Erbsenzählen - Roman

von: Gertraud Klemm

Droschl, M, 2017

ISBN: 9783990590089 , 160 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 15,99 EUR

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Erbsenzählen - Roman


 

1

Vor der Garderobentür schlagartig Turnsaalgeruch, nicht überraschend, aber in dieser Heftigkeit dann doch, ein Bubengeruch, noch nicht beißend, aber schon eine Spur Raubtier. Das müssen die einschießenden Hormone sein, die Gummisohlen ihrer Schuhe und ihr Milchbubenatem. Sie stehen dicht und wackelnd auf einem Bein, draußen verstopfen sie den Zugang zur Kabine, reden dabei miteinander, ich stehe knapp hinter Elias, warte darauf, ob er sich durchsetzt und vorbeiquetscht.

Lass ihn am besten in Ruhe, lass ihn erwachsen werden, hat Alfred gesagt, alles Übrige ergibt sich schon. Elias entscheidet sich für einen Spind, und ich ziehe mich diskret auf den Gang zurück.

Alfred hat den Literaturkritiker zu Besuch, es sei etwas Wichtiges, sagte er, aber auch das Turnier sei wichtig. Elias hatte keinen Einwand, dass ich anstatt Alfred oder Valerie mitkomme, aber einen ausdruckslosen Gesichtsausdruck hatte er schon für uns. Er könne das alleine, sagte Alfred, eigentlich könne er alles alleine, was nicht die Eltern für ihn erledigen, aber das ist nicht sehr viel, fürchte ich. Was hat er denn davon, wenn die Stieftussi dasitzt und zusieht, Stieftussi, so sagt er zu mir, wenn ich scheinbar außer Hörweite bin, ich habe es ihn letzte Woche zischen gehört, im Vorraum, zu Alfred, aber es tat gar nicht richtig weh. Man muss ihn nicht mögen, um ihn zu verstehen.

Jedes Kaff hat seinen Fußballplatz, so klein kann es gar nicht sein. Eine Kirche, ein Kriegerdenkmal, einen Fußballplatz, das ist die Grundausstattung, alles andere, Arzt, Bäcker, Feuerwehr, ist Luxus. Kirche am Sonntag, das muss nicht unbedingt sein, Fußball am Samstag schon eher. Den Kindern zuschauen, das ist wichtig. Überwiegend Väter da, mit wenigen Ausnahmen, eine der wenigen Ausnahmen hat Permanent Make-up auf den Augenlidern, angeblich wird das tätowiert. Man müsste mich narkotisieren. Manche stehen schon unter dem Vordach der Kantine, manche verschwinden in der Kantine, manche richten es sich im Zuschauerbereich auf den Plastikstühlen und Bänken ohne Lehne gemütlich ein. Nur wenige gehen noch mit zu den Kabinen. In der Früh herbstelt es schon voll, sagt die mit den tätowierten Augenlidern zu niemand Bestimmtem, während sie sich tiefer in ihre winterlich aussehende Jacke verkriecht. Spricht sie mit mir? Ich flüchte zum Spielfeldrand und sehe auf die Uhr.

Die Väter beim Fußball, die Mütter bei allen anderen Veranstaltungen, so viel habe ich in den letzten eineinhalb Jahren beobachten können, bei den wenigen Events, bei denen ich Elias’ Mutter ausnahmsweise, wie Alfred gerne sagt, vertreten durfte. Ausnahmsweise auf dem Fußballplatz beim Match zusehen, ausnahmsweise vom Training abholen, ausnahmsweise zu einem Freund bringen. Elias’ Mutter ist sehr bemüht, die Ausnahme nie zur Regel werden zu lassen, und dabei so freundlich: Sag doch Valerie zu mir, wenn wir uns schon die Familie teilen, sollten wir keine unnötige Distanz aufbauen.

