Fortschritt - Zur Erneuerung einer Idee

von: Peter Wagner

Campus Verlag, 2018

ISBN: 9783593437286 , 174 Seiten

Format: PDF

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 22,99 EUR

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Fortschritt - Zur Erneuerung einer Idee


 

Vorwort Wir leben, so scheint es, in hoffnungslosen Zeiten; kaum jemand, weder die Anhänger sozialer Bewegungen noch die politischen Funktionsträger, besitzt heute offenbar noch eine tatkräftige Vorstellung zukünftigen Fortschritts. Es bedarf kaum erst einer Rückerinnerung an all die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Erschütterungen der vergangenen Jahrzehnte, um sich zu erklären, warum uns inzwischen jede Zuversicht bezüglich einer weiteren Verbesserung unserer Lebensumstände abhandengekommen ist; sofern wir uns überhaupt auf die Zukunft besinnen, operieren wir dabei vornehmlich mit der Vorstellung, weitere gesellschaftliche Verschlechterungen zu verhindern, nicht aber mit Ideen möglicher Fortschritte in der Gestaltung unserer gesellschaftlichen Lebensbedingungen. Es ist diese Situation einer lähmenden Orientierungslosigkeit und Zukunftsverdrossenheit, in die Peter Wagner mit seiner kleinen Schrift eingreifen möchte; was er auf den folgenden 160 Seiten unternimmt, ist nichts Geringeres, als in Vergegenwärtigung des modernen Freiheitsversprechens und mit Blick auf die herrschenden Sozialverhältnisse eine realistische, uns zum politischen Handeln motivierende Idee möglichen Fortschritts zurückzugewinnen. Als ein politischer Theoretiker mit großem Gespür für ideengeschichtliche Zusammenhänge, der bahnbrechende Schriften zur Dynamik, Zweischneidigkeit und Pluralität moderner Gesellschaften verfasst hat, ist Peter Wagner für diese schwierige Aufgabe bestens gewappnet; er kennt sich mit den Gründungsideen der Moderne ebenso gut aus wie mit dem Schicksal, das ihnen im Prozess ihrer sozialen Verwirklichung widerfahren ist - und uns im Institut für Sozialforschung ist es eine besondere Freude, mit der vorliegenden, ursprünglich auf Englisch verfassten Studie den hochaktuellen Beitrag eines langjährigen Mitglieds unseres Interna­tionalen Wissenschaftlichen Beirats in unserer Schriftenreihe veröffentlichen zu können. Peter Wagner holt zunächst historisch weit aus, um uns vor Augen zu führen, wie fern uns heute die Fortschrittshoffnungen der beginnenden Moderne gerückt sind. Damals, zu Zeiten der Aufklärung, herrschte in den Ländern des europäischen Westens allgemein die starke Zuversicht, weltweit würde sich in der näheren Zukunft schon deswegen alles zum Besseren wenden können, weil nun mit der Freisetzung der Vernunft von Willkür und Despotie in allen sozialen Bereichen gezielt Fortschritte zu erreichen seien; dank des Einsatzes von vernünftiger Überlegung und Planung, so der breit geteilte Glaube, würden sich Verbesserungen, die sich bereits in der Vergangenheit rudimentär Bahn gebrochen hätten, in den Sektoren sowohl der wirtschaftlichen Produktion als auch der Generierung wohlfahrtssteigernden Wissens, der politischen Organisation und schließlich den sozialen Bedingungen der Selbstverwirklichung mit Notwendigkeit und auf Dauer vollziehen müssen. Die Vierteilung, die Wagner damit in Hinblick auf die damaligen Visionen künftigen Fortschritts vorgenommen hat, nimmt er sich nun zum Leitfaden, um zu erkunden, welche Erfahrungen wir inzwischen mit den Versprechungen der Aufklärung gemacht haben, auf kontinuierliche Verbesserungen in allen vier Sozialbereichen hoffen zu können. Schnell ist dabei festgestellt, dass weder in der Sphäre des Wirtschaftswachstums noch in