Das Kind auf der Liste - Die Geschichte von Willy Blum und seiner Familie

von: Annette Leo

Aufbau Verlag, 2018

ISBN: 9783841215413 , 176 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 8,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Das Kind auf der Liste - Die Geschichte von Willy Blum und seiner Familie


 

Einleitung
Die Nummer 200 auf der Liste


Am Anfang gab es nur seinen Namen auf einer Transportliste nach Auschwitz, genauer gesagt, auf einem Blatt, das dieser Liste nachträglich hinzugefügt worden war. Liste und Zusatzblatt wurden am 25. September 1944 in der Häftlingsschreibstube des KZ Buchenwald getippt. Willy Blum, die Nummer 200 auf dem Zusatzblatt, so ist dort zu lesen, rückte an die Stelle der Nummer 200 auf der Liste: Stefan Jerzy Zweig. Als dieses Dokument in den 1990er Jahren der Öffentlichkeit bekannt wurde, löste es Debatten in den Medien aus und war sogar Anlass für eine gerichtliche Auseinandersetzung. Strittig waren nicht die Geschehnisse im September 1944, sondern ihre Interpretation. Der mittlerweile über siebzigjährige Stefan Jerzy Zweig, dessen Name damals gestrichen worden war, wollte der Gedenkstätte Buchenwald untersagen, den Vorgang, in dessen Verlauf Willy Blums Name an seiner Stelle auf die Transportliste gesetzt worden war, als einen »Opfertausch« zu bezeichnen. Es ist nur allzu verständlich, dass er damit die quälende Vorstellung abzuwehren versuchte, das eigene Leben dem Tod eines anderen zu verdanken. Die Listen mit den Nummern und Namen suggerierten eine direkte, persönliche Beziehung zwischen ihm und diesem Willy Blum, zwischen seiner Rettung und dessen Deportation nach Auschwitz.

Der Austausch von Namen auf einer Liste war keine ungewöhnliche Praxis im KZ-Alltag. Es handelte sich um eine der wenigen Einflussmöglichkeiten von Funktionshäftlingen, wenn sie einen Kameraden etwa vor einer Verschickung in ein gefährliches Arbeitskommando bewahren oder ihn – umgekehrt – auf eine Liste für den Transport in ein anderes Lager setzen wollten, um ihn vor einer aktuellen Bedrohung in Sicherheit zu bringen. Doch ihre Rettungsmöglichkeiten reichten nicht weit. In jedem Fall mussten die Zahlen am Ende stimmen, musste für den einen Namen der eines anderen auf die Liste gesetzt bzw. gestrichen werden.

Stefan Jerzy Zweig, der im Alter von drei Jahren zusammen mit seinem Vater Zacharias Zweig mit einem Transport aus dem Lager Skarżysko-Kamienna nach Buchenwald kam, war keineswegs das einzige Kind, das das KZ Buchenwald überlebte, aber keines wurde später so berühmt wie er. Sein Schicksal bildete die Vorlage für den millionenfach gelesenen Roman von Bruno Apitz »Nackt unter Wölfen«. Darin wird die Geschichte von heldenhaften kommunistischen Kämpfern erzählt, die einen kleinen Jungen im Lager verstecken und damit der Mitmenschlichkeit auch unter unmenschlichsten Bedingungen zum Sieg verhelfen. Der überwältigende Erfolg des Romans beruhte nicht zuletzt auf der auch vom Autor unterstützten Vorstellung, es handele es sich hier um eine – literarisch zwar überhöhte, aber eben doch – authentische Geschichte. Das ging so weit, dass in der historischen Erzählung über das KZ Buchenwald die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verschwammen, dass der Ort der Gedenkstätte vor allem als Folie für die Romanhandlung diente und eine Erforschung der Geschehnisse auf der Grundlage der überlieferten Dokumente lange Zeit unterblieb. Das Kind von Buchenwald wurde in der DDR zum Symbol für das moralische Engagement des kommunistischen Widerstands. Zusammen mit dem Mythos von der Selbstbefreiung des Lagers stand die Geschichte seiner Rettung im Zentrum der übermittelten antifaschistischen Botschaft.

Die reale Geschichte des kleinen Stefan Jerzy Zweig verlief anders, widerspruchsvoller, jedoch keineswegs weniger dramatisch als die der Romanfigur. Deutsche politische Häftlinge, die in der Lagerverwaltung Funktionen innehatten, stellten den Jungen unmittelbar nach der Ankunft des Transports aus Skarżysko-Kamienna am 5. August 1944 in Buchenwald unter ihren Schutz. Sie nahmen ihn in ihrem Block auf und ließen ihn an ihren – im Vergleich zur Mehrheit der Häftlinge im Lager – privilegierten Lebensbedingungen teilhaben. Auf seiner eigens für ihn geschneiderten Häftlingsjacke trug Stefan Jerzy Zweig den roten Winkel, auf den ein P (für Pole) aufgedruckt war, darüber befand sich ein gelbes Dreieck, das ihn als Juden kennzeichnete.

Zwei Tage zuvor, am 3. August 1944, waren der sechzehnjährige Willy Blum zusammen mit seinem neunjährigen Bruder Rudolf und seinem Vater Aloys ebenfalls als Häftlinge in Buchenwald registriert worden. Sie kamen mit einem Transport von mehr als 900 Männern, Jugendlichen und Kindern aus dem sogenannten »Zigeunerlager« in Auschwitz-Birkenau. Nach ihrer Ankunft mussten sie zunächst im »Kleinen Lager« hausen. Nachdem Aloys Blum wenige Tage später zusammen mit anderen Männern aus ihrem Transport in den Stollen von Mittelbau Dora abkommandiert worden war, kamen die beiden Brüder ins Hauptlager in den Block 47. Als »Zigeuner« mussten sie den schwarzen Winkel tragen.

