Leben in der DDR - Vergessenes aus der Geschichte in 111 Fragen

von: Klaus Behling

Edition Berolina, 2017

ISBN: 9783958415515 , 352 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 7,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Leben in der DDR - Vergessenes aus der Geschichte in 111 Fragen


 

II. Leben und leben lassen

Was war die »sozialistische Menschengemeinschaft«?

In die Wände der Wohnung des Ostberliner Eisenbahners waren extra Löcher gebohrt worden, um den müden Mann nach der Schicht im Bett mit Kamera und Mikrophon beobachten zu können. Das hatte nicht die Stasi, sondern der Deutsche Fernsehfunk bewerkstelligt, und im Friedrichstadtpalast verfolgte ein Millionenpublikum, wie der ebenso verdienstvolle wie erstaunte Mann per fahrbarem Bett wenig später in die Show transportiert wurde, um ihn dort weiter zu ehren. Die Show hieß »Mit dem Herzen dabei«, und sie war die Umsetzung von Walter Ulbrichts Idee der »sozialistischen Menschengemeinschaft« in Bild und Ton. Das besorgte Moderator Hans-Georg Ponesky.

Er hatte die Überraschungsshow auf Beschluss des VI. Parteitags der SED im Januar 1963 im Rundfunk aus der Taufe gehoben, zum 15. Jahrestag der DDR lief sie dann auch im Fernsehen und erlebte dort 14 Folgen. Die Idee dahinter war simpel: Die Frau oder der Mann von nebenan »kamen durchs Fernsehen«, weil sie etwas Besonderes vollbracht hatten, und diese Vorstellung war mehr wert als eine der rund 10.000 staatlichen oder gesellschaftlichen Auszeichnungen. »Mit dem Herzen dabei« sorgte für ein heimlich renoviertes Haus, einen neuen Trabi oder sogar für einen auf der Bühne verliehenen Professoren-Titel.

All das hatte einen politischen Hintergrund: die »sozialistische Menschengemeinschaft«. Walter Ulbricht persönlich hatte sie erfunden. Am 22. März 1969 verkündete er: »Die sozialistische Menschengemeinschaft, die wir Schritt um Schritt verwirklichen, geht über das alte humanistische Ideal hinaus. Sie bedeutet nicht nur Hilfsbereitschaft, Güte, Brüderlichkeit, Liebe zu den Menschen. Sie umfasst sowohl die Entwicklung der einzelnen sozialistischen Persönlichkeiten als auch der vielen zur sozialistischen Gemeinschaft im Prozess der gemeinsamen Arbeit, des Lernens, der Teilnahme an der Planung und Leitung der gesellschaftlichen Entwicklung … und an einem vielfältigen, inhaltsreichen und kulturvollen Leben.« All das sollte sich im »entwickelten gesellschaftlichen System des Sozia­lismus« abspielen, das sich als »besonderer Gesellschaftstyp« bisher nur in der DDR etabliert habe.

Im Kern war diese Politik erstmals der Anspruch eines Sowjet-Satelliten auf einen »eigenen Weg« der gesellschaftlichen Entwicklung. Er unterschied sich vom Moskauer Dogma, das im Sozialismus nur eine kurze Übergangsphase sah und das Erreichen der lichten kommunistischen Zukunft bereits öffentlich für Mitte der achtziger Jahre angekündigt hatte. Walter Ulbricht hoffte, sich mit seinem Beitrag den Weg ins Pantheon der »Klassiker« an der Seite von Marx, Engels und Lenin zu öffnen.

Im Kreml kam das nicht so gut an. Unter der Hand hielten die Genossen dort ihren ostdeutschen Statthalter für größenwahnsinnig, denn die Unterordnung unter Moskaus Führung galt als erstes Gebot. Sie begannen, seine Absetzung zu forcieren.

Das 15. Plenum des ZK der SED im Januar 1971 bestimmte Walter Ulbricht für den im Juni des Jahres geplanten VIII. Parteitag noch als Hauptredner. In seinem Grundsatzreferat sollte es um die »sozialistische Menschengemeinschaft« gehen, doch als es dann so weit war, musste sich der inzwischen entmachtete Parteichef wegen »Kreislaufstörungen« entschuldigen. Erich Honecker übernahm das Reden und beteuerte mit Blick nach Moskau: »Wir berücksichtigen … die Erfahrungen der Sowjetunion und der anderen sozialistischen Länder« und natürlich die »allgemein gültigen Gesetzmäßigkeiten der sozialistischen Revolution und des sozialistischen Aufbaus«.

Der »Kreislauf« funktionierte also wieder, und die DDR verzichtete auf ihre »sozialistische Menschengemeinschaft«. In der »Parteitagsentschließung« hieß es nun, dass sich »einige Genossen« der »Rechthaberei, Schönfärberei und Missachtung des Kollektivs« schuldig gemacht hätten. Der Name Ulbricht wurde nicht genannt.

Im Herbst 1971 erläuterte ZK-Ideologe Kurt Hager vor den versammelten Gesellschaftswissenschaftlern der DDR noch einmal die »neue Linie«: »Der VIII. Parteitag hat aus guten Gründen auf den früher recht oft verwendeten Begriff der Menschengemeinschaft verzichtet … Auf den gegenwärtigen Entwicklungsabschnitt des sozialistischen Aufbaus in der DDR angewandt, ist er … wissenschaftlich nicht exakt, da er die tatsächlich noch vorhandenen Klassenunterschiede verwischt und den tatsächlich erreichten Stand der Annäherung der Klassen und Schichten überschätzt.« Der Traum von der sozialistischen Menschengemeinschaft könne »erst mit dem Werden der kommunistischen Gesellschaft erreicht werden«. Und dem war natürlich die Sowjetunion am nächsten.