jener der Wissensproduktion all jene segensreichen Entwicklungen stattgefunden haben, die ursprünglich einmal vom Fortschrittsoptimismus der beginnenden Moderne in Aussicht gestellt worden waren: Der kapitalistische Markt, dessen Freisetzung von staatlicher Kontrolle und Beaufsichtigung zunächst als Garant stetiger Wohlstandsmehrung angesehen wurde, hat sich in den letzten zweihundert Jahren als eine höchst zweischneidige Einrichtung erwiesen, weil der Zwang zur endlosen Kapitalakkumulation eine Spirale der Bedürfnissteigerung in Gang gesetzt hat, die inzwischen jegliches Augenmaß für wirklich lebenswichtige Belange und Begehrlichkeiten vermissen lässt. Nicht anders sieht es in Bezug auf den Bereich der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung aus, deren tatsächlichen Erträge für das Wohlergehen und das Gedeihen der Menschheit inzwischen doch erheblichen, gut begründeten Zweifeln unterliegen. Die Bilanz, die Peter Wagner mit Blick auf die beiden anderen Bereiche zieht, für die uns zu Beginn der Moderne ein unaufhörlicher Fortschritt dank des freien Gebrauchs unserer Vernunft in Aussicht gestellt wurde, fällt hingegen wesentlich komplexer und ambivalenter aus. Einigkeit bestand unter den Parteigängerinnen und Parteigängern der Aufklärung von Beginn an dar­über, dass sich Fortschritte in den Dimensionen der politischen Organisation und der persönlichen Selbstverwirklichung als Steigerungen von das eine Mal kollektiver, das andere Mal individueller Freiheit vollziehen müssten; ein gewisser Dissens herrschte hingegen in Hinblick auf die Frage, ob sich diese Freiheiten eher als 'negativ' oder als 'positiv' begreifen lassen sollten, also nur als Freisetzung von einschränkenden Hindernissen oder als Befähigung zu wertvollen Zielsetzungen. Peter Wagner, der sich hier der bekannten Unterscheidung von Isaiah Berlin bedient, belässt es bei dem richtigen Befund, dass sich damals im Allgemeinen die Vorstellung durchsetzte, Fortschritte in den beiden Sphären seien vor allem in Form einer sukzessiven Steigerung von negativer Freiheit zu erwarten. Gemessen an diesem Versprechen fällt allerdings die sozialhistorische Bilanzierung insofern ernüchternd aus, als beide Male 'paradoxale' Entwicklungsverläufe konstatiert werden müssen: Was die soziale Ermöglichung von individueller Selbstverwirklichung anbelangt, so haben sich Wagner zufolge deren Chancen in den letzten zweihundert Jahren durch die rechtliche Gleichstellung von großen Teilen der Bevölkerung zwar gesteigert, andererseits aber sind im selben Zeitraum auch immer wieder soziale Minderheiten als erst gar nicht anerkennungswürdig und daher als für die rechtliche Inklusion nicht tauglich ausgegrenzt worden. Auch im Bereich der politischen Organisation unserer Gemeinwesen ist nach seiner Überzeugung ein solcher paradoxaler Verlauf zu verbuchen, sind hier doch in den letzten zweihundert Jahren zwar die politischen Teilnahmerechte schrittweise von zufälligen Qualifikationsmerkmalen wie Kapitalbesitz, Geschlechtszugehörigkeit oder ethnischer Mitgliedschaft abgekoppelt worden, gleichzeitig aber die Bereitschaft zur aktiven Mitwirkung an der demokratischen Willensbildung und das Vertrauen in die Wirksamkeit einer solchen Machtausübung des Volkes tendenziell gesunken. Beide Befunde einer Gleichzeitigkeit von Fortschritt und Regress bringt Peter Wagner in einer Art von Zwischenresümee auf den griffigen Nenner, dass sich inzwischen dank vielzähliger Kämpfe um rechtliche Inklusion zwar eine 'formale Gleichheit' in den meisten Ländern durchgesetzt habe, an die Stelle der früheren Ungleichheiten aber neue, subtilere