In Buchenwald herrschten zu dieser Zeit Überfüllung und Chaos. In rascher Folge trafen Evakuierungszüge mit Gefangenen aus den Lagern des Ostens ein. Sie wurden in das »Kleine Lager« gepfercht, weiter in Außen- und Nebenlager kommandiert oder gar zurück nach Auschwitz geschickt. Die geringsten Überlebenschancen hatten die Häftlinge auf der untersten Stufe der von der SS etablierten Hierarchie: die Juden, die Sinti und Roma, und am gefährdetsten unter ihnen waren die Kinder.

Der Unterschied zwischen der Situation von Stefan Jerzy Zweig und der Lage der völlig auf sich allein gestellten Blum-Brüder im Block 47 beschreibt die großen sozialen Kontraste, die innerhalb der Häftlingsgesellschaft herrschten. Aber auch der kleine Stefan geriet in große Gefahr, als in der letzten Septemberwoche 1944 Offiziere der Lager-SS dafür sorgten, dass sein Name auf eine Transportliste nach Auschwitz gesetzt wurde. Erst in allerletzter Minute nach einer verzweifelten Intervention eines seiner »Lagerväter«, des Kapos der Effektenkammer Willi Bleicher, konnte der Junge in den Krankenblock gebracht und vor dem Transport bewahrt werden. Um Stefan Jerzy Zweigs Geschichte jedoch wird es in dem folgenden Text nicht gehen – nicht darum, dass er danach nicht in den politischen Block zurückkehren konnte, auch nicht darum, dass die Gestapo seine Beschützer in das Lagergefängnis sperrte und wie es seinem Vater Zacharias Zweig gelang, ihn bis zur Befreiung aus immer neuen Gefahren zu retten. Seine Geschichte – die legendenhaft verdichtete wie die reale – wurde bereits geschrieben.

Hier soll vor allem von Willy Blum die Rede sein, dessen Name zweifellos ohne den Bezug zum berühmten »Buchenwaldkind« gar nicht erst in die Öffentlichkeit gelangt wäre. Doch mehr als der Name und die Tatsache, dass er in Auschwitz ermordet wurde, waren lange Zeit nicht bekannt. Als die ARD im Jahr 2015 den Roman »Nackt unter Wölfen« neu verfilmte, fand Willy Blums Schicksal weder in der Filmhandlung noch in der begleitenden Dokumentation irgendeine Erwähnung. Erst ein Protest des Vorsitzenden des Zentralrats der Sinti und Roma, Romani Rose, brachte Bewegung in die Angelegenheit. In der Folge machte ich mich schließlich auf den Weg, um nach den Spuren des Lebens von Willy Blum zu suchen. Stellvertretend für die anderen 198 Kinder und Jugendlichen auf dieser Transportliste soll hier an ihn und an seinen Bruder Rudolf erinnert werden. Mittlerweile hat der Fund von zwei weiteren Dokumenten aus dem Archiv des Internationalen Suchdienstes in Bad Arolsen (ITS) die anfängliche und umstrittene Vorstellung von einem »Opfertausch« infrage gestellt: Auf einem vom Buchenwalder Lagerarzt, SS-Sturmbannführer August Bender, unterzeichneten Blatt vom 23. September 1944 steht unter der Überschrift: »Transport jugendlicher Zigeuner«: »Die Häftlinge 41923 Bamberger, W. und 74254, Blum, Willy wollen auf Transport mit ihren Brüdern, wogegen keine Bedenken bestehen.«

Zwei Tage später, am 25. September, bescheinigt der Lagerarzt, dass Walter Bamberger und Willy Blum »arbeits- und transportfähig« seien. So gelangten die beiden – als Nummer 106 und Nummer 200 – auf das Zusatzblatt der Liste. Der achtzehnjährige Walter Bamberger und der sechzehnjährige Willy Blum hatten sich »freiwillig«, sofern man unter diesen Umständen ein solches Wort überhaupt verwenden kann, gemeldet, weil sie ihre kleinen Brüder – Otto, elf Jahre, und Rudolf, zehn Jahre – nicht allein lassen wollten. Zwischen Bruderliebe und Überlebenswillen hatten sie eine Wahl getroffen. Und auch das Wort »Wahl« scheint in diesen Zusammenhang nicht zu passen. Beide wussten, was Auschwitz-Birkenau bedeutete, schließlich waren sie vor kurzem erst von dort gekommen.

Diese neue Kenntnis nimmt den Geschehnissen nichts von ihrer Tragik, aber sie löst Willy Blums Geschichte aus dem Schatten der Debatten um das »Buchenwaldkind« und verschafft ihr einen eigenen Raum. Damit jedoch beginnen die Schwierigkeiten. Wie kann dieser Raum gefüllt werden? Welche Spuren in der Welt hat ein Mensch hinterlassen, der nur sechzehn Jahre alt wurde? Es gibt kein »Tagebuch des Willy Blum« und keine anderen Selbstzeugnisse seiner Eltern oder Geschwister. Die einzigen zunächst vorhandenen Hinweise auf seine Existenz sind die Vermerke auf den Transportlisten und die knappen Einträge im Gefangenenbuch von Auschwitz sowie die etwas ausführlicheren Angaben in der Häftlingskartei von Buchenwald.

Auf der Gefangenenkarte gab es kein Foto von Willy Blum, aber ich kann der »Personenbeschreibung« entnehmen, dass er 1,60 Meter groß war und »schlank«, was vermutlich eine beschönigende Umschreibung seines elenden...