Allgemeinbildung in der Akademischen Welt - Geistes und Naturwissenschaften - Band 2

von: Gerd Breitenbürger

epubli, 2017

ISBN: 9783745095876 , 706 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 3,49 EUR

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Allgemeinbildung in der Akademischen Welt - Geistes und Naturwissenschaften - Band 2


 

1 Heuristik: Plafonds und Schemata


1.1 Standard: Spekulation/Hypothese/Theorie/Kritik


Auch Denken lernt man "by doing", indem man Fragen stellt und sich die Dinge überlegt. Descartes behauptet, weil er eine Frage hat: cogito ergo sum (auch cogito sum), ich denke, also bin ich. Wer sich selbst nur wahrnimmt, kann sich täuschen. Wo ist Sicherheit zu haben. Elvira fasst sich kürzer und bescheinigt Oskar und sich selbst, dass sie beide ein Bewusstsein haben: „Denkste“, sagt sie, wenn sie denkt, Oskars Gedanken gehen in die falsche Richtung. Phantasien und Assoziationen erschließen dem Denken neue Möglichkeiten. In der Meditation kommt es zur Ruhe. Wachsame Wahrnehmung der inneren und äußeren Welt ist eine wesentliche Voraussetzung, um in einer ungeordneten Datenfülle Ordnung zu stiften, mit Hilfe der Sprache und ihrem Medium, dem Bewusstsein. Denken ist möglich, weil Symbole und Zeichen Bedeutungen haben und Beziehungen eingehen können. Es kann spontan erfolgen oder kühl objektivierend, was dem wissenschaftlichen Stil entspricht. Beides sind Äußerungen des Temperaments bei unterschiedlichen Gelegenheiten und Temperaturen.

"Lernen" könnte man mit dem "Reagieren" im Sinne von Dressur beginnen lassen, das auf Impulse, d. h. auf jeweils einen bestimmten Reiz erfolgt. Der Behaviorist zirkelt eng um diesen Begriff herum: Es gibt Lernen und Verlernen, Umlernen, neu Lernen und den Besitz von Lernfähigkeit überhaupt. Wiederholungen eines Lernvorgangs sind ausschlaggebend, damit Strukturen, Schemata, Automatismen, kurz, aber nicht ganz zutreffend "Denkschemata" genannt, sich einschleifen. Das Üben am Klavier und die Elektro-Dressur des Plattwurms in der Glasröhre ergeben ein Verhalten, das anschließend abrufbar ist. Ein mechanisches Lernpensum ist relativ zuverlässig, anderes wird in den Situationen, in denen es abgerufen wird, frisch interpretiert und frei ausgestaltet. Examenswissen sollte nicht nur aus auswendig gelerntem Stoff bestehen. Man sollte darüber verfügen.

Wer sagen kann, "wer hätte das gedacht", weiß, dass Denken unvollkommen ist. Es ist immer ganzheitlich aber unvollkommen, man könnte sagen, „menschlich“. Das heißt, es wird von der Kategorie der Kontingenz, der Möglichkeit, bestimmt. Auch sie kann er nur denken, indem er die Notwendigkeit mitdenkt. Gott als Inbegriff aller Möglichkeiten kann also keine Kontingenzen haben. Eine Kategorie muss immer auch in ihrer Nullversion vorstellbar sein. Fehlerhaftes Denken ist Denken, das immer möglich ist, Fehler werden schon mal aufwendig gesucht, auch mit wissenschaftlichen Methoden und systematisch. Die Reissfestigkeit der Wand einer Weltraumrakete hängt auch von der grenzwertigen Außentemperatur ab. Nach einer Katastrophe, es war beim Start nur wenig kälter als erlaubt, fand man den Systemfehler in den Dichtungsringen. Man hatte die Möglichkeit nicht gesehen.

