Das gibt's nur in Wien - Eine autobiographische Spurensuche

von: Dietmar Grieser

Amalthea Signum Verlag GmbH, 2017

ISBN: 9783903083967 , 256 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 12,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Das gibt's nur in Wien - Eine autobiographische Spurensuche


 

Die Waldohreulen von Stammersdorf


Zum echten Wiener gehört, daß er seine Stadt kennt. Und da er außerdem stolz auf sie ist, zeigt er sie auch gerne her. Besucher aus den Bundesländern oder aus dem Ausland, die das Glück haben, über Freunde oder Verwandte in Wien zu verfügen, werden infolgedessen mit Angeboten überschüttet, müssen ihren »private guides« an die entlegensten Örtlichkeiten folgen, kommen kaum zum Luftholen. Daß sich das »Programm«, das sie zu absolvieren haben, oft eher an den Neigungen der Führer orientiert als an denen der Geführten, enthebt Letztere nicht der Verpflichtung, ihren Gastgebern Lob und Dank zu zollen: Ohne Sie/Dich/Euch hätten wir nur einen Bruchteil dessen gesehen/erlebt/genossen, das wir gesehen/erlebt/genossen haben. Die Konsequenzen fallen unterschiedlich aus, richten sich nach der Kondition der Gäste: Die einen, überwältigt von der Vielzahl der empfangenen Eindrücke, melden sich nächstes Jahr zu einem weiteren Wien-Besuch an; die anderen, erschöpft von den Mühen unausgesetzter Zwangsbeglückung, gehen auf Distanz und schwören sich: Nie wieder Wien!

Ein eigenes Kapitel bilden jene, die sich ihr Wien-Programm selber mitbringen und ihre Gastgeber damit bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit herausfordern. Es sind jene Alles- und Besserwisser, die im Vorfeld ihrer Wien-Reise von dieser oder jener außerplanmäßigen Sehenswürdigkeit gehört haben, zu der ihnen nun der geplagte Gastgeber den Weg weisen soll – nach dem Motto: Ihr habt ja keine Ahnung, was es in eurer Stadt alles gibt.

Der Wiener, der bis dato festen Glaubens gewesen ist, über seine Stadt alles, wirklich alles zu wissen, kann dadurch in schwere Bedrängnis geraten: Wo mag sich jene obskure Kleinbühne befinden, jene verfallene Wallfahrtskapelle, jenes aserbeidschanische Spezialitätenrestaurant, von denen ihm die Gäste vorschwärmen? Was tun, wenn selbst Baedeker und Google jegliche Auskunft über Geheimtreffs dubioser Sekten, über den Standort seltener Gewächse oder – besonders krasses Beispiel – über den Einstieg zu jenem unterirdischen Geheimgang verweigern, in dem ein renommierter Literaturverlag angeblich nach wie vor riesige Buchbestände aus den späten Vierzigerjahren lagert?

Wie steht der gebildete Wiener vor seinen ausländischen Gästen da, wenn er von alledem keine Ahnung hat? Er wird sich, von deren Wissensvorsprung beschämt, jede erdenkliche Mühe geben, den Dingen auf die Schliche zu kommen, und das kann in manchen Fällen ganz schön anstrengend sein. Gelangt er jedoch ans Ziel, empfängt er doppelten Lohn: Sein angeschlagenes Selbstbewußtsein ist wiederhergestellt, seine Themenführerschaft gesichert, sein eigener Wissensstand erweitert – Mehrwert an allen Fronten.

Auch ich bin von neunmalklugen Wien-Besuchern wiederholt in Verlegenheit gebracht worden. Eine meiner größten Herausforderungen war die Sache mit den Waldohreulen. Juliane B. aus dem westfälischen Lippstadt, eine meiner engsten Freundinnen im Nachbarland, hatte in einem der deutschen Fernsehprogramme einen Bericht über die in ihren Breiten kaum anzutreffenden Waldohreulen gesehen und, elektrisiert von der überraschenden Nachricht, den Entschluß gefaßt, für ein paar Tage nach Wien zu kommen. Ein versprengter Schwarm dieser seltenen Tiere, jedem Ornithologen und Lateiner als Asia otus, doch kaum einem von ihnen von Angesicht zu Angesicht vertraut, mache – so teilte der Kommentator des betreffenden Fernsehbeitrags mit – jedes Jahr Anfang November auf den Baumwipfeln eines Wiener Vorstadtfriedhofs Station, verharre dort den Winter über und setze sodann zum Heimflug in sein Stammland an. Den gefiederten Gästen beim Aufenthalt an ihrer Zwischenstation zuzusehen, sei ein einzigartiges Schauspiel, Ornithologen aus allen Erdteilen kämen zu diesem Zweck nach Wien und legten sich an dem betreffenden Ort auf die Lauer – ausgerüstet mit Fernrohr und Kamera. Das Unternehmen – so hieß es weiter – verlange allerdings Geduld: Die scheuen Tiere hielten sich versteckt, seien der großen Entfernung wegen kaum mit bloßem Auge wahrzunehmen und ihres hellen Gefieders wegen auch nur schwer photographisch festzuhalten.

