Das geheime Leben der Seele - Alles über unser unsichtbares Organ

von: Sabine Wery von Limont

Mosaik bei Goldmann, 2018

ISBN: 9783641215385 , 352 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Das geheime Leben der Seele - Alles über unser unsichtbares Organ


 

Einleitung Die Entdeckung der Seele

Vor etwas mehr als hundert Jahren breitete sich in Europa eine rätselhafte Epidemie aus. Weil die Erkrankten schwach, blass und mager waren, nannte man diese Krankheit Schwindsucht. Sie suchte vor allem Menschen in größeren Städten heim, und obwohl sie häufig tödlich endete, wurde sie als romantisch betrachtet. In der Literatur und der Gesellschaft galt sie als Modekrankheit zarter und sensibler Charaktere. Es gab kein Mittel, um sie zu heilen, denn ihre Ursache war mysteriös. Im Verdacht standen Vererbung, ungünstige Ausdünstungen aus dem Boden und der allgemeine Verfall der Sitten.

Dann wurden 1882 unter dem Mikroskop von Robert Koch die wahren Übeltäter sichtbar: Mycobacterium tuberculosis, stäbchenförmige Bakterien, zwei bis fünf Mikrometer groß – die Erreger der Tuberkulose. Schlagartig war klar: Die Krankheit war gar nicht so mysteriös, sie war infektiös. Doch durch einfache Hygienemaßnahmen hatte man sie bald im Griff. Die Erkenntnis über ihre wahre Ursache hatte die Sicht auf die Krankheit vollkommen verändert und ihr den romantischen Anklang genommen.

Oft glauben wir Dinge erst, wenn sie sichtbar werden. So wie Bakterien unter dem Mikroskop oder ein Baby im Bauch durch Ultraschall. Wenn ihre Existenz bewiesen ist, werden sie für uns real. Und meist nehmen wir sie dann erst richtig ernst.

Nur wenige Jahre nach der Entdeckung der Tuberkuloseerreger hoffte ein junger Arzt aus Wien auf einen ähnlichen Durchbruch. Er wollte sichtbar machen, was ihm für eine andere Krankheitswelle ursächlich erschien: die Seele. Sie galt als mystisch und transzendent; im besten Falle als unsterblich. Solange keine Klarheit herrschte, war vieles möglich. Die Seele schien in unserem Körper zu wohnen, aber kein echter Teil von ihm zu sein, eher ein eigenes scheues Wesen ohne Form und Gestalt. Der junge Wiener aber dachte irdischer. Er war sich sicher, dass unser Verhalten, Denken und Fühlen nicht losgelöst von uns stattfinden würde, sondern zu uns gehörte wie ein realer Teil unseres Gehirns. Für ihn war klar: Die Seele ist ein Organ. Dass sie unsichtbar war, lag seiner Meinung nach nur daran, dass niemand sie bis dahin erkenntlich gemacht hatte. Das wollte er jetzt tun.

Er sezierte Gehirne und skizzierte Nervenfasern. Er stellte fest, dass Gehirnzellen untereinander offenbar zu Netzen verknüpft waren. Er vermutete, dass Emotionen und psychische Prozesse in diesen Netzwerken stattfinden. Und er wollte erkunden, wie das mit der Seele zusammenhing. Warum empfinden wir Trauer, Freude, Wut oder seelischen Schmerz? Was passiert, wenn wir uns inspiriert oder glücklich fühlen? Warum entwickeln wir Zwänge, Persönlichkeitsstörungen oder Phobien – und wie kann man sie heilen?

Der Wiener war einer Epidemie auf der Spur, die noch immer anhält. Er war überzeugt: Wenn es das Gehirn ist, das bestimmte seelische Störungen hervorbringt, dann müsse man das Gehirn medizinisch behandeln, um diese Störungen zu lindern. Er verbrachte Jahre mit Untersuchungen und Erhebungen, aber am Ende konnte er nichts beweisen. Die Seele blieb ein theoretisches Konstrukt, nichts Reales. Sie blieb ein geheimnisvolles unsichtbares Wesen.

