlechterkategorien gibt, unter denen man sich registrieren lassen kann, kann man sich dem Staunen von Laplanche nur anschließen. Falls sich überhaupt jemals eindeutig definieren ließ, was männlich oder weiblich, was ein Mann oder eine Frau ist, erscheint dies inzwischen wie die ?Trockenlegung der Zuyderzee?. Doch trotz oder neben all dieser Ambiguität, der Unsicherheiten und Uneindeutigkeiten der Geschlechtsidentität lässt sich gegenwärtig auch eine Renaissance der Geschlechterdifferenz beobachten. Ungezählte Forschungen befassen sich mit Geschlechtsunterschieden und schon für Säuglinge ist die Welt klar in blau und rosa geschieden. Noch vor der Geburt werden Kinder geschlechtsspezifisch als Junge oder Mädchen adressiert, sie wachsen in eine von der Zweigeschlechtlichkeit strukturierte Welt hinein. Im vorliegenden Band wird diese Selbstverständlichkeit auf originelle, kenntnisreiche und überzeugende Weise hinterfragt. Wissenschaftliche Aufsätze finden sich ebenso wie Essays und Erfahrungsberichte. Deutlich wird, wie kreativ die Infragestellung der Heteronormativität sein kann und Zwischenräume produktiv werden. Bereichernd ist dabei insbesondere die Begegnung von Kunst und Wissenschaft, verkörpert in den Herausgeber*innen Katinka Schweizer und Fabian Vogler. Die Skulpturen eröffnen einen spannenden Reflexionsraum, der beispielsweise so divergente Materialien wie Pergament und Bronze verbindet. Die Widersprüche von Hauchzartem, Transparentem und Metallisch-Grobem, Undurchdringlichem werden nicht aufgelöst, sondern in den Plastiken amalgamiert und setzen unterschiedlichste Gedanken und Empfindungen frei. Unter dem Titel Involucrum wird das Pergament zu Formhüllen gestaltet. Sie dienen dem bronzenen Torso Ndujia und Torso Caciocavallo als Accessoire und versehen die Deftigkeit von Wurst und Käse mit einer durchscheinenden Hülle, die zugleich verbirgt und enthüllt. Die Skulpturen adressieren die unmittelbar physisch-reale, materielle Qualität und die Vieldeutigkeit des Geschlechts und verweisen damit auch präzise auf die intergeschlechtliche Körperlichkeit. Allerdings sind geschlechtliche Uneindeutigkeit und Mehrdeutigkeiten nicht auf Intersex-Personen beschränkt, sondern kommen vielleicht nur deutlicher zum Ausdruck. Wie bereits Freud betonte, gibt es in jedem Menschen nicht nur auf der psychischen, sondern auch auf der unmittelbar körperlichen Ebene sowohl männliche als auch weibliche Anteile; auch das körperliche Geschlecht ist konstruiert. Nicht zuletzt am Phänomen der Intersexualität lässt sich erkennen, dass das Geschlecht nicht auf die Genitalien allein reduziert werden kann, sondern hormonelle, genetische, anatomische und morphologische Faktoren, um nur einige zu nennen, ebenso mit einbezogen werden müssen. Die Bestimmung des Geschlechts ist zudem nicht allein dem Augenschein zu überlassen, sondern verändert sich mit zunehmenden technischen und diagnostischen Möglichkeiten. Die Einteilung von zwei Kategorien greift dabei zu kurz und eine dritte Sammelkategorie, der all das zugeordnet wird, was nicht eindeutig männlich oder weiblich erscheint, könnte sich ebenfalls als zu reduktionistisch erweisen. Vielleicht wäre es angemessener, das Geschlecht nicht länger als Kern der Identität eines Menschen aufzufassen, sondern mit der Metapher einer Hülle zu beschreiben, in der die verschiedensten bewussten und unbewussten Aspekte von Männlichkeit und Weiblichkeit auf den unterschiedlichen somatischen, psychischen und sozialen Dimensionen in je individuellen Mischungsverhältnissen aufbewahrt sind. So gibt es in unserer Kultur, welche die Geschlechter bisher noch dichotom konstruiert, zwar nur zwei verschiedene Behälter oder Hüllen, diese können aber durchaus Gleiches oder zumindest Ähnliches enthalten. Die Metapher der Hülle macht zudem deutlich, dass es sich bei der Geschlechtsidentität nicht um etwas Einheitliches, Monolithisches handelt, sondern dass diese Identität sich aus vielen einzelnen, weiblichen und männlichen, teilweise auch widersprüchlichen und unvereinbaren Aspekten zusammensetzt. Im Unterschied zum Kern richtet die Metapher der Hülle den Blick von der sichtbaren