Meiner aufgeregten Juliane ihren verwegenen Plan auszureden, schien unmöglich. Die Wiener Waldohreulen hatten von ihrer Phantasie in einem Maße Besitz ergriffen, daß mir klar war: Ich mußte zur Tat schreiten. Ich hängte mich also ans Telefon und rief der Reihe nach sämtliche Wiener Friedhöfe an. Viel Hoffnung machte ich mir nicht: Die Toten der 1,8-Millionen-Stadt sind über 56 Gottesäcker verteilt, nicht eingerechnet die aufgelassenen, von denen nur noch letzte Baumbestände übriggeblieben sind.

Wie nicht anders erwartet, blitzte ich mit meinem Rundruf der Reihe nach ab: Weder in Albern noch in Rodaun, weder auf dem Kahlenberger noch auf dem Pötzleinsdorfer Friedhof wußte man etwas von den ominösen Waldohreulen, und einige der von mir kontaktierten Friedhofskanzleien hielten mich wohl überhaupt für einen Spaßvogel und legten unwirsch auf.

Das Friedhofsverzeichnis im Anhang des »Städteatlas Großraum Wien«, dessen ich mich bei meinen Recherchen bediente, ist alphabetisch angeordnet, ich arbeitete mich also von einem Buchstaben zum anderen durch. Endlich landete ich bei S: Siebenhirten, Sievering, Simmering, Stadlau. Doch auch hier überall Fehlanzeige. Nun war als nächstes Stammersdorf an der Reihe, nur noch gefolgt von Strebersdorf, Südwestfriedhof, Süßenbrunn und Zentralfriedhof. Längst sah ich jede Hoffnung schwinden, der Bericht im deutschen Fernsehen war vermutlich ein aufgelegter Schwindel, meine gute Juliane würde sich die Mär von den Wiener Waldohreulen wohl aus dem Kopf schlagen und ihre voreiligen Reisepläne wieder aufgeben müssen.

Andererseits hatte ich nun schon so viele Telefonate geführt, daß es auch auf ein weiteres nicht mehr ankam. Ich wählte also die Nummer des Stammersdorfer Friedhofs – ohne eine rechte Vorstellung davon zu haben, wo der überhaupt zu finden sei. Stammersdorf ist einer der Ortsteile des Großbezirks Floridsdorf, also jedenfalls im jenseits der Donau gelegenen äußersten Norden der Millionenstadt. Mag sein, daß ich vor Jahren einmal in einem der dortigen Heurigen eingekehrt war – ich erinnere mich nur an eine nicht endenwollende Straßenbahnfahrt. Es war eine Linie mit einer verdächtig hohen Nummer, was in Wien immer Peripherie bedeutet, Außenbezirk, Pampa. »Entrisch« sagen die Einheimischen dazu.

Doch hier – Stammersdorfer Friedhof, Telefonnummer 2921361 – gelangte ich tatsächlich ans Ziel. Die freundliche Beamtin, die sich meldete, ließ mich kaum ausreden: Das Wörtchen »Waldohreule« reichte aus, sie in Aktion zu versetzen. Ein Wortschwall drang an mein entzücktes Ohr: Jawohl, ich sei bei ihr an der richtigen Adresse, jedes Jahr zur gleichen Zeit träfen die Waldohreulen auf dem Stammersdorfer Friedhof ein, nur heuer sei aus diesem oder jenem Grund mit Verspätung zu rechnen, es werde wohl diesmal bis Allerheiligen dauern, bis es so weit sei. »Rufen Sie mich um den 1. November nochmals an, dann gebe ich Ihnen Bescheid.«

Ich bedankte mich überschwänglich, tat wie mir geheißen, wartete ein paar Tage zu, griff sodann ein zweites Mal zum Telefonhörer und – erhielt nun tatsächlich die ersehnte Auskunft: »Jawohl, mein Herr, seit gestern sind die Viecherln da, Sie können kommen!«

Angesteckt von der Ekstase des im fernen Westfalen dem großen Abenteuer entgegenfiebernden Eulen-Fans, rief ich Freundin Juliane an. Jubel brach aus, binnen weniger Minuten war der nächstmögliche Wien-Flug gebucht. Noch am Tag ihrer Ankunft – so wurde vereinbart – würde Juliane unter meiner Führung den Weg nach Stammersdorf antreten, um das erträumte Naturwunder in Augenschein zu nehmen.

Es war ein Schlechtwettertag mit Regenguß und Schlamm, die Fahrt mit Straßenbahn und Bus wollte tatsächlich kein Ende nehmen, die Wege waren aufgeweicht, fröstelnd und durchnäßt gelangten wir ans Ziel. Den Fotoapparat unterm Schirm verborgen, betraten wir den bei dem herrschenden Wetter noch ungastlicheren Gottesacker – den Blick starr auf die Wipfel der das Gelände beherrschenden Baumriesen gerichtet. Doch von den Waldohreulen keine Spur. Nichts von ihren krähengroßen Leibern, ihrem gelblich-braunen Federkleid, ihren orangeroten Augen, dem charakteristischen »Huh« ihres Reviergesangs. Sollten die ersehnten Gäste mittlerweile ausgeflogen sein? Herb enttäuscht eilten wir in die Friedhofskanzlei, die freundliche Dame schien uns schon zu erwarten. »Keine Sorge«, versuchte sie die Besucher zu beruhigen, »Milan wird sich gleich der Sache annehmen, ich werde nach ihm rufen. Milan kennt sich aus.«

Milan – das war der bosnische Hilfsarbeiter, der auf dem Stammersdorfer Friedhof nicht nur jeden Grabstein, jede Böschung, jeden Baum kannte, sondern auch über Verbleib und Lebensweise der auf »seinem«...