Alles auf Rot - Der 1. FC Union Berlin

von: Jan Böttcher, Frank Willmann

Aufbau Verlag, 2017

ISBN: 9783841214287 , 240 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Alles auf Rot - Der 1. FC Union Berlin


 

JAN BÖTTCHER
ANSTOSS


1

Ein kalter Februarmorgen 2017, ich rolle mit der S3 vom Berliner Ostkreuz in Richtung Köpenick. Mit der Straßenbahn geht es in den alten Ortsteil, zwischen den Wassern von Dahme, Spree und Müggelspree liegt die Freiheit 15, eine Restauration, in der wir uns mit den Verantwortlichen des Vereins treffen. Mit am Tisch sitzt auch Jochen Lesching, der seine Union-Karriere als Stadionheftmacher begann, später den Wirtschaftsrat mitgegründet hat und heute als Vorstandsvorsitzender der Union-Stiftung tätig ist. Wir haben uns bei Kaffee und Schrippen schon eine Weile angeregt über die Zukunft dieses Buches unterhalten, als Lesching sagt:

»Wir haben mittlerweile das Selbstverständnis: Union ist der Gesellschaft ein Stück voraus. Und womöglich können wir ihr etwas zurückgeben, was sie im Karussell des Kommerzes nicht mehr abbildet.«

Das Statement ließ mich seitdem nicht mehr los. Wohl auch, weil es sich mit einem Verdacht deckte, der mich nach einem halben Jahr persönlicher Annäherung an diesen Verein bereits beschlichen hatte. Etwas war anders im Staate Köpenick. Etwas wurde Eisern gerufen, war aber aus menschlicher Wärme gemacht. Etwas war laut, kam aber erstaunlicherweise gar nicht aus den Lautsprecherboxen. Etwas war offen und im Prozess – unbefestigt also wie der Waldweg hinter dem Stadion.

2

Die Verwirrung hatte gleich bei meinem ersten Stadionbesuch im Sommer begonnen. Ein Montagabend, Dynamo Dresden war zu Gast, mein Mitherausgeber sprach von einem Hochsicherheitsspiel, ich war sehr aufgeregt und freute mich auf das Ostduell. Aber dann trat der Presse- und Stadionsprecher Christian Arbeit auf den Rasen und verabschiedete die langjährige Vereinsbeauftragte für Menschen mit Handicap, Janine Jänicke, die mit 47 Jahren bei einem Motorradunfall tragisch ums Leben gekommen war. Ihr Bild auf der Leinwand, seine Trauerrede, statt Schweigeminute frenetischer Applaus, und selbst neben uns flossen die Tränen – auf der Pressetribüne.

Was ist ein Verein? Ein Verein ist einer, der die Menschen in sich aufnimmt, der niemanden alleine lässt, schrieb ich noch während des Fussballspiels angerührt in mein Stadionheft. Woraus zieht er seine Identität und seine Energie im Alltag? Er will ja eine Familie sein, also muss er Rückschläge hinnehmen und weitermachen, er muss die Toten in sich aufnehmen wie die Lebenden, die Siege wie die Niederlagen. Union lag derweil gegen Dynamo zurück, drehte das Spiel und führte, spielte schließlich unentschieden. Es war an diesem Abend nicht wichtig, ich war völlig durcheinander. Am Biergarten auf der Waldseite kondolierten Hunderte von Fans. Später übernahm der beim Unfall schwerverletzte Ehemann der Verstorbenen ihren Posten im Verein.

Immer wieder während der Saison sagte ich mir: Du fährst da jetzt als schreibender Fußballer hin. Weil du es liebst, wenn die Mannschaft gewinnt. Weil sie diese Erfolgsserie gestartet hat und vor Selbstbewusstsein strotzt. Weil sie derzeit so gut presst, dass der Gegner den zweiten Ball schon verloren gibt, wenn der erste noch gar nicht gespielt ist. Es macht richtig Spaß, dieser Mannschaft zuzusehen. Jetzt ist sie sogar Tabellenführer, ist das zu fassen!?

Das alles redete ich mir ein, obwohl ich längst verstanden hatte, dass mir jeder Spieltag weit mehr zu bieten hatte als neunzig Minuten Fußball. Ich hätte schon taub und blind sein müssen, um die Anfahrt durch Berlin nicht bereits zum Erlebnis 1. FC Union zu zählen. Egal wie früh ich auch aufbrach, überall in der S-Bahn unterhielten sich Fangrüppchen über ihre kleine Familie, über Arbeit, Urlaubspläne und Auswärtsspiele. Redselige Menschen, mit denen jeder schnell ins Gespräch fand. Als sich der Berliner Zugführer nach einer Minute Stillstand am S-Bahnhof Karlshorst zu einem »Ma die Tür freimachen, sonst jeht’s nisch weita« aufraffte, klang seine Stoffeligkeit wie aus einer fernen Welt. Und mir ging Leschings Satz wieder durch den Kopf: Vielleicht war diese rot-weiße Menge gar nicht der Querschnitt der Berliner Gesellschaft, sondern sie lebte in ihrer Verbundenheit zu Union ein glücklicheres Dasein.

3

In Zeiten des drohenden Konkurses oder Lizenzentzugs haben Widerständigkeit und Kampfbereitschaft den 1. FC Union Berlin am Leben erhalten, fast immer von innen, auch durch Initiativen aus der Fanszene. Die jüngste Vereinsgeschichte hat aber auch Aktionen zu bieten, die weit über die Stadt Berlin hinaus für Furore sorgten und die heute jeder Fußballinteressierte mit dem 1. FC Union verbindet: der von den Fans und Mitgliedern in Eigenregie durchgeführte Stadionausbau der Jahre 2008–2009, und das berühmte Weihnachtssingen, das alljährlich aus 20 000 Kehlen im Stadion An der Alten Försterei zu hören ist. Beide haben ihren festen Platz auch in »Alles auf Rot«.

