Beruf und Berufung - Wie aktuell ist das reformatorische Berufsverständnis?

von: , Anika Füser, Gunther Schendel, Jürgen Schönwitz

Evangelische Verlagsanstalt, 2017

ISBN: 9783374048892 , 288 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 8,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Beruf und Berufung - Wie aktuell ist das reformatorische Berufsverständnis?


 

Der Bedeutungswandel des Berufs


Eine soziologische Reflexion


Thomas Kurtz

Im Jahre 1960 hat der deutsche Soziologe Helmut Schelsky einen bis heute viel beachteten kleinen Aufsatz mit dem Titel »Die Bedeutung des Berufs in der modernen Gesellschaft«1 veröffentlicht. Schelsky bemerkt darin, dass der Beruf in der modernen Gesellschaft zwar seine ehemals alles beherrschende Stellung für das Leben der Menschen eingebüßt hat – womit er indirekt auf die Bedeutung des Berufs in der mittelalterlichen Gesellschaft anspielt, in welcher der Beruf die Existenz des »ganzen Hauses« sowie das »ganze Leben« der in ihm arbeitenden und wohnenden Personen bestimmte –, dass er aber, obschon nun nur noch ein Teil des Lebens neben anderen, nicht bedeutungslos geworden ist. Obwohl Schelsky sehr wohl die Gefahr sieht, dass der »in seiner Lebensbedeutung reduzierte Beruf nur als Mittel und Zweck für die Lebenserfüllung in anderen Lebensbereichen angesehen« und damit zum »bloßen Job« werden könnte2, betont er, dass auch in dieser teilhaften Bedeutung, die der Beruf jetzt noch für das menschliche Leben hat, »die Berufstätigkeit immer noch der wichtigste Faktor für die soziale Bestimmung des menschlichen Lebens in unserer Kultur« ist3 und dass die Menschen »im wesentlichen nach ihren Berufen sozial eingeordnet« werden4. Der Beruf ermögliche nämlich den Menschen nach wie vor den Großteil ihrer Sozialkontakte und strukturiert ihren Alltag und ihren Lebenslauf; er bestimmt ihre Einkommens- und ihre Vermögensverhältnisse und damit auch ihren sozialen Status und ihr soziales Prestige. Und schließlich prägt er ihre Selbst- und Fremdeinschätzung, also das Bild, das sie von sich beziehungsweise andere von ihnen haben.

Wer sich heute mit dem Begriff des Berufs auseinandersetzen will, ist natürlich auf eine sehr viel längere Tradition verwiesen. Grundlegende Erörterungen zum Berufsproblem lassen sich bis auf Plato und Aristoteles zurückverfolgen, wenngleich noch ohne Gebrauch des Berufsbegriffs, sondern eher im Hinblick auf körperliche Arbeit. Der Beginn des Arbeitsbegriffs lässt sich nicht eindeutig datieren. Während die Antike bereits solch einen Begriff kannte, kommt die neuere anthropologische Forschung »zu dem Ergebnis, daß die meisten Jäger und Sammler keinen Begriff von Arbeit hatten und nicht viel Zeit für Tätigkeiten im Zusammenhang mit ihrer Selbsterhaltung aufbrachten«.9 Sie hatten aber umso mehr Zeit für das, was wir heute als Freizeit bezeichnen, »etwa am Lagerfeuer beisammenzusitzen und sich zu unterhalten«.10 Hinzu kommt, dass in diesen Jäger- und Sammlergesellschaften die einzelnen Tätigkeitsformen kategorial nicht voneinander zu trennen waren, »es existierte kein sinnvoller Gegensatz zur ›Arbeit‹, der diesen Begriff sinnvoll gemacht hätte«11 – dies änderte sich grundlegend erst mit der Entstehung der agrarischen Produktionsweise. In der Welt der Antike galten demgegenüber vor allem der Landbau sowie alle handwerklichen Tätigkeiten als Arbeit. Allgemein gesehen, war allerdings in der Antike Lohnarbeit mit dem Status eines freien Bürgers nicht zu vereinbaren. Dies gilt sowohl für das alte Griechenland wie auch für das Römische Reich. Der Arbeitsbegriff war im Wesentlichen reserviert für die Tätigkeiten von Knechten, Sklaven, Fremden und im Krieg bezwungenen Feinden.

Johannes

Jurist, arbeitet als Compliance Officer und Syndikusanwalt bei einer Versicherung

»Meine Arbeit ist für mich ein wichtiger Bestandteil meines Lebens. Ich kann dahinterstehen, was ich tue und mich damit identifizieren. Meine Arbeit ist für mich spannend und interessant und ich habe sehr viele total nette Kollegen, darum gehe ich wirklich gerne zur Arbeit.«

»Als ich angefangen habe, Jura zu studieren, hatte ich noch keine konkrete Berufsvorstellung, sondern wollte einfach das Rechtssystem und was damit zusammenhängt besser kennenlernen und verstehen.«

»Besonders viel Spaß macht es mir, wenn ich berate oder eine Schulung gebe und ich merke, dass ich den Leuten weiterhelfen konnte und sie etwas gelernt haben. Ich mag die Atmosphäre mit den Kollegen. Mittags geht man essen, dann wird erzählt, und das ist oft sehr lustig.«

