Entwicklungslinien im liberalen Protestantismus - Von Kant über Strauß, Schweitzer und Bultmann bis zur Gegenwart

Entwicklungslinien im liberalen Protestantismus - Von Kant über Strauß, Schweitzer und Bultmann bis zur Gegenwart

von: Werner Zager

Evangelische Verlagsanstalt, 2017

ISBN: 9783374052196 , 400 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 44,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Entwicklungslinien im liberalen Protestantismus - Von Kant über Strauß, Schweitzer und Bultmann bis zur Gegenwart


 

DAVID FRIEDRICH STRAUSS:
DAS LEBEN JESU, KRITISCH BEARBEITET (1835)


Ein Beitrag zur Hermeneutik*

1. Entstehung des Werks

Im Anschluss an sein Berliner Semester beabsichtigte David Friedrich Strauß, im Sommer 1832 als Repetent des Tübinger Stifts sowohl eine philosophische Vorlesung über Propädeutik als auch eine theologische über das Leben Jesu zu halten. Selbst von der Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels fasziniert, hatten ihn zwei Nachschriften von Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers Leben-Jesu-Vorlesungen1 zu letzterem Vorhaben angeregt.

2. Methodischer Ansatz

In programmatischer Weise erklärt Strauß in der Vorrede seines Werks, dass die bisherigen Betrachtungsweisen der Geschichte Jesu – und zwar sowohl die supranaturalistische als auch die rationalistische – überholt und durch eine neue zu ersetzen seien: durch die mythische. Sein methodischer Ansatz sei zwar keineswegs völlig neu, räumt der Verfasser ein, jedoch habe noch keine konsequente Anwendung desselben auf die Evangelien insgesamt stattgefunden.

3. Durchführung

Strauß’ Untersuchung der Evangelientexte erfolgt in Auseinandersetzung sowohl mit der suprarationalistischen als auch mit der rationalistischen Sichtweise. Dabei konzentriert er sich einerseits auf die einschlägigen Schriften von Hermann Olshausen (1796  1839) als dem Vertreter der orthodoxen bzw. suprarationalistischen Richtung und andererseits auf die von Heinrich Eberhard Gottlieb Paulus (1761  1851) als dem Repräsentanten der rationalistischen Position. Strauß verfährt so, dass er »aus den bekämpften Ansichten ihr Wahres anerkennend« herauszieht und dem »neuen Standpunkt« einverleibt (vgl. Bd. I, S. IX). Unmittelbar anknüpfen kann er dagegen an die historischphilologischen Kommentare von Christian Friedrich Fritzsche (1776  1850), an denen er nicht nur die philologische Gelehrsamkeit schätzt, sondern auch »diejenige Unbefangenheit und wissenschaftliche Gleichgültigkeit gegen Resultate und Consequenzen« (Bd. I, S. X).

4. Ergebnisse

4.1 Geschichte der Geburt und Kindheit Jesu

Strauß erklärt die lukanische Erzählung von Verkündigung und Geburt Johannes des Täufers (Lk 1,5-25.57-80) als poetisch-mythische Bildung, der nur folgende historische Tatsache zugrunde liege: »[D]er Täufer Johannes hat durch seine spätere Wirksamkeit und deren Beziehung auf Jesus so bedeutenden Eindruck gemacht, daß sich die christliche Sage zu einer solchen Verherrlichung seiner Geburt in Verbindung mit der Geburt Jesu getrieben fand« (Bd. I, S. 104). Die Widersprüche zwischen den Stammbäumen Jesu im Matthäus- und Lukasevangelium (Mt 1,1-17; Lk 3,23-38) lassen sich Strauß zufolge nicht auflösen. Sie enthalten auch keine historische Erinnerung an die Abstammung Jesu. Vielmehr habe Jesus selbst oder vermittelt durch seine Jünger den Eindruck gemacht, der Messias zu sein, weshalb »mehr als Eine Feder sich in Bewegung se[t]zte, um durch genealogische Nachweisung dieses Merkmals seine Anerkennung als Messias zu rechtfertigen« (Bd. I, S. 128). Die matthäischen und lukanischen Erzählungen von einer übernatürlichen Empfängnis Jesu beurteilt Strauß als Mythen, bei deren Ausbildung verschiedene Faktoren eingewirkt hätten: die Vergöttlichung mit Kraft und Weisheit ausgestatteter großer Männer in der griechisch-römischen Antike, der Messias als Jungfrauenkind aufgrund von Jes 7,14 (LXX) und »Sohn Gottes« als Messiastitel mit Bezug auf 2Sam 7,14 und Ps 2,7. Historisch betrachtet sei Jesus »aus einer ordentlichen Ehe Josephs und der Maria entsprossen« (Bd. I, S. 174). Da abgesehen von Mt 2 und Lk 2 die gesamte Evangelientradition Nazareth als Herkunftsort Jesu bezeugt, hält Strauß dies für historisch und führt die Lokalisierung der Geburt Jesu in Bethlehem auf das Bestreben zurück, das prophetische Postulat von Mi 5,1 zu erfüllen, was von Matthäus und Lukas in unterschiedlicher, nicht miteinander auszugleichender Weise verwirklicht worden sei (vgl. Bd. I, S. 274-278).

