Missing - Niemand sagt die ganze Wahrheit - Thriller

von: Claire Douglas

Penguin Verlag, 2018

ISBN: 9783641213336 , 464 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Missing - Niemand sagt die ganze Wahrheit - Thriller


 

1

Frankie

Februar 2016

An einem tristen Nachmittag, kurz nach dem Mittagessen, erfahre ich endlich, dass du tot bist.

Mein Handy vibriert und zeigt eine unbekannte Nummer an. Abgelenkt von dem Berg Papierkram, in den ich vertieft bin, nehme ich den Anruf an.

»Ist dort Francesca Howe?« Eine männliche Stimme brennt ein Loch in meine Erinnerung. Ihr warmer, ländlicher Tonfall gehört nicht in mein Büro im obersten Geschoss des Hotels meiner Eltern mit seiner minimalistischen Einrichtung und der Aussicht auf den Gherkin-Wolkenkratzer mit seiner charakteristischen gurkenartigen Form, die ihm seinen Namen verliehen hat. Sie gehört in die Vergangenheit – zu unserer Heimatstadt in Somerset, wo Möwen in der Morgendämmerung kreischen, Wellen gegen den Pier branden und die Luft durchdrungen ist vom Geruch nach frittiertem Fisch und Pommes frites.

»Daniel?«, bringe ich krächzend hervor und klammere mich mit der freien Hand an den Rand des Schreibtischs, wie um mich in diesem Raum zu verankern, in der Gegenwart, damit ich nicht kopfüber in die Vergangenheit zurückgeschleudert werde.

Es kann nur einen Grund geben, warum er mich jetzt, nach all diesen Jahren, anruft.

Es bedeutet, dass es Neuigkeiten gibt. Über dich.

»Es ist lange her«, sagt er unbeholfen.

Wie hat er meine Nummer herausgefunden? Meine Beine sind schwach wie die eines neugeborenen Fohlens, als ich aufstehe und zu dem regenbespritzten Fenster schwanke, das den Blick über die Londoner City eröffnet.

Ich kann spüren, wie die Luft in meine Lungen dringt, ich höre meinen abgehackten Atem.

»Geht es um Sophie?«

»Ja. Man hat sie gefunden.«

Mein Mund füllt sich mit Speichel. »Ist … ist sie am Leben?«

Kurz herrscht Stille. »Nein. Sie haben etwas gefunden …«

Seine Stimme bricht, und ich versuche, mir vorzustellen, wie er jetzt aussieht, dein älterer Bruder. Damals war er groß und dünn, immer schwarz gekleidet, mit ebenso schwarzem Haar und einem länglichen, bleichen Gesicht. Ein ungesunder Anblick, wie ein Vampir in einem Teenagerfilm. Ich kann hören, wie er darum ringt, die Fassung zu bewahren. Ich denke nicht, dass ich ihn jemals habe weinen sehen – nicht ganz zu Anfang, als du vermisst gemeldet wurdest; nicht einmal, als die Polizei entschied, die Suche aufzugeben, nachdem sie mehrere Tage das Unterholz durchforstet und mit Booten das Meer abgesucht hatten; und auch nicht, als die Öffentlichkeit das Interesse verlor, nachdem einer deiner dunkelblauen Adidas-Turnschuhe am Rand des verlassenen Piers gefunden wurde und man zu dem Schluss kam, dass du in den Bristolkanal gefallen und von den Gezeiten fortgezogen worden sein musstest. Als alle außer uns anfingen, dich allmählich zu vergessen. Dich, Sophie Rose Collier, das manchmal etwas schüchterne, meistens lustige einundzwanzigjährige Mädchen aus Oldcliffe-on-Sea, das eines Nachts aus einem Klub verschwand. Das Mädchen, das bei den alten Werbespots der British Telecommunication im Fernsehen weinen musste, das auf Jarvis Cocker stand, das keine Kekspackung öffnen konnte, ohne sie alle auf einmal zu verschlingen.

Daniel räuspert sich. »Man hat sterbliche Überreste gefunden. Sie wurden in Brean an Land gespült. Ein Teil davon …« Er hält inne. »Nun, es scheint zu passen. Sie ist es, Frankie, ich weiß einfach, dass sie es ist.« Es fühlt sich seltsam an, ihn mich Frankie nennen zu hören. Du hast mich auch immer so genannt. Ich bin seit Jahren nicht mehr »Frankie«, für niemanden.

Ich gebe mir Mühe, mir nicht vorzustellen, welchen Teil von dir sie unter den Überresten am Strand von Brean Sands gefunden haben. Ich möchte nicht auf diese Weise an dich denken.

Du bist tot. Es ist eine Tatsache. Du bist nicht mehr länger nur verschollen. Ich kann mir nicht länger etwas vormachen und mich dem Glauben hingeben, dass du dein Gedächtnis verloren hast und es dir irgendwo anders gut gehen lässt, vielleicht in Australien oder, eher noch, in Thailand. Wir wollten immer die Welt sehen. Erinnerst du dich an unsere Pläne, mit dem Rucksack durch Südostasien zu reisen? Du hast die kalten Wintermonate immer gehasst. Wir konnten stundenlang davon träumen, diesem beißenden Wind zu entkommen, der ständig durch die Straßen der Stadt pfiff, an den kahlen Ästen der Bäume rüttelte und Sand auf unsere Wege schleuderte, sodass er zwischen unseren Zähnen knirschte. Außerhalb der Saison – ohne die Touristen, die das dringend ersehnte Leben in die Stadt brachten – war Oldcliffe grau und deprimierend.