Klar ist, dass der Mensch schnell zu lernen in der Lage ist und dass er in bestimmten Situation überhaupt nicht zu lernen bereit ist. Es ist ein Geheimnis. Denn wenn man sagt, die Triebe lassen ihm durchaus die Wahl, nicht immer aggressiv in derselben groben Richtung Elvira schon im Sandkasten die Haare auszuraufen: Wieso denkt er sich nicht eine Kultur aus, in der alle freundlich miteinander sind in quasi familiären Verhältnissen. Was in mikrosozialen Gesellschaften möglich ist, wieso schafft der Künstler der Transfers, der homo sapiens, es nicht, es auf die Meso- und die Makrowelt zu übertragen. Die richtige Methode müsste doch zu finden sein, die einigermaßen funktioniert; denn sie würde von der Evolution doch üppigg belohnt werden.

In 2700 Utopien hat der Mensch seit der Antike tatsächlich diesem drängenden Wunsch Ausdruck verliehen. Aber eher tötet das Denken im wahrsten Sinne des Wortes als dass es die Utopie umzusetzen geneigt oder in der Lage wäre. Es könnte sein, dass die Evolution vom Philosophen Gottfrield Wilhelm Leibniz (gest. 1716) schon längst gültig interpretiert worden ist: Wir leben in der besten aller möglichen Welten. Das könnte zynisch gemeint sein, relativierend im christlichen Sinn, optimistisch oder pessimistisch. Auf jeden Fall hat man sich darüber lustig gemacht, weil die Qualität aller kontingenten Welten, für die Gott zuständig wäre und gebraucht würde, schon zu wünschen übrig ließe. Eine Welt ausdenken heißt nicht gleich gut denken, optimal denken, zu Ende gedacht haben. Wer innerhalb der Grenzen, auch der geistigen, einer Schreckutopie lebt, hält sie vielleicht für eine der besten aller Welten, nach Leibniz, und so ergeht es vielleicht auch uns. Es gab Menschen, die im Gulag als Opfer Stalins vom Väterchen Stalin schwärmten. Vielleicht ergeht es uns so und wir wollen es nicht merken. Mancher lebt in einer Schreckehe, einer Schreckfamilie und fühlt sich pudelwohl, weil er den Schrecken für normal hält. Der Barde Kreisler dichtet von der Zeit beim „Mütterlein“: „…glücklich war ich und neurotisch. Sorgenfrei und kriminell“. Es ist gar nicht schwer zu behaupten, die Gesellschaft, das Dorf, in dem man lebt, sei prima oder sei die Hölle. Daraus kann man ableiten: Vielleicht lebt der Mensch schon längst genau in der Utopie, die ihm zusteht, weil nur diese ihm möglich ist. Er ist an seinem Intelligenzplafond angelangt, einen Schritt weiter, und er ist seiner Wirklichkeit nicht mehr gewachsen. Dann müsste er sein ganzes Einkommen an den Staat abliefern (Staatsquote 100 %), was immerhin eine totale Entlastung vom Denken bedeutet. Er müsste es schaffen, schlagartig zu verblöden und das auch noch für erstrebenswert halten, so lange er noch kritisch unterwegs ist. Ganz wenige glauben, das sei schon alles bei einer Staatsquote von 4o % zu haben. Der Anarchist gönnt dem Staat überhaupt nichts, Staatsquote 0 % und verzichtet auf alle kollektiven Güter (Schule, Straßenbahn, öffentliches Schwimmbad, Straßenbeleuchtung). Glücklich, wer sie nicht braucht?