Formen der Benachteiligung getreten seien, die dem Einfluss von in der Vergangenheit angesammelten Machtmitteln wie Vermögen, patriarchalische Herrschaft und imperiale Vormachtstellung geschuldet sein sollen. In dieser Konstatierung eines paradoxalen Verlaufs der normativen Entwicklungen in den westlich-modernen Gesellschaften berühren sich die Überlegungen Peter Wagners im Übrigen aufs Engste mit den Untersuchungen, die wir im Institut für Sozialforschung im letzten Jahrzehnt zu den normativen Paradoxien der gesellschaftlichen Modernisierung durchgeführt haben. Es ist dieser Punkt in seiner Argumentation, an dem Peter Wagner sich nun veranlasst sieht, von der Rückschau auf den Vorausblick umzuschalten. War bislang seine Frage, wie es um die Fortschrittsversprechen des Aufklärungszeitalters angesichts der realhistorischen Entwicklungen tatsächlich bestellt war, so muss er sich jetzt dem Problem zuwenden, ob aus dieser Erbmasse bestimmte Bestandteile im Sinne der Wiederbelebung einer zugleich ermutigenden und motivierenden Fortschrittsvorstellung zu retten sind. Deutlich ist bereits geworden, dass sich alle optimistischen Spekulationen auf einen kontinuierlichen Fortschritt durch marktvermitteltes Wirtschaftswachstum und unbegrenzte Wissensakkumulation inzwischen als trügerisch erwiesen haben; weder das eine noch das andere hat dazu geführt, dass sich die Freiheitschancen von großen Teilen der Bevölkerung maßgeblich verbessert hätten, vielmehr herrscht dort ein fataler Kreislauf der Erzeugung von immer neuen Bedürfnissen vor, hier eine Gewinnung von häufig in ihrem wohlstandsförderlichem Ertrag höchst zweifelhaften Erkenntnissen. Diesen Teil der Fortschrittshoffnungen, die das Aufklärungszeitalter genährt hatte, sollten wir daher nach Auffassung von Peter Wagner ein für alle Mal hinter uns lassen; auf den 'epistemisch-ökonomischen Komplex', einst der Garant immerwährender Verbesserungen unserer sozialen Lebensbedingungen, können wir heute die Erwartung nicht mehr stützen, in Zukunft freier und unbesorgter zu leben als zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Demgegenüber aber erblickt Peter Wagner in dem anderen Teil der Fortschrittshoffnungen, die zu Beginn der Moderne geweckt worden waren, weiterhin das Potential von bislang nicht abgegoltenen Versprechungen. Es ist der 'politisch-soziale Komplex', so ließe sich vielleicht sagen, auf den wir ihm zufolge heute unser Augenmerk konzentrieren sollten, wenn es um die Frage geht, ob und wie eine Vision zu erkämpfenden Fortschritts noch einmal zurückzugewinnen ist. Allerdings sieht Wagner deutlich, dass vieles an der Antwort auf die Frage, wie eine solche Vision heute beschaffen sein müsste, von der Deutung abhängt, die dem Prozess der Moderne im Ganzen verliehen wird. Hält man daran fest, dass die soziale Implementierung und Verallgemeinerung negativer Freiheiten bislang durchgängig eine Geschichte ausschließlich von großen Erfolgen war, so wird man dementsprechend auch weitere Verbesserungen unserer Lebensbedingungen nur in dieser einen Dimension verorten können. Was mithin bei einer derartigen Sichtweise als sozialer Fortschritt in die Zukunft hineinprojiziert wird, läuft auf die heute weitverbreitete Vorstellung hinaus, man müsse nur die räumlichen und zeitlichen Begrenzungen der individuellen Autonomie schrittweise weiter aufheben, um dadurch jedem Einzelnen zukünftig einen noch größeren Spielraum für die persönliche Selbstbestimmung einzuräumen - die Stichworte, die Peter Wagner nennt, um diese 'hegemoniale' Idee möglichen Fortschritts knapp zu kennzeichnen, lauten Etablierung einer kosmopolitischen