Oberfläche aus auf die vielfältigen, dahinterliegenden Aspekte. Während die Hülle eine zentrale gesellschaftliche Ordnungsfunktion erfüllt und sich ihre binäre Kodierung für moderne Gesellschaften als unverzichtbar darstellt, scheint mir aus psychoanalytischer Perspektive der Inhalt des Behältnisses und dessen Vielfalt weit interessanter. Daher möchte ich dafür plädieren, dass im Anschluss an die genannte freudsche Differenzierung an die Stelle der kulturellen Dichotomie die Diversifizierung der Geschlechter tritt. Die Beiträge in diesem Band bieten eine Fülle von Anregungen in diese Richtung, die sowohl Erfahrungsexpert*innen in der Selbstverständigung unterstützen als auch die Theoriebildung sowie die therapeutische Praxis voranbringen. Es ist den Herausgeber*innen für ihr innovatives und kreatives Vorgehen sehr zu danken, und dem Buch sind viele Leser*innen zu wünschen. Frankfurt am Main, Januar 2018 Ilka Quindeau Katharina Fegebank GELEITWORT Intersex im Dialog Intergeschlechtlichkeit ist ein nach wie vor unbekanntes Phänomen. In unserem Denken sind meist nur Mann und Frau fest verwurzelt, und wir sind irritiert, wenn wir auf Menschen treffen, die sich nicht eindeutig einer dieser beiden Kategorien zuordnen lassen. Lange Zeit wurde das Thema rein medizinisch behandelt und geheim gehalten. Die geringe Sichtbarkeit intergeschlechtlicher Menschen und das geringe Wissen über die Thematik führen häufig zu Unsicherheit, zu Widerständen und zu Ausgrenzung. Der Schutz gegen Diskriminierung und das Recht auf Anerkennung der eigenen Geschlechtsidentität sind Menschenrechte. Das Bundesverfassungsgericht hat am 10. Oktober 2017 entschieden, dass auch Menschen, die weder männlich noch weiblich sind, die Möglichkeit haben müssen, ihr Geschlecht positiv in das Geburtenregister einzutragen. Es hat den Gesetzgeber aufgefordert, bis zum 31. Dezember 2018 eine entsprechende Neuregelung zu schaffen. Der Weg für die rechtliche Anerkennung intersexueller bzw. intergeschlechtlicher Menschen ist jetzt frei, und es ist wichtig, dass auch die gesellschaftliche Anerkennung folgt, damit jeder Mensch ein selbstbestimmtes Leben führen kann. Mein Ziel ist eine Gesellschaft, in der Unterschiede und Individualität als Bereicherung verstanden werden. Eine Welt, in der alle Menschen, so verschieden sie sind, die gleichen Rechte und Chancen haben. Es ist wichtig, alle gesellschaftlichen Bereiche für Intergeschlechtlichkeit zu sensibilisieren. Das Bildungswesen, der Arbeitsmarkt oder der Sport können zum Beispiel viel dazu beitragen, dass sich die Selbstverständlichkeit und Akzeptanz geschlechtlicher Vielfalt in den Köpfen und Herzen der Menschen verankert. Der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg setzt sich seit vielen Jahren engagiert für die Rechte und die Gleichstellung von Lesben, Schwulen, Bi-, Trans- und Intersexuellen (LSBTI) ein. So wurde Anfang 2017 ein Aktionsplan zur Akzeptanz geschlechtlicher und sexueller Vielfalt beschlossen. Sichtbarkeit, Information und Aufklärung sind der Schlüssel für ein wertschätzendes Miteinander in einer offenen und vielfältigen Gesellschaft. Das Projekt Die Schönheiten des Geschlechts. Intersex im Dialog führt Erfahrungs- und Fachexpertisen zum Thema Intergeschlechtlichkeit zusammen. Insbesondere auch die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema vermag Grenzen zu überwinden und Menschen unterschiedlicher Art einander näher und in das gemeinsame Gespräch zu bringen. Das vorliegende Buch trägt damit in erheblichem Maße zur Aufklärung, Entstigmatisierung und Wertschätzung von körpergeschlechtlichen Mehrdeutigkeiten in der Gesellschaft bei. Dafür danke ich als Gleichstellungssenatorin und Zweite Bürgermeisterin der Freien und Hansestadt Hamburg allen Beteiligten, die mit ihrer Expertise und ihrem unermüdlichen Engagement zur Entstehung dieses Buches beigetragen haben. Besonders bedanken möchte ich mich auch bei all den Menschen, die auf Missstände aufmerksam machen und tagtäglich dazu beitragen, für die Vielfalt der Geschlechter zu sensibilisieren. Hamburg, Januar 2018 Katharina Fegebank Zweite Bürgermeisterin der Freien und Hansestadt Hamburg