Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) - Ein integratives Lehrbuch für die Praxis

von: Michele Noterdaeme, Karolin Ullrich, Angelika Enders

Kohlhammer Verlag, 2017

ISBN: 9783170268500 , 469 Seiten

2. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 52,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) - Ein integratives Lehrbuch für die Praxis


 

 

1          Historischer Überblick


Hedwig Amorosa


 

Typischerweise wird in einem historischen Rückblick zum autistischen Syndrom damit begonnen, dass Kanner 1943 den »early infantile autism» und Asperger 1944 »die autistische Psychopathie» unabhängig voneinander zum ersten Mal beschrieben haben. Da Kanner in den USA lebte und Asperger in Wien, ging man davon aus, dass sie während des Zweiten Weltkrieges keine Kenntnis von der Publikation des anderen hatten und somit unabhängig voneinander die Kindergruppe beschrieben und mit dem Namen »autistisch« bezeichnet haben, im Rückgriff auf Bleuler, der diesen Begriff für ein Symptom der Schizophrenie geprägt hatte. In Übersicht 1.1 und 1.2 sind die wesentlichen Symptome, die von Asperger bzw. Kanner beschrieben wurden, zusammengestellt.

Vor den Veröffentlichungen von Kanner 1943 und Asperger 1944 gab es bereits Beschreibungen von Kindern, die heute die Diagnose einer autistischen Störung rechtfertigen (Wing 1997). Insbesondere die Artikel von Ssucharewa (1926) und von Asperger (1938) machen deutlich, dass der Begriff »autistisch« auf kindliche Störungen angewandt wurde (Schirmer 2002; Lyons & Fitzgerald 2007).

Im Jahr 1926 beschrieb Ssucharewa von der psychoneurologischen Kinderklinik in Moskau in einem Artikel der Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie sechs Jungen im Alter von zehn bis 13 Jahren mit der Diagnose »schizoide Psychopathie« im Rahmen einer Auseinandersetzung mit dem Begriff des »Schizoiden« von Kretschmer. Die ausführliche Beschreibung der Fälle erlaubt eine gewisse diagnostische Einordnung. Fälle 1, 3, 4, 5 und 6 klingen wie Beschreibungen von Kindern mit einem Asperger-Syndrom. Als typisch wird eine motorische Ungeschicklichkeit bei den Kindern beschrieben. Alle Kinder sind intellektuell durchschnittlich oder überdurchschnittlich begabt, zeigen wenig oder gar kein Interesse am Spiel mit anderen Kindern, können sich schlecht in die Gruppe einordnen und zeigen wenig Interesse an anderen Menschen. Die Kinder sind musikalisch. Als ein Symptom aller Kinder wird eine »autistische Einstellung« beschrieben. »Alle Kinder dieser Gruppe halten sich abseits in dem Kindermilieu, passen sich nur schwer an dieses Milieu an und gehen in ihm niemals vollständig auf« (Ssucharewa 1926, S. 255; Manouilenko & Bejerot 2015).

Asperger beschrieb in einem Artikel von 1938 mit dem Titel »Das psychisch abnorme Kind« einen Jungen im Alter von siebeneinhalb Jahren. Zur diagnostischen Einordnung sagte er: »Innerhalb dieser wohl charakterisierten Gruppe von Kindern, die wir wegen der Einengung ihrer Beziehungen zur Umwelt, wegen der Beschränkung auf das eigene Selbst (autos) ›autistische Psychopathen‹ nennen, gibt es nun freilich wieder recht verschiedene, auch recht verschieden zu bewertende Menschen« (Asperger 1938, S. 1316). Man muss annehmen, dass dieser Artikel Kanner bekannt war, der die deutschsprachige Literatur kannte.

In seiner Habilitationsschrift, die 1944 veröffentlicht wurde, beschrieb Asperger dann eine Reihe von Kindern im Alter von sechs bis elf Jahren, deren gemeinsames Merkmal in einer erheblichen Störung der Beziehung zu anderen Menschen und im sozialen Kontakt besteht. Es seien fast ausschließlich Jungen betroffen, die meist normal oder hochbegabt seien, einige haben zudem eine Sonderbegabung. Asperger beschreibt das Auftreten von auffälligen Persönlichkeiten in den Familien. Er geht von einer Vererbung aus. »Längst ist die Frage entschieden, dass auch psychopathologische Zustände konstitutionell verankert und darum auch vererbbar sind, freilich auch, dass es eine eitle Hoffnung ist, einen klaren einfachen Erbgang aufzuweisen: diese Zustände sind ja zweifellos polymer, also an mehrere Erbeinheiten gebunden« (Asperger 1944, S. 128).

