Die Akzessorietät des Wirtschaftsstrafrechts - Zugleich ein Beitrag zu Begriff und Wesen des Wirtschaftsstrafrechts

von: Markus Wagner

C. F. Müller, 2016

ISBN: 9783811443020 , 392 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 109,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Die Akzessorietät des Wirtschaftsstrafrechts - Zugleich ein Beitrag zu Begriff und Wesen des Wirtschaftsstrafrechts


 

I. Die Akzessorietät des Rechts im Allgemeinen


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Nur an sehr wenigen Stellen findet sich – jedenfalls im hier interessierenden Zusammenhang – das Stichwort der „Akzessorietät des Rechts“ bezogen auf das Recht im Allgemeinen. Eines der seltenen Beispiele hierfür stellt die Äußerung von Rotsch dar, die zur „Kluft zwischen Praxis und Wissenschaft“ führende „Überfeinerung der Dogmatik“ folge „nur zum Teil aus der bereits genannten Akzessorietät des Rechts“, wobei er an seine vorherige – diesmal allerdings speziell auf das Wirtschaftsstrafrecht bezogene – Aussage anknüpft, dessen Dogmatik sei „in besonderer Weise akzessorisch zur immer rasanteren Veränderung gesellschaftlicher, moralischer, politischer und technologischer Zustände.“[1] Und auch etwa bei Krüper findet sich – allerdings ohne den Begriff der „Akzessorietät“ – die Formulierung der „Abhängigkeit des Rechts, seine Bedingtheit durch Kultur, Tradition und Politik“[2].

1. Die in Frage kommenden Bezugsgegenstände des Akzessorietätsverhältnisses


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Stellt man diese Zitate den eingangs genannten Beispielen für die Verwendung des Akzessorietätsbegriffs gegenüber, so fällt auf, dass dort von der Abhängigkeit (wirtschafts-)strafrechtlicher Tatbestände von nicht-strafrechtlichem Recht die Rede war, während Rotsch und Krüper hingegen außerrechtliche Bezugsobjekte benennen. Dies legt den Gedanken nahe, dass das Recht im Allgemeinen in doppelter Art und Weise akzessorisch ist; nämlich zur Lebenswirklichkeit einerseits und zum übrigen Recht andererseits.

a) Annäherung an die Begriffe „Recht“ und „Wirklichkeit“


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Die Untersuchung dieser These gestaltet sich schwierig, weil weder der Begriff des „Rechts“ noch derjenige der „Wirklichkeit“ eindeutig definiert ist, ja beide Begriffe möglicherweise nicht einmal konsensfähig definierbar sind.

aa) Zum Rechtsbegriff


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Bereits Kant konstatierte: „Noch suchen die Juristen eine Definition zu ihrem Begriffe vom Recht.“[3] Ein Blick in die einschlägige Literatur offenbart, dass sich an diesem Zustand seither kaum etwas geändert hat: Nur vereinzelt werden tatsächlich Definitionsversuche unternommen.[4] Die Antwort auf die Frage, was „Recht“ ist, sei „schwierig“[5], die genannte Aussage Kants könnte „auch in unserer Zeit gemacht worden sein“[6]. Arthur Kaufmann trägt vor, dass eine streng logische Definition des Rechtsbegriffs nicht möglich sei, sondern dass je nach untersuchtem Gesichtspunkt mehrere funktional gesehen richtige Rechtsbegriffe denkbar seien, die nebeneinander bestehen, aber niemals das Recht als Ganzes begreifen könnten.[7]

bb) Zum Wirklichkeitsbegriff


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Gleiches gilt für den Begriff „Wirklichkeit“: Eine Vielzahl philosophischer Strömungen bietet jeweils einen eigenen Definitionsansatz an.[8] Und der Physiker Werner Heisenberg behauptete aus einer naturwissenschaftlichen Perspektive, „die Wirklichkeit, von der wir sprechen können, [sei] nie die Wirklichkeit „an sich“, sondern eine gewußte Wirklichkeit oder sogar in vielen Fällen eine von uns gestaltete Wirklichkeit.“[9]

cc) Zur Notwendigkeit der Differenzierung zwischen Recht und Wirklichkeit


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Die Schwierigkeit im Umgang mit den Begriffen „Recht“ und „Wirklichkeit“ schafft auch Probleme bei ihrer Abschichtung und stellt damit zugleich die Notwendigkeit ihrer Differenzierung in Frage.

Eine solche ist jedenfalls nicht in dem Sinne misszuverstehen, dass es sich um die vielbeklagte Kluft zwischen Theorie und Praxis im Rechtsalltag[10] handle. Vielmehr geht es um die Frage, ob das Recht selbst „wirklich“ ist oder Mittler zur Veränderung einer ihm gegenüberzustellenden Realität sein will.

b) Die begriffliche Basis der weiteren Untersuchung


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Nach dem Gesagten ist es nicht möglich, die These von der Akzessorietät des Rechts zur Wirklichkeit auf Basis bereits gefestigter Begrifflichkeiten zu untersuchen.