Eine dunkelgraue Wolkenbank schiebt sich über den frühherbstlichen Fußballplatz. Sie sieht nach Hagel aus, nach nahem Winter, nach einem eiskalten Regenguss und durchnässten vorpubertären Buben, nach einer Nebenhöhleneiterung, die ich Elias eingebrockt habe, weil ich meinen Stiefmutterpflichten nicht nachgekommen bin und kontrolliert habe, ob er die Vereinsregenjacke mitgenommen hat. Ob sie noch im Alfa liegt? Ich gehe meiner Verantwortung nach, zum Auto, tatsächlich, die Regenjacke auf der Rückbank, ich nehme sie, trage sie in das Nebengebäude und bleibe vor dem Umkleideraum stehen, an die Wand gelehnt, so wie zwei Väter. Wenn er aus der Kabine kommt, werde ich sie ihm mit einem schwesterlichen Augenzwinkern unterjubeln, darauf bedacht, keinen Funken Bevormundung aufkommen zu lassen. Die Tür zur Kabine ist angelehnt, man hört die Buben lachen und cool reden. Ich stelle mir vor, wie Elias seine Sachen in den Spind stopft, die Hose verdreht und das T-Shirt auch, so wie zu Hause, wahrscheinlich die dreckigen Schuhe oben auf. Diese Sache mit der Wäsche, warum stört mich das so an ihm, muss ich seine Wäsche waschen und bügeln? Nein, das macht Valerie, warum also unbeliebt machen und es ansprechen, es überhaupt andenken. In ein paar Stunden ist er wieder bei Mama, und in ein paar Jahren ist er ganz aus dem Haus, und Alfred und ich haben einander und endlich Ruhe. Theoretisch. Wenn ich mir das so überlege, ist das die Schokoladenseite des Elternseins, die Spitze der Bedürfniserfüllungspyramide, ganz unten das Gebären und die Windeln, darüber gleich das ständige Putzen, das Kochen, die Wäsche, das Einkaufen, so klettert man jahrelang hinauf, Hausaufgaben, Lernen, Trösten, und ich darf auf der Spitze der Pyramide sitzen und die schöne Aussicht auf ein U14 Match genießen und die gute Luft, alles völlig unverdient! Andere würden sich darum reißen.

Hier kann ich sitzen und passiv meine Patchworkpflichten abdienen, ich kann mir diese völlig absurde Fußballwelt einmal hautnah ansehen, es ist wie eine Exkursion an einen Ort, den man nicht mögen muss, um ihn, für einen kurzen Zeitraum zumindest, spannend zu finden. So wie eine Kläranlage. Eine Kläranlage ist kein Ort der Erbauung, aber wichtig, sie muss funktionieren, so wie diese Fußballnachmittage mit den Kindern funktionieren müssen. Ohne Kläranlage und ohne Fußballkinderwelt gibt es keine funktionierende Gesellschaft, zumindest nicht für Alfred und mich.

Wenigstens müssen Elias und ich einander keine Stief-Liebe vortäuschen. Ich nehme mein Handy heraus und tippe ein bisschen darauf herum, lösche mechanisch SMS und alte Fotos. So sieht das also aus, das harmonische Familienleben. Der Vater zu Hause in einen Dialog über Knausgård vertieft, Mutter in Venedig, Sohn und Stieftussi am Sportplatz. Valerie ist dort auf einem Kongress, sie hält sogar einen Vortrag, irgendwas mit Gender. Endlich wieder eine gute Auftragslage, endlich wieder voll im Stress, hat sie erleichtert geseufzt, als sie schwungvoll um den Golf herumgegangen ist, um ihrem Sohn die Tasche herauszunehmen, dabei sind ihre ausgeföhnten, honigfarbenen Locken im Takt auf- und abgewippt. Elias ließ sich einen Kuss auf die Wange drücken und stand zerzaust da. Ich vergönne Valerie Venedig, das ist das Schlagobers zum Alltag, und von mir aus vergönne ich ihr ein Liebesabenteuer, das ist die Karamelsoße darauf. Darüber weiß ich aber nichts. Alfred hält sich bedeckt, um mich oder sich selbst zu schützen, oder vielleicht weiß er wirklich nichts.