Als Herausgeber hatten wir von Beginn an das Interesse, verschiedene Autorentypen zusammenführen: solche, die das Vereinsleben schon von innen kennen und dem Leser deshalb kenntnisreiche Einblicke ins Köpenicker Herz gewähren. Und eine mindestens ebenso große Menge unvoreingenommener Literaturprofis, die nicht sofort vor den Mythen, Legenden und auch Klischees eines Sportvereins erstarren, sondern mit ihm ins Eins-gegen-Eins-Duell gehen würden.

So wuchs für »Alles auf Rot« ein hochkarätiger dreißigköpfiger Kader zusammen, in Ost und West sozialisierte Autorinnen und Autoren, geboren zwischen den Jahren 1959 und 1992, vielfach für ihre literarischen und journalistischen Arbeiten ausgezeichnet. Sie alle beweisen mit ihren Texten, wie viele betrachtens- und lebenswerte Facetten der Fußballkosmos mittlerweile hat. Bestsellerautoren wie Benedict Wells und Thomas Brussig steuern ihre Live-Spielberichte bei. Annett Gröschner ist der Frage auf den Grund gegangen, inwieweit die Arbeiterkultur heute noch den 1. FC Union prägt. Der Filmregisseur Sönke Wortmann erzählt davon, was seinen alten Ruhrpottfußball mit der Alten Försterei in Köpenick verbindet. Starautorin Ronja von Rönne taucht mit Union-Schal im Fanblock der Gäste auf, kann aber das 0 : 1 gegen Aue damit nicht verhindern. Daniel Roßbach blickt zurück auf die Spieltaktik in der abgelaufenen Saison 2016/17, während Florian Werner sich den wichtigsten Liedern widmet, die bei einem Union-Heimspiel erklingen.

Was uns im Arbeitsprozess auffiel und immer glücklicher machte: Im Grunde kann nur ein Sammelband, eine Anthologie – mit ihren eigensinnigen Stimmen und Perspektiven – dem Gegenstand 1. FC Union Berlin gerecht werden. So spiegelt dieses Buch im Kleinen jene »Kraft der Vielen«, die der Verein selbst propagiert, indem er von Selbstbestimmtheit und Eigenverantwortung seiner Anhänger nicht nur redet wie ein hohles Wahlplakat, sondern sie lebt, befördert und nutzt.

Demgemäß hat der 1. FC Union Berlin im Sommer 2017 seine Stadionausbaupläne präsentiert. Die Alte Försterei wird größer. Von knapp 15 000 neuen Plätzen werden 10 300 im Stehplatzbereich sein, nur 4700 Sitzplätze – und es entstehen ganze 414 VIP-Plätze! Für einen Verein, der die Ambition besitzt, in die Bundesliga aufzusteigen und der dieses Ziel gerade ganz knapp verfehlt hat, sind diese Zahlen nicht mehr nur außergewöhnlich bodenständig. Sie sind eine Ansage an den überkommerzialisierten Ballsport von der Premier League bis ins ferne China.

Der Stadionausbau wirft auch ein Licht auf das Statement Jochen Leschings, das ich anfangs zitiert habe. Ist Union der Gesellschaft voraus, indem es die Bedürfnisse seiner Fans in wichtigen Entscheidungen ernst nimmt? Und haben Politik und Wirtschaft – diese Frage stellt sich überparteilich – in diesen Jahren nicht genau zu analysieren, wo sie die Menschen durch Entmündigung und Unterforderung verlieren? In Köpenick wissen ein paar Menschen, woraus ihr Verein gemacht ist – und sie wissen auch, worauf sie gut verzichten können. Christian Arbeit zählt auf: »Du kommst nicht in die Alte Försterei, um in der Halbzeitpause Cheerleader zu sehen oder irgendeinen Preis abzuräumen. Und du willst auch keinen Jubel vom Tonband und dass dir jeder Ballkontakt von einem Sponsor präsentiert wird. Du kommst hierher, weil Union deine Mannschaft ist. Hinter diesem Austausch, diesem Erlebnis hat alles andere zurückzustehen.«

4

Möge es so bleiben.

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»Alles auf Rot« versammelt neben situativen Texten auch solche, die sich der Besonderheit dieses Sportvereins historisch nähern. Mit Jochen Lesching habe ich auch über die zahlreichen Krisen des Vereins gesprochen, und als ich ihn fragte, ob er einen besonderen Moment aus der Zeit des puren Überlebenskampfes abgespeichert hat, zögerte er nicht lang. Den Februartag 1998, erzählte er, als 2000 Union-Fans vor dem Stadion von Tennis Borussia Berlin standen, sangen, feierten – um dem Regionalliga-Rivalen das Eintrittsgeld vorzuenthalten. Die so eingesparten 10 000 DM übergaben die Unioner, als sie in der Halbzeit gratis das Stadion betreten durften, ihrem eigenen Präsidenten. »Da schoss es mir durch den Kopf: Jetzt hast du zu Ostzeiten so lange über den sozialen Gebrauch von Rockmusik geforscht«, sagt Lesching, »aber dass es diese besondere Energie auch in einem ganz anderen Umfeld gibt, beim Fußball, Wahnsinn. Das war der pure Rock ’n’ Roll.«

Die Krise will niemand zurückhaben. Sie hilft aber, um sich...