Demokratie und Ausweitung der Menschenrechte. Beides aber scheint ihm kaum von orientierender Funktion zu sein, wenn es um die Frage geht, wie wir soziale Fortschritte in der Zukunft zu imaginieren hätten; denn dabei bleiben, wie es bei ihm heißt, sowohl die Lebensgeschichten und Erfahrungen der ganz normalen Bürgerinnen und Bürger vollkommen unberücksichtigt wie auch das Erfordernis institutioneller Voraussetzungen für die rechtliche Durchsetzung der Menschenrechte ? die Vision, zukünftig auf dem Weg einer Verbreitung der Menschenrechte und einer kosmopolitischen Demokratie die negative Freiheit der Einzelnen auszuweiten, stellt in den Augen von Peter Wagner eine bloß 'individualistische Utopie' dar. Die Aufgabe, vor die er sich mithin gestellt sieht, besteht darin, im Unterschied zu diesen herrschenden Ideen möglichen Fortschritts eine Vision zu umreißen, in der zukünftige Verbesserungen nicht einfach als Steigerungen negativer Freiheit vorgestellt werden, ohne dass die Kontinuität mit den bereits erkämpften Errungenschaften der 'formalen Gleichheit' vollkommen verlorengeht. Den Schlüssel für eine Lösung dieser Aufgabe erblickt Peter Wagner nun in der Idee der 'kollektiven Autonomie', die zwar ebenfalls von Beginn an zum normativen Selbstverständnis der Moderne gehört hatte, darin aber nie vollständig artikuliert, geschweige denn zum Ziel politischen Handelns gemacht worden war. Was 'kollektive' im Unterschied zu 'individueller' Autonomie dabei heißen soll, wird vom Autor zunächst einmal nur negativ angedeutet; so weist er darauf hin, dass die hegemoniale Sichtweise so­zialen Fortschritts mit ihrer Konzentration auf das vereinzelte Subjekt vollkommen von der Bedeutung abstrahiert, die der räumlichen Verwurzelung im Erfahrungshorizont der Individuen zukommt. Abgesehen wird in dieser herrschenden Sichtweise auch von der Bedeutung historischer Zeitlichkeit, was sich darin niederschlägt, dass keinerlei Sensorium für die Verursachung gegenwärtiger Ungleichheiten durch vergangenes Unrecht besteht, also etwa für die langanhaltenden Folgen kolonialer Herrschaft oder der Unterdrückung von Frauen. Diese Erkundungen der Defizite der 'dünnen', liberalen Vision sozialer Verbesserungen sollen freilich nur, wie gesagt, auf negative Weise verdeutlichen, warum wir uns heute, nachdem das normative Prinzip 'formaler Gleichheit' weitgehend erfolgreich etabliert worden ist, nicht mehr auf den abstrakten Begriff der 'individuellen Autonomie' stützen können, wenn es um die Rückgewinnung einer ermutigenden, zum Handeln befähigenden Idee von Fortschritt geht; wir würden, so ist Peter Wagner überzeugt, dann aus den Augen verlieren, was tatsächlich zu tun ist, um die neuen Formen sozialer Ungleichheit und die Mängel der demokratischen Selbstverwaltung zu beseitigen. In den positiven Bestimmungen einer Idee sozialen Fortschritts, die Wagner in den letzten Kapiteln seiner Studie entwickelt, dreht sich daher alles um die Frage, was es heißen könnte, zukünftig nicht den Spielraum individueller Autonomie, sondern die Befugnisse kollektiver Autonomie zu erweitern. Zwei Gesichtspunkte sind es dabei vor allem, die von ihm in den Vordergrund gerückt werden. Die erste der beiden Perspektiven hängt sehr eng mit dem zusammen, was zuvor über die Wirkung von historischer Zeitlichkeit und lokaler Räumlichkeit auf die Verfestigung von neuen, nicht-formalen Formen der Herrschaft gesagt worden war: Je stärker beim Ausblick auf die Zukunft berücksichtigt wird, dass vergangenes Unrecht und lokale Entwurzelung bereits etablierte Machtpositionen stützen können, desto entschiedener wird man die