Das lässt einen nicht mehr los - Opfer politischer Gewalt erinnern sich

von: Nancy Aris

Evangelische Verlagsanstalt, 2017

ISBN: 9783374049370 , 464 Seiten

3. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 9,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Das lässt einen nicht mehr los - Opfer politischer Gewalt erinnern sich


 

Quelle: Archiv LASD Sachsen, Foto: Ralf Marten

Meine Nummer war die 80403: Eberhard Hoffmann


Eberhard Hoffmann wird am 19. Januar 1928 in Burgstädt geboren. Er wächst in einfachen Verhältnissen auf, sein Vater ist Justizangestellter, seine Mutter Näherin. Sein Vater wird 1942 zur Wehrmacht eingezogen, so dass Eberhard Hoffmann die letzten drei Kriegsjahre allein mit seiner Mutter verbringt. Er besucht die Volksschule und Mittelschule und wird 1944 mit der mittleren Reife entlassen. Mit sechzehn wird er gemustert, aber noch nicht kriegsverwendungsfähig geschrieben. Deshalb wird er vorerst in der Hitlerjugend notdienstverpflichtet und arbeitet im Büro der Standortverwaltung Burgstädt. Eberhard Hoffmann ist Angehöriger der Flieger-HJ, 1943 hat er die Segelflugprüfung A gemacht, im Januar 1945 wird er Fähnleinführer. Die Jugendlichen werden im Nachbarort für den Volkssturm ausgebildet: zwei, drei Tage an MG und Panzerfaust. Genau einen Tag bevor die Amerikaner in Burgstädt einmarschieren, wird Eberhard Hoffmann am 13. April eingezogen. Schon am nächsten Tag gerät er in Kriegsgefangenschaft und wird bis über den Rhein, nach Bad Kreuznach, in ein Lager gebracht. Im Juni schmuggelt er sich in das Entlassungscamp und kehrt nach Hause zurück. In Chemnitz beginnt er eine Ausbildung als Zimmerer.

Innenansicht einer Baracke im Lager Mühlberg.

Quelle: Eberhard Hoffmann, Zeichnung: Walter Reiche

Die Häftlinge sind sich selbst überlassen, nicht einmal ein Essensgefäß erhalten sie. »Das Schlimmste war, dass man weder einen Löffel noch ein Essgeschirr hatte. Da hat man erfahren, dass man versuchen soll, sich irgendwie im Lager was zu organisieren. Zu der Zeit, wo ich dort hingekommen bin, da waren schon keine brauchbaren Büchsen mehr vorhanden, und da haben wir uns geholfen mit einer Ofenkachel. Das war so eine abgewinkelte, so eine Eckkachel, und da ging immer gerade so der dreiviertel Liter Essen rein. Der schwappte so halb über, und dadurch, dass die Kachel auch sehr porös war, saugte das ja auch schon Feuchtigkeit auf.«

Zeichnung eines Häftlings vom Außengelände des Lagers Mühlberg.

Quelle: Eberhard Hoffmann, Zeichnung: Walter Reiche

Er hat praktisch die Filme geschildert, so dass man das miterlebt hat. Oder es gab Leute, die Romane erzählt haben. Oder eben auch die ein bisschen künstlerisch veranlagt waren, wo man dann angefangen hat, aus dem ›Faust‹ den ›Osterspaziergang‹ zu lernen. Also ich konnte den ehrlich gesagt auch aus dem Effeff. Es gab ja in Mühlberg ein recht ordentliches Lagertheater. Wir hatten einen Kommandanten, der war künstlerisch veranlagt, fast kulturbesessen. Ursprünglich war das gedacht für die sowjetische Garnison. Da wurde also ein Theater aufgebaut. Und da hat der – wir hatten ja viele Leute aus dem Vogtland hier, aus Klingenthal – Leute aufgeladen, nach Hause gebracht, und da mussten die Musikinstrumente holen. Ich weiß nicht, ob Hans Wolfgang Sachse ein Begriff ist? Der war Chef des Kurorchesters in Bad Elster. Und der baute ein Orchester, richtiges Orchester auf. Und nun wollten die Russen, die wollten ja auch tanzen, und da wurde eine Tanzkapelle aufgebaut, und damit sind die sogar nach Mühlberg in den Gasthof und haben dort zum Tanz gespielt, und hinter der Bühne haben die Bewacher mit der MP gesessen, damit also keine Kontakte zustande kamen. Und anschließend haben die uns wieder ins Lager reingefahren. Für die Inhaftierten war es eine willkommene Abwechslung, wobei das auch unterschiedlich war. Man hatte auf der einen Seite im Theater die Belustigung, auf der anderen Seite das Massensterben. Und da gab’s auch eine ganze Reihe Leute, die sich geweigert haben, überhaupt in das Theater zu gehen. Für uns junge Leute war das natürlich eine willkommene Sache. Ich hab manche Sachen vielleicht zehnmal gesehen.«

Entlassungsbescheinigung für Eberhard Hoffmann aus dem Internierungslager, Februar 1950.

