Das Ende der Natur - Die Landwirtschaft und das stille Sterben vor unserer Haustür

von: Susanne Dohrn

Ch. Links Verlag, 2018

ISBN: 9783862844029 , 272 Seiten

2. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 3,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Das Ende der Natur - Die Landwirtschaft und das stille Sterben vor unserer Haustür


 

WIESEN UND WEIDEN
Kein Platz für Mädesüß, Klappertopf und Männertreu


Wiesen und Weiden sind Menschenwerk, ihre natürliche Vielfalt verdanken sie den Bauern. Es gibt sie, seit Menschen in der Jungsteinzeit begannen, sesshaft zu werden. Bauern haben sie dem Wald abgerungen, haben Bäume gefällt, auf die so entstandenen Grünflächen ihre Tiere getrieben und Äcker angelegt. Die Bäume des Waldes lieferten Viehfutter und Einstreu für die Ställe.1 Die biologische Vielfalt unserer Wiesen und Weiden entstand weitgehend aus dem schon vorhandenen Arteninventar, das der Beweidung standhielt oder sich ihr anpasste. Rinder, Schafe, Schweine und Ziegen sorgten dafür, dass neue Büsche und Bäume nicht nachwachsen konnten und verbreiteten mit ihrem Fell und in ihrem Dung die Pflanzensamen.

Die strikte Trennung zwischen Wald und Weide, wie wir sie heute kennen, gab es nicht. Das Vieh lebte vielerorts bis in die Neuzeit fast ganzjährig im Wald. Und zwar in großen Zahlen, wie ein Protokoll aus dem Jahr 1739 zum Vieheintrieb in den 4500 Hektar großen Kaufunger Wald in Nordosthessen/Südostniedersachsen zeigt: In ihn wurden jährlich 795 Schweine, 1173 Rinder und 3146 Schafe getrieben, im 21 000 Hektar großen Reinhardswald in Hessen waren es sogar 5459 Schweine, 3059 Pferde, 5869 Rinder, 19 374 Schafe und 718 Ziegen. Für kirchliche und weltliche Grundbesitzer war die Verpachtung von Weiderechten zur Schweinemast im Wald eine wichtige Geldquelle.2

Die tausendjährigen Eichen, die heute fälschlich als Urwaldrelikte angesehen werden, sind die Zeugen dieser Nutzung als Hute- oder Hudewald. Sie konnten nur deshalb so raumgreifende Kronen ausbilden, weil die Tiere die Flächen um sie herum kurzhielten und Platz schufen. Wo immer heute solche alten Eichenriesen stehen, kann man mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass es sich um Bäume aus einem als Viehweide genutzten Hutewald handelt. Mit dem Ende dieser gemeinschaftlich genutzten Wälder spätestens im 19. Jahrhundert verschwanden Vögel wie der Wiedehopf aus der Landschaft. Der etwa drosselgroße Vogel wirkt wegen seiner aufrichtbaren fünf bis sechs Zentimeter lange Federhaube viel größer, nistet gern in den Höhlen alter Bäume, zum Beispiel von Hute-Eichen, sucht aber in offenen Landschaften mit kurzer Pflanzendecke seine Nahrung.