Ausübung kollektiver Autonomie an die Voraussetzung binden wollen, diese räumlich angemessen zu verorten und zudem den Einfluss von ererbtem ökonomischem, kulturellem oder sozialem Kapital zu minimieren. Allerdings bedeutet das, woran Wagner keinen Zweifel lässt, die Aussicht auf Verbesserungen in der Ausübung kollektiver Autonomie auch als einen Kampf um die adäquate Deutung der Moderne zu verstehen; denn infolge der Vormachtstellung der individualistischen Vision sozialen Fortschritts wird ja gerade nicht allgemein akzeptiert, dass die demokratische Willensbildung durch zuvor erworbene Herrschaftspositionen untergraben oder durch eine zu starke lokale Entwurzelung verunmöglicht wird, so dass eine solche Interpretation in langwierigen Deutungskonflikten erst erstritten werden muss. Eine neue, belebende Perspektive zukünftigen Fortschritts zu eröffnen heißt daher für Peter Wagner auch immer, sich in einen Kampf mit den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen darüber zu begeben, wie der Prozess der Moderne unter normativen Gesichtspunkten gedeutet werden muss. Die zweite Perspektive, die Wagner umreißt, um den Horizont künftig zu erzielender Verbesserungen abzustecken, versteht sich nahezu von selbst. Wenn weiterer Fortschritt in der Gestaltung unserer Lebensverhältnisse heutzutage sinnvoll nur als Ausweitung und Verstärkung kollektiver Autonomie zu denken ist, dann muss in der Zukunft alles darangesetzt werden, weltweit die Chancen der Partizipation an Prozessen der demokratischen Willensbildung zu verbessern; welche Form diese Ermächtigung zur kooperativen Ausübung demokratischer Macht annehmen soll, welche institutionellen Veränderungen im Getriebe der demokratischen Rechtssetzung damit einhergehen müssen, soll nach Auffassung von Peter Wagner weitgehend den Erfahrungen vor Ort überlassen werden; entscheidend ist jeweils nur, sich mit dem erreichten Stand der Befähigung zur kollektiven Machtausübung nicht zufriedenzugeben und dementsprechend genügend institutionelle Phantasie zu mobilisieren, um praktikable Alternativen zum gegebenen Arrangement der demokratischen Willensbildung entwerfen zu können. Nimmt man das hier nur kurz umrissene Resümee der Studie in Augenschein, so dürfte es wohl vor allem die erste Perspektive sein, mit der Peter Wagner unserem Nachsinnen über die Zukunft ganz neue, bislang vernachlässigte Impulse verleiht. Dass es heute verstärkter Anstrengungen bedarf, institutionell bessere Wege der demokratischen Partizipation zu erkunden, wird dem größten Teil seiner Leser und Leserinnen angesichts der Krise der europäischen Integration durchaus bewusst sein; aber dass eine weitere Ermächtigung kollektiver Autonomie in Zukunft auch verlangen wird, soziale Barrieren zu beseitigen, die aus der zeitlichen oder räumlichen Unterfütterung von Machtpositionen stammen, dürfte vielen von uns in dieser Form noch nicht klar gewesen sein. Dabei sind die Beispiele, die Peter Wagner anführt, um diesen zentralen Punkt seines Versuchs einer Neudimensionierung gesellschaftlichen Fortschritts zu veranschaulichen, überaus schlagend: Was den räumlichen Faktor anbelangt, so zeigt er auf, dass mit der Entgrenzung von kapitalistischer Produktion oder politischer Herrschaft die Chancen der Betroffenen schwinden, effektiven Widerstand zu leisten, da jederzeit eine Verlagerung sei es der Produktionsstandorte, sei es der Machtzentren möglich ist - daher die Idee Peter Wagners, es als eine wesentliche Aufgabe fortschrittlicher Politik zu begreifen, die räumlichen Horizonte von Produktion oder Machtausübung zukünftig so zu gestalten, dass die demokratisch