Der Mann schlug daraufhin einen anderen Weg ein, um der Seele auf die Spur zu kommen. Er entwickelte eine Wissenschaft, die zugleich eine Behandlungsform war – und wurde damit weltberühmt. Sein Name war: Sigmund Freud, Begründer der Psychoanalyse. Dass Freud einst als Neurobiologe angefangen hatte, ist heute kaum bekannt. Er selbst hatte es aufgegeben, auf den Zeitpunkt zu warten, an dem seine ursprüngliche Theorie bestätigt werden konnte.

Dieser Zeitpunkt ist erst heute gekommen. Noch nie wussten Wissenschaftler mehr über das Gehirn als heute, und je mehr sie erfahren, desto deutlicher wird, wie nah Freud an der Wahrheit war, obwohl er bloß an der Oberfläche kratzte.

Die Seele verbirgt sich in Strukturen, die damals kein Mikroskop sichtbar machen konnte. Erst heute kann ein Rasterelektronenmikroskop mit hunderttausendfacher Vergrößerung in das Gewebe zoomen und die Feinmechanik unserer Seele sichtbar machen. Mit der funktionellen Magnetresonanztomographie, die es erst seit einigen Jahren gibt, kann man etwas erforschen, wovon Freud nur hätte träumen können: Wir können dem Kopf bei der Arbeit zusehen. Beim Wahrnehmen, Denken und Fühlen. Und was man sieht, sprengt jede Vorstellungskraft.

Noch nie wussten wir so viel über unser Gehirn wie heute

Was Wissenschaftler noch in den 1980er Jahren für eine durchschaubare Reiz-Reaktions-Maschine hielten, bestaunen sie heute als den komplexesten lebenden Organismus im uns bekannten Universum. Er entsteht aus einem Zellhaufen im Mutterleib. In der fünften Schwangerschaftswoche haben wir noch nicht einmal richtige Arme, aber wir haben ein Gehirn, in dem Unglaubliches geschieht: Pro Minute bilden sich rund 250 000 neue Nervenzellen. Winzige Kraftwerke, die später 16-mal so viel Energie verbrauchen wie eine Muskelzelle. Pro Sekunde entstehen 1,8 Millionen neue Verbindungen zwischen ihnen. Man muss sie dazu nicht einmal mit Mozart beschallen. Das passiert von ganz alleine.

Wenn wir auf die Welt kommen, warten etwa 100 Milliarden Neuronen auf Input von außen. Jeder Ton, jede Berührung, jede Erfahrung erweckt sie zum Leben. Sie verknüpfen sich und bilden Schaltkreise. Ein gigantisches Netzwerk an Möglichkeiten wartet darauf, zu einer einzigartigen Persönlichkeit geformt zu werden. Würde man alle Nervenzellen eines Gehirns zu einer Schnur verbinden, man könnte sie 15-mal um den Äquator wickeln. Eine lange Leitung zu haben ist also keine Beleidigung. Es ist eine ziemlich beeindruckende Tatsache.

In der Summe dieses gigantischen Netzwerks entspringt weit mehr als unser Denken und unsere Motorik. Hier entstehen unsere Gefühle, unsere Ziele, Wünsche und unsere Hoffnungen – hier wird das entwickelt, was Freud gesucht hatte: unsere Seele. Ganz gleich, ob wir Angst vor Spinnen haben oder Hamster niedlich finden; warum wir essen, auch wenn wir keinen Hunger haben, oder die Finger nicht vom Smartphone lassen können – in unserem Gehirn werden die Grundlagen für all das gelegt, was uns ausmacht.