 

Übersicht 1.1: Diagnostische Kriterien der autistischen Psychopathie nach Asperger 1944

•  Starke Störung der sozialen Anpassung

•  Schwierigkeiten, einfache praktische Fähigkeiten im Alltag zu erlernen

•  Auffälliges Blickverhalten

•  Wenig Mimik und Gestik

•  Stereotype Bewegungen

•  Sonderinteressen

•  Auffällige Sprache und Intonation

•  Störung der aktiven Aufmerksamkeit

•  Prinzenhaftes Aussehen

•  Motorische Ungeschicklichkeit

•  Konstanz der Symptomatik ab dem 2. Lebensjahr

•  Auffällige Persönlichkeiten in den Familien

Kurzer Lebenslauf – Hans Asperger (1906–1980)


 

1906

Geboren in Hausbrunn bei Wien

1925–1930

Studium der Medizin in Wien

1931

Promotion

1932

Leiter der heilpädagogischen Abteilung der Universitätskinderklinik in Wien

1938

Erster Artikel über ein Kind mit einer autistischen Psychopathie

1944

Habilitation mit der Arbeit über die autistische Psychopathie

1957

Vorstand der Universitätskinderklinik in Innsbruck

1962–1977

Professor für Pädiatrie und Leiter der Kinderklinik in Wien

1980

Verstorben im Alter von 75 Jahren in Wien

Trotz einer englischsprachigen Zusammenfassung der Beschreibungen Aspergers von van Krevelen und Kuipers 1962 wurde das Asperger-Syndrom erst allgemein bekannt, als Lorna Wing 1981 eine Zusammenfassung seiner Befunde in einer englischsprachigen Zeitschrift veröffentlichte. 1991 veröffentlichte Uta Frith in ihrem Buch »Autism and Asperger Syndrom« eine englische Übersetzung des Originaltextes.

Kanner, ein Kinderpsychiater aus Baltimore, beschrieb 1943 eine Gruppe von Kindern mit Auffälligkeiten im Kontakt mit anderen Menschen. »The outstanding, ›pathognomonic‹ fundamental disorder is the children’s inability to relate themselves in the ordinary way to people and situations from the beginning of life« (Kanner 1943, S. 242). Es handelte sich um eine Gruppe von elf Kindern (acht Jungen und drei Mädchen) im Alter bis zu elf Jahren. Er beschreibt die bis heute für die Diagnose wesentlichen Symptome: veränderte soziale Interaktion, auffällige Kommunikation, Stereotypien, eingeschränkte Interessen und Bestehen auf Gleichheit.

 

Übersicht 1.2: Diagnostische Kriterien des frühkindlichen Autismus nach Kanner 1943

•  Unfähigkeit, soziale Beziehungen aufzunehmen

•  Ausgeprägter sozialer Rückzug

•  Sprache wird nicht kommunikativ eingesetzt

•  Echolalie

•  Pronominale Umkehr

•  Bestehen auf Gleichheit

•  Zwanghaftigkeit

•  Monotone repetitive Handlungen

•  Gute Intelligenz

•  Gutes Gedächtnis

•  Intelligentes Aussehen

•  Symptomatik beginnt im ersten Lebensjahr

•  Aus Familien mit hohem Bildungsgrad

Kurzer Lebenslauf – Leo Kanner (1894–1981)


 

1894

Geboren in Klekotow, Galizien, damals Österreich-Ungarn

1906

Kam er nach Berlin

1913

Begann er sein Studium der Medizin in Berlin an der Charité. Während des 1. Weltkrieges war er Soldat in der österreichisch-ungarischen Armee und setzte nach dem Krieg sein Studium fort

1919

Promotion in Berlin mit einer Arbeit über das Elektrokardiogramm

1920

Assistenzart an der 2. medizinischen Klinik der Charité

1924

Emigrierte er in die USA und arbeitete an einem Psychiatrischen Landeskrankenhaus. Dort hatte er viel Zeit zum Lesen und befasste sich intensiv mit der Literatur zu kinderpsychiatrischen Fragen

1928

Beginn einer Ausbildung bei dem berühmten Psychiater Adolf Meyer in...