Alexander war der Große, weil er den besten Lehrer seiner Zeit, Aristoteles, hatte und in gediegenen Verhältnissen aufwuchs. Trotzdem war er unnötig grausam, nur um seine Ziele durchzusetzen. Die zwei Waisenkinder, die Friedrich II (gestorben 1250, König von Sizilien, deutscher Kaiser) isoliert, ohne jede Unterrichtung und ohne jeden Kontakt aufwachsen ließ, konnten gar nichts und mussten gnadenlos sterben. In ihrer kleinen Nirgendwo-Welt gab es nichts zu lernen. Dazwischen, zwischen dem sizilianischen Experiment und der akademisch-politisch-praktischen Welt des Alexander, liegen mehr als tausend Jahre, aber kein Zuwachs an Vernunft bei gebildeten Herrschern. Mit den Schulnoten hat das also wenig zu tun. Als Ernst Ferdinand Sauerbruch, (gest. 1951) der deutsche Lungenchirurg, seine Biographie Das war mein Leben (Auflage mehr als 100 000) veröffentlichte, war die erste Faksimile-Seite seinem Abiturzeugnis gewidmet. Er war offensichtlich stolz darauf, als gerade-noch-nicht-Analphabet und internationaler Thorax-Spezialist, der er dann wurde, mit der Durchschnittsnote 4,9999 das Abitur bestanden zu haben, praktisch alles "mangelhaft", nur Singen und Turnen "Genügend". Immerhin. Begründet stolz war er aber dann doch auf die nach ihm benannte "Sauerbruch'sche Kammer", mit der er die Lungenchirurgie begründete und Leben rettete.

Ganz offensichtlich ist es nicht ein schöner Bildungsstand, der uns auf den Weg zur Utopie setzen würde und ein mickriger, der uns von ihr abhält. Utopie kann man nicht lernen. Utopische Vorübungen haben, wie obiges Kreuzexperiment nahe legt, eine andere Quelle. Soziale Absicherungssysteme sind in Demokratien möglich, die den menschlichen Wert der Solidarität anerkennen, sie sind nicht möglich in solchen, die die Utopie zwar als Traum beschwören, aber sozialdarwinistisch konterkarieren.

Mit einem Wort, man kann die Utopie nicht lernen, nicht experimentell herstellen, nicht ausdenken. Was rätselhaft einem Individuum glücken mag, bleibt für die Gemeinschaft ein Nirgendort der Hoffnung.

1.1.1 Spekulation


Denken kann man spüren, wenn man konzentriert überlegt. Mancher leitet es hörbar ein mit einem "Moment mal." Man greift einen Gedanken auf und verwirft ihn, weil man einen anderen attraktiver findet. Man überlegt, weil man ein Problem hat. Man nähert sich ihm von verschiedenen Seiten, wie in einem individuellen brain storming, das noch ergiebiger in der Gruppe ist. Nimmt sich etwas Zeit und versucht festzuhalten, was man eigentlich will. Wenn es jetzt etwas anspruchsvoller wird, thematisch und in der Bewertung der Zurechenbarkeit der einzelnen Gedanken, dann kommt man zur Spekulation. "Erkenntnis des Allgemeinen in abstracto" sagt Kant, sei Spekulation, also jenseits der Erfahrung. Welches Geistige liegt jenseits der Erfahrung? Elviras "krause Haare, krauser Sinn"- Charakter und was er produziert, liegt jenseits Oskars praktischem Horizont, ist also immer geistig zu nennen. Er spekuliert, in abstracto. Der präzise, logisch operierende Geist, sagt Oskar sich, was bringt er mehr, wenn der krause es auch tut. Gegenteilig wäre das Denken mit dem Holzhammer, Vorschlaghammer, Hammer, auch dies Sache der Philosophie. Das ist das Thema von der Angemessenheit der Methode. Ist diese krause nicht sogar die frühere und die ursprünglichere, mit der begehrten Nähe zur Phantasie und Kreativität. Sollte man sie nicht dem glasklaren Denken untermischen, wie Hefe dem Teig, damit er aufgeht. Die Psychologie sieht das durchaus so. Wenn Oskar das als seine momentane Erkenntnis bewertet, hat er über eine allgemeine Frage abstrakt spekuliert, und erfolgreich jenseits der Erfahrung, aber zurückgebogen auf die Erfahrung. Wer ein Problem hat, muss nicht kurz einmal nachdenken, er muss spekulieren, die Sache hin und her wenden. Das...