Ich lockere den Kragen meiner Bluse. Ich bekomme keine Luft. Durch den Spalt meiner halb geöffneten Bürotür kann ich Nell sehen, die auf die Tastatur ihres Computers einhackt, das rote Haar zu einem komplizierten Knoten aufgetürmt. Ich gehe zu meinem Schreibtisch zurück und lasse mich auf den Drehstuhl fallen, das Telefon an meinem Ohr fühlt sich heiß an. »Es tut mir so leid«, sage ich, fast wie zu mir selbst.

»Schon okay, Frankie.« Ich kann das Pfeifen des Windes im Hintergrund hören, das Geräusch von Reifen, die durch Pfützen rauschen, das undeutliche Geplapper von Passanten. »Im Grunde haben wir es doch alle erwartet. Uns innerlich darauf vorbereitet.« Aus welcher Stadt oder aus welchem Ort ruft er mich an? Wohin hat es deinen großen Bruder verschlagen? »Ihre sterblichen Überreste müssen offiziell identifiziert werden. Die Sache gestaltet sich schwierig, weil es so lange …«, er atmet hörbar ein, »… weil sie so lange im Wasser war. Aber sie hoffen, dass sie bis Mitte nächster Woche so weit sind.«

»Weiß die Polizei …?« Ich schlucke den bitteren Geschmack in meinem Hals hinunter. »Können sie schon sagen, wie sie gestorben ist?«

»Frankie, zum jetzigen Zeitpunkt ist es noch nicht möglich, irgendwas zu sagen, und da es bisher keine Leiche gab, gab es auch keine Untersuchung. Alle gingen einfach davon aus, dass sie betrunken war und ins Meer gefallen ist, dass sie nichts auf diesem Pier zu suchen hatte. Du kennst ja den Stand der Dinge.« Ärger schwingt in seiner Stimme mit. »Aber ich glaube das nicht. Ich glaube, dass irgendjemand mehr über jene Nacht weiß, Frankie. Ich glaube, es gibt jemanden, der weiß, was meiner Schwester zugestoßen ist.«

Ich verspüre den nervösen Drang, an meinen Haaren zu ziehen. Doch stattdessen schiebe ich einen Briefbeschwerer auf meinem Schreibtisch hin und her, rücke ein gerahmtes Foto zurecht – ich auf einem Pony, neben mir mein stolzer Vater mit einem breiten, einnehmenden Grinsen im Gesicht. Für ihn war ich immer nur Francesca. »Wie kommst du darauf?«

»In der Nacht, als sie verschwand, hatte sie Angst. Sie sagte, jemand habe es auf sie abgesehen.«

Das Blut rauscht in meinen Ohren. Meine Finger krallen sich um das Handy. »Was? Das hast du nie zuvor erwähnt.«

»Ich habe es der Polizei damals erzählt, aber sie haben es nicht weiter beachtet. Sie wirkte nervös, paranoid. Ich nahm an, dass sie einen schlechten Trip erwischt hatte. Du weißt ja, wie viele Drogen zu der Zeit im Umlauf waren. Aber Sophie hätte niemals Drogen genommen. Ich weiß das. Tief in mir drin wusste ich das schon immer. Sie war ein braves, gutes Mädchen. Sie war die Beste.« Seine Stimme versagt.

Er weiß nichts von dem einen Mal, als wir auf dem Ashton Court Festival beide Speed genommen haben, stimmt’s, Soph? Du hast mir das Versprechen abgenommen, es ihm nicht zu erzählen, als wir dasaßen, uns das Konzert von Dodgy anhörten, wie ein Wasserfall vor uns hin quasselten und mit jeder Minute paranoider wurden.

Ich schließe die Augen und rufe mir jene letzte Nacht in Erinnerung. Du standest in der Ecke vom Basement und sahst zu, wie alle anderen zu »Born Slippy« auf und ab hüpften. Das Datum hat sich für immer in mein Gedächtnis eingeprägt: Samstag, 6. September 1997. Ich befand mich auf der anderen Seite der Tanzfläche und unterhielt mich mit dem DJ, aber als ich mich wieder umdrehte und durch die Rauchwolke blickte, die beständig in der Luft hing, warst du nicht mehr da, spurlos in der Menschenmenge verschwunden. Du hattest nicht verängstigt gewirkt, auch nicht sonderlich besorgt. Wenn es ein Problem gegeben hätte, hättest du dich mir anvertraut. Das hättest du doch, oder nicht?

Ich war deine beste Freundin. Wir haben einander alles erzählt.

»Wirst du mir helfen, Frankie?«, fragt Daniel und klingt plötzlich drängend. »Ich muss herausfinden, was ihr zugestoßen ist. Jemand weiß mehr, als er vorgibt. Der Pier …«

»Der Pier war marode, gefährlich, für die Öffentlichkeit gesperrt …«

»Ich weiß, aber das hat keinen von uns davon abgehalten, ihn zu betreten, oder? Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie alleine hingegangen ist. Es muss in der Nacht jemand mit ihr unterwegs gewesen sein …«

Ich kann die Verzweiflung in seiner Stimme hören, und es tut mir so leid für ihn. Es war schwierig für mich, im Lauf der Jahre nicht immer wieder diese Nacht zu durchleben. Aber für deinen Bruder muss es bisweilen unerträglich gewesen sein. All diese unbeantworteten Fragen, die in seinem Kopf herumschwirrten, ihn nachts wach hielten und es ihm nicht erlaubten, darüber hinwegzukommen, sein Leben zu leben.

»Die Leute wollen nicht mit mir darüber reden. Aber du, Franks … du könntest sie zum Reden bringen.«

Natürlich wird er das für dich tun. Ganz der beschützende große Bruder. Ich würde es nicht anders von ihm erwarten.

»Ich weiß nicht. Ich war nicht mehr dort, seit wir damals nach London gezogen sind …« Allein der Gedanke erfüllt mich mit Grauen. Meine ganze Jugend sehnte ich...