»Beruflich belastend ist, wenn es zu Stress kommt. Wenn wir viel zu tun haben und ich merke, dass wir den Erwartungen nicht gerecht werden, weil Leute auf Antworten warten zum Beispiel, und wir nicht in der Lage sind, rechtzeitig zu liefern, weil wir noch zehn andere Dinge vorher tun müssen. Das ist dann unbefriedigend. Aber bis jetzt war es noch nie so, dass ich das irgendwie mit nach Hause genommen hätte.«

»Wenn Geld keine Rolle spielen würde, würde ich auf jeden Fall mehr Musik machen wollen, aber ich weiß nicht, ob ich meinen Job komplett aufgeben würde. Vielleicht ein bisschen die Arbeitszeit reduzieren und dann gucken, wie es sich entwickelt.«

»Für meine berufliche Zukunft wünsche ich mir, dass ich weiterhin mit so netten Kollegen zusammenarbeite. Und dass ich weiterhin in meiner Funktion arbeiten kann – das kann ich noch für eine lange Zeit weitermachen, wenn das Team so bleibt, wie es ist. Das wäre echt das Wichtigste.«

Generell jedoch fungierte der Beruf in der geburtsständischen Gesellschaft als ein zugeschriebener sozialer Status. Dies heißt nicht, dass berufliche Tätigkeiten nicht erlernt werden mussten. Es bedeutet aber, dass nicht jeder diese erlernen konnte und durfte. Ein kurzer Blick auf die Lehre im Alten Handwerk der mittelalterlichen und frühmodernen Gesellschaft kann dies veranschaulichen: Das strukturbestimmende Merkmal für die Reproduktion des Arbeitsvermögens war dort nicht so sehr die Qualifikation des Lehrlings, sondern eine – moralisch codierte – beruflich-korporative Sozialisation desselben. Auch in der Struktur der handwerklichen Berufserziehung spiegelt sich wider, dass in der stratifikatorisch differenzierten Ständegesellschaft die Ehre als das wichtigste Abgrenzungskriterium fungierte. Das Leitbild der Lehre war die durch den Meistertitel zu erreichende Ehrbarkeit, und deren Lehrziel war es, ehrbare Gesellen zu erziehen. Diese auf das Erreichen von Ehrbarkeit hin ausgerichtete Berufserziehung im Rahmen der Zünfte des Alten Handwerks war familial als eine Form nichtintentionaler Erziehung organisiert, mit dem allgemeinen Ziel der Integration in die ständische Gesellschaft. Der Heranwachsende wurde über das Erlernen eines ehrbaren Berufs im Mitvollzug des Lebensalltags der Meister-Familie Mitglied einer ehrbaren Korporation und gehörte damit zur städtischen Bürgerschaft.

Der Bedeutungswandel des Berufs kann bestimmt werden als Übergang von einer moralischen Bestimmung der Arbeit (Ehre, Religion, Berufung) hin zu einer qualifikationsdominierten Form des Berufs als qualifizierte Erwerbsarbeit.35 Die Form der Arbeit, die heute (immer noch) als nahezu selbstverständlich vorgefunden hingenommen wird, hat sich im Wesentlichen mit der Durchsetzung des Industriekapitalismus etabliert. Nicht nur die Wirtschaft ist zu einem ausdifferenzierten Subsystem der Gesellschaft geworden, sondern auch die Arbeit hat im Zuge der Industrialisierung eine »große Transformation« hin zur Form der Erwerbsarbeit durchgemacht36. Gleichwohl muss der Entlohnungsaspekt nicht auf die Form der Erwerbsarbeit beschränkt sein, auch andere Arbeiten werden in der einen oder anderen Art und Weise entlohnt: Die Trauerarbeit dient der Verarbeitung eines Schmerzes, die Beziehungsarbeit kann eine neue Vertrauensbasis in der Beziehung ermöglichen, und mit Erholungsarbeiten kann die für den Beruf nötige Arbeitskraft regeneriert werden. So gesehen kann man die Arbeit als eine Form beschreiben, die auf der einen Seite Mühe, also Arbeit, ist und auf der anderen Seite Entlohnung der Arbeit.

Wenn man die aktuellen Diskussionen verfolgt, so kann man ohne Zweifel feststellen, dass Arbeit und Beruf in der modernen Gesellschaft zum Problem geworden sind. Während sich (wie bei Helmut Schelsky beschrieben) im Alltagsleben Personen immer noch zu einem großen Teil über ihren erlernten und, wenn es gutgeht, auch ausgeübten Beruf identifizieren und gegenüber anderen darstellen, wird heute in den Massenmedien und in der Wissenschaft – zwar mit einigen Gegenstimmen42, aber doch immer öfter – von einer Krise bzw. einem Ende von Arbeit und Beruf gesprochen und geschrieben. Für den Münchner Soziologen Ulrich Beck43 etwa korrespondiert dieses herauf beschworene Ende mit dem Ende der von ihm so genannten »Vollzeiterwerbsarbeitsgesellschaft«, womit gemeint ist, dass der Erwerbsgesellschaft die Arbeit ausgehen würde. Diese These ist gleichwohl keine Erfindung der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts, sondern sie ist bereits vor nunmehr fünfzig Jahren von der deutschen...