Walter Ulbrichts 1967 formulierten Sozialismus-Thesen landeten deshalb nicht im »Schatzkästlein« des Kommunismus, sondern, wie auch ihr Erfinder, auf dem »Müllhaufen« der Geschichte.

Für den peinlichsten Höhepunkt des Tamtams um die »sozialistische Menschengemeinschaft« hatte der SED-Chef selbst bereits am 16. April 1966 in der 11. Fernsehsendung »Mit dem Herzen dabei« gesorgt. Auf der Bühne des Friedrichstadtpalastes traf er mit seinem früheren Justizminister Max Fechner zusammen. Der war nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 nicht nur wegen seiner Homosexualität verunglimpft, sondern auch zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Er hatte sich für ein Streikrecht in der DDR eingesetzt. Drei Jahre musste er dafür absitzen. Nun nahm ihn Walter Ulbricht öffentlich zum Bruderkuss in die Arme.

Ob die »Blonde Träne« Hans-Georg Ponesky dabei heimlich eine solche aus Wasser und Salz verdrückte, ist auf den verschwommenen Fernsehbildern der Vergangenheit nicht mehr zu erkennen.

Waren Datschen-Besitzer Laubenpieper?

Für gelernte DDR-Bürger dürfte schon die Frage ein rotes Tuch sein, erfunden von Raubrittern, die seit dem Untergang der DDR auf »Rückgabe vor Entschädigung« pochen und ihre Vasallen in den Landratsämtern, die mit Pachterhöhungen und nachträglich umgelegten »Erschließungskosten« die finanziellen Daumenschrauben anziehen.

Dabei hatte doch das eine mit dem anderen überhaupt nichts zu tun! Oder vielleicht doch?

Laubenpieper waren die Gartenfreunde, die in den zu Ehren des Leipziger Arztes Moritz Schreber (1808–1861) seit Mitte des 19. Jahrhunderts nach ihm benannten Kleingärten Erholung und körperlichen Ausgleich suchten. Das geschah in solidarischer Nachbarschaft im Verein in Pachtgärten. Meist waren sie um die 400 Quadratmeter groß, und hinter den nach Statut geschnittenen Hecken herrschte eine vereinbarte Ordnung: Standort und Größe der Laube wurden ebenso festgelegt wie die Flächen für den Anbau von Obst, Gemüse, den Komposthaufen und die Ecke für die Freizeit. Rund drei Millionen solcher Gärten gab es in Europa, etwa 855.000 davon in der DDR.

Gemeinsam mit weiteren rund 2,6 Millionen Datschen hielt das kleine Land damit die Weltspitze in der Dichte von Freizeit- und Erholungsparzellen. Der Boom dieser Entwicklung begann Ende der 1960er Jahre.

Mit der Senkung der Arbeitszeiten, dem schrittweisen Übergang zur Fünftagewoche und der 1979 erfolgten Erhöhung des Mindesturlaubs auf 21 Tage entstanden die Möglichkeiten dazu. Dass sie intensiv genutzt wurden, wird im Nachhinein gern mit den Defiziten und Nöten der DDR erklärt. Das ist aber sicher nur die halbe Wahrheit.

Zur anderen Hälfte gehört, dass das Wochenendgrundstück nebst Bungalow im Land der Mietwohnungen und genormten Plattenbau-Quartiere der Bereich war, an dem sich eigene Kreativität, handwerkliche Geschicklichkeit und das Geflecht von »Beziehungen« ungehemmt entfalten konnten. Gebaut wurde, wo Grund und Boden zur Pacht zu haben war – das kostete ein paar Pfennige pro Quadratmeter, meist kaum mehr als 100 Mark im Jahr –, und oft begann es mit dem Urbarmachen der um die 300 Quadratmeter großen Grundstücke. Immer lagen sie in landschaftlich reizvollen Gegenden im Wald oder am Wasser, meist waren sie innerhalb einer Stunde von der Wohnung aus erreichbar.

Dass das Wort »Datscha«, in der DDR zu »Datsche« verballhornt, mit dem russischen »dat’« (»geben«) zusammenhing und seinen Ursprung im Geschenk eines Fürsten an seinen Untertanen hatte, mögen manche bei der Landvergabe gespürt haben. Beim Bauen eher weniger. Da war Eigeninitiative angesagt. Die typische DDR-Datsche war ein meist selbst errichtetes Ferienhäuschen mit 30 bis 50 Quadratmetern Grundfläche. Wer das nicht konnte, bestellte einen Fertigteil-Bungalow und musste nur für Terrasse und Bodenplatte sorgen. »B 22« und »B 34« hießen die beliebtesten Typen, auf die es deshalb längere Wartezeiten gab.

Der Innenausbau, natürlich mit Strom und meist auch fließendem warmen und kalten Wasser, zeigte, was alles möglich war, wenn sich Eigeninitiative ungehemmt entfalten konnte. Wer von seinen zwei linken Händen gebremst wurde, fand Hilfe bei »Feierabendbrigaden«. Für Stundenlöhne zwischen 15 und 20 Mark griffen sie gern zu. Noch lieber taten sie es allerdings für ein paar Westmark, und wer in DM zahlen konnte, bekam über GENEX (Geschenkdienst- und Kleinexporte GmbH) auch seinen »B 22« für 6.157 Mark oder den »B 34« für 8.280 Mark sofort geliefert.

Die Masse der anderen half sich selbst, und das ging nicht immer im Rahmen der Gesetze. Die Frauenzeitschrift Für Dich moserte Mitte der siebziger Jahre: Bei »so mancher Datsche« seien »Zäune und Tore … für jedermann sichtbare Beispiele unrechtmäßiger Verwendung von Material. Viele sehen das, aber keiner sagt ein Wort, wahrscheinlich,...