Manchmal verlieren die Dinge ihren Schrecken, wenn man sie genauer kennt. Manchmal verlieren sie jedoch auch ihren Zauber. Man könnte enttäuscht darüber sein, dass die Seele offensichtlich bloß den grauen Windungen unseres Gehirns entspringt und mit den medizinischen Tests technisch erfassbar geworden ist. Einige sagen, die Seele habe das Göttliche verloren, seit wir Psychologen ihr mit wissenschaftlichen Tests und Skalen zu Leibe rücken, um ihre Intelligenz, Lernfähigkeit und ihre Reaktionen zu testen. Seither ist sie bloß die »Psyche«, eine Funktionseinheit des zentralen Nervensystems. Aber weniger mystisch macht sie das nicht. Im Gegenteil. Die Seele wird nicht sachlicher, je mehr man über sie erfährt. Sie wird sogar spannender, denn sie ist eine materielle Substanz, die immaterielles Denken und Fühlen erzeugt. Wir können das Gehirn, von dessen Funktionen sie abhängt, zwar beobachten, aber wir werden trotzdem nie etwas darüber erfahren, was die untersuchte Person gerade wirklich denkt oder fühlt. Wir können ihre Neurochemie ergründen und erfahren doch nicht alles über ein so mächtiges Gefühl wie die Liebe oder was wir genau empfinden, wenn wir der Großen Symphonie in C-Dur von Schubert lauschen.

Die Seele ist mehr als der Output von Hirnprozessen, und sie ist mehr als das wissenschaftliche Konstrukt der Psyche. Sie ist gekoppelt an das Gehirn und macht doch, was sie will. Sie lässt sich logisch ergründen und bleibt doch ein großes Rätsel. Sie ist organisch – und gleichzeitig noch immer mystisch. Wir wissen heute so viel mehr über sie und können doch noch nicht alles erklären. Sie hat Geheimnisse und ist voll unerforschten Lebens, Seelenlebens. Sie ist wachsam und rettet uns ständig das Leben, sie tröstet und verteidigt uns. Sie steckt hinter fast jeder Entscheidung, die wir treffen, denn sie reagiert viel schneller, als wir denken können. Sie produziert die wirksamsten Drogen der Welt, sie organisiert unser Gedächtnis und verwaltet unsere Erinnerungen. Sie ist wunder- und wandelbar. Sie ist ein Teil von uns, ein echtes Organ. So wie Freud es sich vorgestellt hatte.

Wir sehen heute nicht nur, wie die Seele funktioniert. Wir sehen auch, was sie beschädigt. Eine Leber wird krank, wenn wir ihr zu viele Gifte zumuten. Unsere Seele wird krank durch schlechte Erfahrung: Versagen, Enttäuschung und Ablehnung sind wie Gift für sie. Jede Erfahrung verändert unser Gehirn, denn sie führt dazu, dass Zellen degenerieren oder neu entstehen. Anhaltende schlechte Erfahrungen können ein Gehirn regelrecht umformen.

Aber nicht nur das Gehirn, denn die Seele ist auch mit anderen Teilen unseres Organismus verbunden. Mit dem Immunsystem oder dem Herzen über eine direkte Achse. Zum Beispiel ist mittlerweile hinlänglich erforscht, dass Wut, Ärger, Trauer und Verzweiflung über diese Verbindung unmittelbar auf unser Herz einwirken. Depression und Ängste erhöhen das Risiko für Herzleiden ähnlich stark wie Rauchen oder eine ungesunde Ernährung. Auch wer sozial isoliert ist und die Unterstützung von vertrauten Menschen vermisst, stirbt Studien zufolge eher an den Folgen eines schon bestehenden Herzleidens. Seit langer Zeit versucht man, Herzen am Herzen zu heilen, sehr oft ohne Erfolg. Heute geht man dazu über, die Seele miteinzubeziehen – mit erstaunlichen Ergebnissen.

Wir haben gelernt, unseren Körper durch Prophylaxe, Vorsorge und...