Die großen Heuwiesen hingegen sind eine Erfindung der vergangenen 100 bis 150 Jahre. Für die Heuwiesen nutzten die Landwirte vor allem Flussniederungen. Dort leiteten sie das Wasser im Frühjahr durch »Flöße« – das sind kleine Gräben – auf die Wiesen. Die nährstoffhaltigen Schwebstoffe des Flusswassers düngten die Wiesen, beanspruchten also keinen wertvollen und knappen Stallmist, der für die Feldkulturen benötigt wurde. So sind auch die ehemals artenreichen Feuchtwiesen durch menschliche Nutzung entstanden, denn die ein- bis zweimalige Heuernte begünstigt Blütenpflanzen, die das Licht lieben. Mit der Mahd werden dem Gras Nährstoffe entzogen und die Saat der Blütenpflanzen kann ausfallen, bevor das Heu abgefahren wird. Die Heuwiesen waren eine Folge des steigenden Fleischkonsums im 19. Jahrhundert, weshalb die Landwirte mehr Viehfutter für den Winter einlagern mussten. Damals wurde Fleisch zur Ikone der gesunden Ernährung. »Die gewöhnlichsten Erfahrungen geben zu erkennen, dass das Fleisch vor allen anderen Nahrungsstoffen die größte Ernährungsfähigkeit besitzt«, schrieb Justus von Liebig, der Erfinder von »Liebigs Fleischextrakt«, nicht ganz uneigennützig in seinen »Chemischen Briefen«, die er ab 1841 regelmäßig in der Augsburger Allgemeinen Zeitung veröffentlichte.3

Im Laufe der Jahrhunderte passten sich menschliche Nutzung, Pflanzen, Insekten und Vögel auf Weiden und Wiesen einander an. Auf trockenen Böden leben Pflanzen, die lange Durststrecken ertragen können, wie der Wiesensalbei, auf nassen Standorten solche, die mit viel Feuchtigkeit klarkommen, wie die Kuckucks-Lichtnelke mit ihren ausgefransten rosa Blüten. Es gibt Wiesenpflanzen, die an saure Böden angepasst sind, und solche, die lieber auf kalkhaltigen wachsen, wie in der Schwäbischen Alb. Auf mageren Wiesenstandorten gedeihen andere Pflanzen als auf nährstoffreicheren. Deshalb gehörte früher zu jeder Region und jedem Bodentyp eine typische Wiesenlandschaft mit ihrer ganz eigenen Blütenpracht.

Es gab gelb blühende Schlüsselblumen-Wiesen, Storchschnabel-Goldhafer-Wiesen, Salbei-Glatthafer-Wiesen, Wiesenschaumkraut-Fuchsschwanz-Wiesen, SumpfdotterblumenWiesen, um nur einige zu nennen. Botaniker haben jeder dieser Pflanzengesellschaften einen Namen gegeben. Alle sind an bestimmte Standortvoraussetzungen gebunden und haben eine ganz spezifische Zusammensetzung. In manchen Fällen wachsen 60 bis 100 verschiedene Pflanzenarten auf einer solchen Wiese. Das hat wiederum eine entsprechende Vielfalt von Insekten zur Folge und von Vögeln, die sich von ihnen ernähren.

Je magerer die Böden, umso größer ist oft die Vielfalt, denn auf diesen Standorten sind die langsam wachsenden Hungerkünstler zu Hause. Einige haben ausgebuffte Strategien entwickelt, um unter diesen widrigen Umständen zu überleben. Der gelb blühende Große und Kleine Klappertopf bemüht sich gar nicht erst, selbst für ausreichend Nahrung zu sorgen. Er zapft lieber die Wurzeln benachbarter Pflanzen an, um ihnen Wasser und Nährstoffe zu rauben, weshalb die Bauern ihn nicht schätzen und ihn Milchdieb nennen. Versucht er bei der Magerwiesen-Margerite auf Futterraub zu gehen, beißt er allerdings auf Granit, beziehungsweise auf Holz. Sie bildet harte Bereiche, um sich gegen den Nährstoffklau zu wehren.4