Quelle: Eberhard Hoffmann

Im Winter 1946 ändert sich die Versorgungslage dramatisch, denn am 5. Dezember 1946 wird die Verpflegung in Mühlberg um die Hälfte reduziert. »Mit dem Moment begann eigentlich in Mühlberg das Massensterben. Dort sind dann innerhalb von einem Vierteljahr rund 2.000 Leute gestorben. Und da konnte man sich faktisch ausrechnen, wann das Lager leer ist.« Die Alten und Kranken sterben in diesem Hungerwinter zuerst, dann trifft es die Gefangenen quer durch die Bank. Insgesamt sterben 7.000 Gefangene, etwa jeder Dritte. 1948 wird das Speziallager Mühlberg aufgelöst. 6.500 Insassen werden entlassen, der Rest, etwa 3.500 Gefangene, kommt nach Buchenwald.

Eberhard Hoffmann wird aufgefordert, seinen Entlassungsschein zurückzugeben. Die Erinnerung an die Internierungslager soll getilgt werden.

Auch Eberhard Hoffmann. Die Verhältnisse sind dort etwas besser, doch die Unfreiheit noch größer.

Die ganzen Jahre hat Eberhard Hoffmann keinen Kontakt zu seiner Familie, weiß nichts von seinen Eltern, darf nicht schreiben. »Es gab ja eine absolute Isolierung, es gab keine Verbindung. Ich persönlich habe in allen viereinhalb Jahren nichts, nicht das Geringste von zu Hause gehört und gewusst. Und umgekehrt ja genauso. Mir ist nicht gelungen, irgendwelche Kassiber rauszubringen. Am Anfang ist es vielen gelungen, ein kleines Zettelchen mit Adresse und teilweise auch größere Dinge rauszubringen. Es gab die Engel von Mühlberg und Neuburxsdorf, das waren Frauen, die gekommen sind und geguckt haben, ob irgendwo was ist und das dann nach Hause geschickt haben. Aber sonst war absolut keine Verbindung da.«

Eberhard Hoffmann in den 1950er Jahren.

Quelle: Eberhard Hoffmann

Eberhard Hoffmann gewöhnt sich wieder ein und arbeitet zunächst als Maurerumschüler, um nicht zur Wismut zwangsverpflichtet zu werden. In nur einem Jahr und drei Monaten legt er die Gesellenprüfung ab, und nach drei Jahren hat er den Meisterbrief in der Tasche. Im Abendstudium qualifiziert er sich dann zum Bauingenieur weiter. Beruflich läuft es gut, auch wenn er nicht bereit ist, in die Partei einzutreten. Er erzählt seinem Betriebsdirektor von Buchenwald. Daraufhin lässt man ihn in Ruhe, man schätzt seine Qualifikation. 1953 heiratet er und wird Vater. Die Familie entscheidet sich dafür, in der DDR zu bleiben. Eberhard Hoffmann verschweigt seine Zeit im Lager nicht. Als er in die Produktionsleitung aufsteigt, gerät er in den Fokus der Staatssicherheit. Sie lädt ihn mehrmals vor und versucht, ihn anzuwerben, doch ohne Erfolg.

Werwolf

Der Werwolf als nationalsozialistische Partisanenbewegung wurde vom Reichsführer SS, Heinrich Himmler, im September 1944 als »letztes Aufgebot« ins Leben gerufen. Neben dem Volkssturm sollten die Werwölfe als Freischärler-Verband Sabotageakte gegen die vorrückenden Armeen durchführen, hinter den feindlichen Linien aus dem Hinterhalt agieren und kriegsmüde Deserteure und Verräter in den eigenen Reihen ausschalten. Der Begriff »Werwölfe« tauchte erstmals am 28. Oktober 1944 in einer Rede Himmlers vor Angehörigen des ostpreußischen Volkssturms auf. Da der Aufruf zur Bildung einer solchen Untergrundorganisation und den entsprechenden Spezialeinheiten erst kam, als alliierte Truppen bereits auf deutschem Boden standen, bildeten sich nur wenige Gruppen. Neben der Rekrutierung der verdeckten Kämpfer aus den Wehrmachtsverbänden sollten Freiwillige in der zivilen Bevölkerung gefunden werden. Am Ostersonntag, dem 1. April 1945, verlas Goebbels einen Rundfunkappell, in dem er den Werwolf als »spontane Untergrundbewegung« bekannt machte und Unterstützung einforderte. Die geforderte Bildung von Werwolfverbänden fand jedoch nur geringe Resonanz. Eine Bewegung, in der sich, wie von Goebbels gefordert, die ganze Bevölkerung versammeln sollte, kam nicht ansatzweise zustande. In einigen Gebieten gab es Einzelaktionen. Werwölfe legten Feuer oder ermordeten Zivilisten, denen sie »ehrlosen Verrat« vorwarfen. Vieles wurde aber propagandistisch aufgebläht. Aktionen, wie die Ermordung des Aachener Bürgermeisters Oppenhoff, die aufs Konto der SS gingen, wurden den Werwölfen zugerechnet, um sie als allseits schlagkräftige Bewegung zu präsentieren und die Angst zu schüren. Nach Hitlers Tod untersagte Karl Dönitz, Oberbefehlshaber der Wehrmacht, am 5. Mai 1945 weitere Werwolf-Aktionen als illegale Kampftätigkeit. Die Alliierten waren von der »Werwolf«-Propaganda dennoch verunsichert. Obwohl sie kaum auf die erwarteten Partisanen stießen, brach in dem von den Sowjets befreiten Gebiet eine regelrechte »Werwolf«-Hysterie aus. Tausende Jugendliche wurden aufgegriffen und als vermeintliche Partisanen in sowjetische Speziallager verbracht.

Volker Koop: Himmlers letztes Aufgebot: Die...