Ein paar Buben kommen aus der Umkleidekabine und steuern das Klo an, ich sehe kurz, durch den geöffneten Türspalt, dass Elias noch immer nicht im Dress ist, sein nackter Oberkörper nicht mehr kindlich, mager, knabenhaft, es zeichnet sich bereits ab, dass er Alfreds leptosome Arme bekommen wird. Er reißt gerade den schön gefalteten Fußballdress achtlos aus seiner Tasche, immer dieses Zornige in seinen Bewegungen, als würde er zu jeder einzelnen Handlung in seinem kleinen Bubenleben gezwungen. Die vorbeidrängenden Spieler riechen blümchenfrisch, diese Frauen verwenden alle Weichspüler, mit dem halten sie den Knabengeruch in Schach, so wie Valerie, der ganze Familiengeruch wird unter »Regenfrisch« oder »Sommerwind« begraben. Wenn Elias am Wochenende bei uns schläft, zieht er diesen Geruch hinter sich her wie einen synthetischen Geist.

Ich hasse Fußball, ich habe Bälle immer schon gehasst. So ein Ball ist eine Waffe, wenn man kein Ballgefühl hat, das Wort Gefühl ist völlig fehl am Platz, es sollte Ballgewalt heißen. Was hat sich Mutter Natur nur dabei gedacht, dieses Ball-Gen in den Genpool zu werfen, es so sorglos den ohnehin schon Stärksten und Gröbsten zu überlassen? Wahrscheinlich war das, was man als Ballgefühl bezeichnet, einmal als Früchtegefühl vorgesehen, damit man vom Baum fallendes Obst besser fangen kann, oder es war ursprünglich als Steingefühl gedacht, denn so ein Stein soll gut in der Hand liegen, bevor man ihn einem anderen Neandertaler über den Schädel zieht. Aber vermutlich hat sich Mutter Natur gar nichts dabei gedacht, wie so oft, da war einfach ein dominantes Gen, das einen grandiosen evolutionären Vorteil gebracht hat, und das wiederum wäre eine Erklärung für die Besessenheit der Gesellschaft von dieser Ballspielerei, ihre Hysterie bei jeder EM, WM, Olympiade.

Der Trainer kommt auf uns zu, verkaterter Eindruck, er trägt eine Kappe, aus der die blonden Haare hervorsprießen und über die verschwollenen Augen hängen, er nimmt die Kappe kurz ab, kratzt sich den niedergetretenen Binsengraspolster, setzt sie wieder auf, die Nase zu großporig für das Alter. Er nickt uns zu, geht in die Kabine, zieht die Tür zu, wir hören gerade noch, wie er sagt: Morgen, Teambesprechung.

Jetzt setzen sich die Eltern in Bewegung, ich stehe da mit meiner Jacke, soll ich klopfen? Ich sehe Elias vor mir, peinlich errötet, sich für mich schämend, die Stieftussi, die unnötigerweise mit der Regenjacke im Weg herumsteht. Ich lasse es gut sein und gehe hinter den anderen her, zurück auf den Platz, wir sind eine pflichtbewusste Prozession, wir verteilen uns gleichmäßig im Zuschauerbereich. Samstäglicher Präsenzdienst am Nachwuchs, damit der Nachwuchs Teamfähigkeit lernt, Zusammenhalt, so etwas lernt man nicht mehr im alltäglichen Leben, überall nur sitzender Frontalunterricht und jeder gegen jeden und dazwischen alleine vor dem Bildschirm, also: Mannschaftssport.

Ich setze mich auf die Bank, der Wind ist von einer novemberhaften Bösartigkeit, keine Spur mehr von Spätsommer, meine Jacke ist zu dünn. Warum kann man bei so einem Wetter nicht schon drinnen spielen? Wir sitzen in Blöcken, es...