4.2 Geschichte des öffentlichen Lebens Jesu

Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Jesus und Johannes dem Täufer arbeitet Strauß folgende historischen Grundzüge heraus: Jesus wurde von der Bußpredigt des Täufers angezogen und ließ sich von ihm zur Vergebung der Sünden taufen, gehörte einige Zeit dem Schülerkreis des Täufers an und wurde durch ihn mit der Botschaft des sich nahenden Messiasreiches vertraut gemacht. Nach der Inhaftierung des Johannes setzte er dessen Wirken in modifizierter Weise fort und zollte ihm auch dann noch Hochachtung, als er mit seiner Verkündigung über ihn hinweggeschritten war (vgl. Bd. I, S. 361, 372-374).

4.3 Geschichte des Leidens, Todes und der Auferstehung Jesu

Nachdem Strauß dargelegt hat, dass Jesus keine so genauen Vorkenntnisse seines Leidens und Todes besessen haben kann, wie sie die entsprechenden Ankündigungen insbesondere in den synoptischen Evangelien voraussetzen, spricht er sich dafür aus, diese als vaticinia post eventum anzusehen (vgl. Bd. II, S. 309). Die mehr unbestimmten Todesandeutungen im Johannesevangelium führt Strauß auf des Evangelisten »Neigung zum Räthselhaften und Mysteriösen« (Bd. II, S. 310) zurück. Den Leidensankündigungen in den Evangelien insgesamt schreibt er die Funktion zu, Jesu Kreuzestod als Bestandteil des göttlichen Heilsplans erscheinen zu lassen und damit dessen schmachvollen Charakter aufzuheben (vgl. Bd. II, S. 310 f.). Ebenso wie die Leidens- und Todesankündigungen wurden nach Strauß’ Urteil erst nach Ostern Jesus Voraussagen seiner Auferstehung in den Mund gelegt. Erst jetzt sei es den Jüngern und Verfassern der neutestamentlichen Schriften möglich gewesen, »im A[lten] T[estament] Vorbilder und Weissagungen auf die Wiederbelebung ihres Messias aufzufinden« (Bd. II, S. 340). Und zwar hätten sie dies nicht – wie von Hermann Samuel Reimarus (1694  1768) unterstellt – in betrügerischer Absicht getan, »sondern wie es dem, der in die Sonne gesehen, ergeht, daß er noch längere Zeit, wo er hinsieht, ihr Bild erblickt: so sahen sie, durch ihre Begeisterung für den neuen Messias geblendet, in dem einzigen Buche, das sie lasen, dem A[lten] T[estament], ihn überall, und ihre, in dem wahren Gefühl der Befriedigung tiefster Bedürfnisse gegründete Überzeugung, daß Jesus der Messias sei, ein Gefühl und eine Überzeugung, die auch wir noch ehren, griff, sobald es sich um reflexionsmäßige Beweise handelte, nach Stützen, welche längst gebrochen sind, und selbst durch das eifrigste Bemühen einer hinter der Zeit zurückgebliebenen Exegese nicht mehr haltbar gemacht werden können« (Bd. II, S. 341).

5. Historische Kritik und Dogmatik

Die »Schlussabhandlung« (Bd. II, S. 686-744) gilt der Frage nach der »dogmatische[n] Bedeutung des Lebens Jesu«, die sich für Strauß als Theologen unabweisbar stellt, hat doch seine historische Kritik der Jesusüberlieferung in den Evangelien zu radikalen Ergebnissen geführt. Darum ist es ihm, dem Kritiker, Gläubigen und Hegelianer, ein Bedürfnis darzulegen, dass der Inhalt der christlichen Religion als der höchsten mit der höchsten philosophischen Wahrheit identisch ist. Im Folgenden ermäßigt Strauß nicht etwa die historische Kritik, sondern er nimmt diese zum Ausgangspunkt der dogmatischen Kritik. Die Aufgabe, das kritisch Vernichtete dogmatisch wiederherzustellen« (Bd. II, S. 686), setzt nämlich die Geschichte des Dogmas und seiner Kritik voraus.

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