Pflanzen auf trockenen Standorten verhindern trickreich, dass sie zu viel Wasser verlieren. Eine Möglichkeit ist: Verdunstungsfläche reduzieren. Das geschieht mit kleinen, fein zerteilten Blättern oder mit einer schützenden Wachsschicht. Oder sie produzieren ihren Schatten selbst. Das Habichtskraut trägt dazu unter seinen Blättern einen dicken Filz. »Wenn wir zwei gleich große Blätter im selben Momente von der Pflanze abtrennen und so in die Sonne legen, dass eines die nackte Ober-, das andere die zottige Unterseite den Strahlen darbietet; ersteres wird weit früher welken«, ist unter dem Titel »Sommerlust« in einem Beitrag des Bulletin de la Société des naturalistes luxembourgeois aus dem Jahr 1900 zu lesen. Und das, obwohl sich die Wasser abgebenden Spaltöffnungen nur auf der Blattunterseite befänden, schreibt der Autor und erklärt, warum diese Pflanzen ihre Blätter einrollen, wenn die Sonne es zu bunt treibt. Dann zeigt das Habichtskraut nämlich seine behaarte Unterseite zur Sonne. Fetthennen mit ihren dickfleischigen Blättern schaffen es sogar, die Sammler von getrockneten Pflanzen auszutricksen. »Wenn man sie ins Herbarium presst, wachsen sie zwischen den Trockenpapieren lustig weiter und entfalten ihre bis dahin verschlossenen Blüten.«5

Eines haben alle Wiesenpflanzen gemeinsam: Sie sind langlebig. Sie können Jahre, manchmal Jahrzehnte an einem Standort existieren. Sie sind darauf angewiesen, dass sie – allerdings nicht zu oft – gemäht oder von Tieren abgefressen werden, sonst würden mehrjährige Stauden, Büsche und Bäume nach und nach ihre Fläche erobern und sie verdrängen. Ihre Samen hingegen sind eher kurzlebig. Sie sterben innerhalb von einem bis fünf Jahren ab. Nur weniger als 20 Prozent der Saaten von Grünlandarten überleben länger.6 Vermutlich waren ihre Lebensbedingungen verhältnismäßig konstant und es gab kaum eine Auslese hin zu langlebigem Saatgut. Für meine kleine Wiese hat das eine praktische Konsequenz: Ich werde sie im kommenden Jahr vergrößern müssen, bevor die Samen ihre Keimfähigkeit verlieren. Denn für die geplante Fläche brauche ich nur die Hälfte des Saatgutes, das ich erhalten habe.

Hungerkünstler und Futterdiebe


Bis in die 1960er Jahre waren Wiesen und Weiden ein Eldorado für Pflanzen, Insekten und Vögel. Die Vielfalt der Gräser und Kräuter bildete ein Mosaik aus kurzem und hohem Bewuchs. Es gab trockene, feuchte und nasse Stellen, und entsprechend dicht oder dünn war der Boden bewachsen. Auf offenen Trittstellen konnten Schmetterlinge Mineralien aus dem Boden saugen und sich in der Sonne wärmen, es konnten sich Pionierpflanzen ansiedeln wie der Kreuzenzian, der zum Keimen offenen Boden braucht. Auf den unbefestigten Feldwegen lebte eine »Trittgesellschaft« aus Pflanzen, die an Störungen angepasst war, wie Vogelknöterich und Breitwegerich, die ihre Nährstoffe in den Wurzeln speichern und sich nach Verletzungen durch Viehtritt oder Wagenräder rasch wieder erholen können. Minze und Disteln, die von den Rindern ungern gefressen werden, lieferten Pollen und Nektar für Fliegen, Käfer und Schmetterlinge, auf die wiederum insektenfressende Vögel Jagd machen.

Viele dieser Standorte, wie die Bergwiesen im Harz, wurden über Hunderte von Jahren auf die gleiche Art und Weise bewirtschaftet. Die Bergleute dort hielten Vieh, vor allem robuste Rinder wie das Harzer Rote Höhenvieh oder die genügsamen Harzziegen, und legten für die Winterfütterung Heuwiesen an. Extensive Beweidung, regelmäßige Mahd und ein Mangel an Düngemitteln haben im Harz Juwelen der Artenvielfalt entstehen lassen, die je nach Höhenlage und Wasserversorgung eine ganz unterschiedliche Zusammensetzung der Flora und Fauna zur Folge haben. Weiterbestehen kann sie nur, wenn diese Art der Nutzung beibehalten wird – mit extensiver Beweidung und...