Es soll an dieser Stelle nicht der – von vornherein zum Scheitern verurteilte – Versuch unternommen werden, die Begriffe „Recht“ und „Wirklichkeit“ abschließend zu definieren und zu einander ins Verhältnis zu setzen. Vielmehr kann es für die vorliegende Untersuchung nur darum gehen, den Begriffen axiomatisch eine Bedeutung beizumessen, auf die sich der weitere Fortgang gründen kann.

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Recht“ soll dabei als Inbegriff der Gesamtheit der Aussagen aller Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens begriffen werden, deren Befolgung zwar faktisch vom Willen ihrer jeweiligen Adressaten abhängig ist, für die aber anerkannte Mittel zur zwangsweisen Durchsetzung oder jedenfalls Sanktionierung zur Verfügung stehen, die wiederum eines gewillkürten Aktes bedürfen.

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Zur Verdeutlichung: Ausgeschieden werden sollen damit zu allererst Naturgesetze (wie z.B. die Gravitation), die keiner Umsetzung durch den Menschen bedürfen. Dasselbe gilt für von Menschen geschaffene Strukturen (wie etwa die Preisbildung am Markt), die zwar grundsätzlich durch Interaktionen einzelner gestaltet werden, allerdings in ihrer Gesamtsumme ohne vollstreckbaren Eingriff von außen für den Einzelnen nicht beherrschbar sind.

Erfasst werden geschriebene und ungeschriebene Normen des Bundes, der Länder und der Kommunen sowie der Staatengemeinschaften unabhängig von ihrer Form (Gesetz, Verordnung, Verwaltungsakt etc.). Ebenfalls unter den zugrunde gelegten Rechtsbegriff fallen Verträge. Satzungen und Leitlinien, wie sie z.B. in Unternehmen, Vereinen und organisierten Berufsgruppen bestehen, sind insoweit Bestandteile des hier verwendeten Rechtsbegriffs, wie Möglichkeiten zu ihrer Durchsetzung bestehen. Akte der Rechtsprechung stellen nur insoweit eigenständiges Recht dar, wie ihnen über den Charakter der bloßen Umsetzung bereits vorhandenen Rechts eigenständige Wirkungen zugeschrieben werden (wie z.B. zivilgerichtliche Gestaltungsurteile).

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Der Begriff der „Wirklichkeit“ soll in einem objektiven Sinne verstanden werden: So werden darunter alle naturwissenschaftlichen Zusammenhänge unabhängig davon verstanden, ob diese Zusammenhänge nach dem Stand der Wissenschaft bereits entdeckt wurden. Dasselbe gilt z.B. für Mechanismen der Volkswirtschaft und vergleichbare Strukturen. Ebenfalls erfasst werden sollen solche Gegebenheiten, die nicht gewillkürt festgesetzt wurden, sondern sich ohne bewusste Steuerung über die Zeit entwickelt haben, wie z.B. weltanschauliche Auffassungen und kulturelles Brauchtum.

Aufgrund der großen Streubreite der in Frage kommenden Phänomene mögen diese Beispiele genügen. Sie sollen in erster Linie verdeutlichen, dass es der Sache nach letztlich nur um eine negative Definition gehen kann: nicht erfasst ist lediglich all dasjenige, was bereits unter den Rechtsbegriff zu fassen ist.[11]

2. Die Akzessorietät des Rechts zur Wirklichkeit


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Als erstes wird der Frage nach einer Akzessorietät des Rechts zur Wirklichkeit im eben genannten Sinne nachgegangen. Die Idee eines solchen Akzessorietätsverhältnisses drängt sich geradezu auf, ruft man sich Schlagwörter wie dasjenige der „wirtschaftlichen Betrachtungsweise“ ins Gedächtnis.[12] Auch wenn etwa über „sozialadäquates Verhalten“ und seine Auswirkungen auf die Strafbarkeit der betreffenden Person diskutiert wird, geht es in der Sache um nichts anderes als um die Frage, inwiefern das Recht abhängig ist von den jeweiligen gesellschaftlichen Ansichten.[13]

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Ob ein solches Akzessorietätsverhältnis besteht, kann nicht allgemein und abstrakt untersucht werden. Vielmehr ist nach den einzelnen Lebensbereichen[14] zu differenzieren, hinsichtlich derer ein Akzessorietätsverhältnis in Betracht kommt. Zudem wird – zumindest teilweise – danach zu unterscheiden sein, in welcher Phase des Rechts nach einem Akzessorietätsverhältnis gefragt wird: in der Phase der Rechtssetzung oder in der Phase der Rechtsanwendung. Dies findet seine Rechtfertigung unter anderem in der Tatsache, dass...