vereinigten Bürgerinnen und Bürger überhaupt angemessen Zugriff und Kontrolle besitzen können. Nicht anders ist es um den zeitlichen Faktor der Beschränkung kollektiver Autonomie bestellt; hier führt Wagner als ein Beispiel die koloniale Vergangenheit an, deren Nachwirkungen bis heute zu einer höchst ungleichen Verteilung von ökonomischer und politischer Macht beitragen, so dass ein Fortschritt in der Ausweitung von kollektiver Freiheit darin bestehen würde, zukünftig solche Beeinträchtigungen durch adäquate Maßnahmen zu beseitigen ? ein Beispiel in der Studie, an dem im Übrigen zugleich deutlich wird, dass ein Sensorium für die Belange des Postkolonialismus nicht automatisch dazu zwingt, sofort jegliche Möglichkeit einer einheitlichen, globalen Idee des gesellschaftlichen Fortschritts über Bord zu werfen. Mit beiden Ausblicken hat Peter Wagner, so scheint mir, unsere erlahmten Kräfte, sich eine bessere, freiere Zukunft auszumalen, wieder deutlich belebt; wir wissen nach der Lektüre seiner Studie besser, was zu tun erforderlich wäre, um zukünftig die Chancen einer Ausübung kollektiver Autonomie nachhaltig zu erhöhen. Nicht das geringste Verdienst der Studie von Peter Wagner ist es mithin, uns vor Augen zu führen, dass wir erst dann wieder die vor uns liegende Zukunft als ein Feld möglichen, zu erkämpfenden Fortschritts erschließen können, wenn wir an den Verhältnissen formal-rechtlicher Gleichheit den Untergrund realer Ungleichheiten zu entdecken in der Lage sind, der sich aus den zeitlichen und räumlichen Quellen von Herrschaft und Macht speist. Axel Honneth Frankfurt am Main, im Januar 2018 Vorwort Ein Jahrzehnt nach der Französischen Revolution und dem Tod des aufgeklärten spanischen Monarchen Karl III. entstand 1799 Francisco de Goyas Radierung El sueño de la razon produce monstruos als Teil seiner Serie Los caprichos. Sie zeigt einen Mann schlafend an seinem Pult, bedrängt von Eulen und Fledermäusen, diesen mysteriösen und etwas unheimlichen Tieren. Diese Radierung lässt sich als Bekenntnis zum aufklärerischen Glauben an die Vernunft interpretieren: Wo die Vernunft schläft, lauern die Ungeheuer. Jedoch kann das Bild auch anders verstanden werden: als Traum der Vernunft, Ungeheuer hervorzubringen, die dann die Welt regieren. Die aufklärerische Vernunft träumte von einem immerwährenden Fortschritt der Menschheit, doch heute, mehr als zwei Jahrhunderte später, wissen wir nicht mehr, was wir mit dieser Idee anfangen sollen. Wenn wir den gegenwärtigen Zustand der Welt betrachten, sehen wir dann die Verwirklichung dieses Traumes? Eine Welt des materiellen Überflusses, ein breites Bekenntnis zu Freiheit und Menschenrechten, einen globalen Prozess der Demokratisierung? Oder ist die Vernunft in einen tiefen Schlummer gefallen, traumlos oder voller Alpträume, der uns in Armut und Gewalt zurücklässt und den älteren Übeln der Menschheit noch die Zerstörung des Planeten hinzugefügt hat? Unschlüssig, wie wir mit dem Traum umgehen sollen, haben wir begonnen, ihn zu vergessen. Die Idee des Fortschritts passt nicht mehr in unsere Zeit. Dies mag nicht für jede Art von Fortschritt gelten, wohl aber für die große Idee vom historischen, vom allgemeinen Fortschritt der Menschheit. Und vielleicht war sie ja wirklich nur eine Illusion, eine Projektion unerfüllbarer Wünsche und Sehnsüchte auf die Zukunft, von der wir mittlerweile wissen, dass sie nichts als ein Traum war. Aber selbst für den Fall, dass dies zutrifft, geht das vorliegende Buch davon aus, dass es die Mühe lohnt, die Idee des Fortschritts wieder aufzugreifen, neu zu bewerten und zu überlegen, ob sie sich in anderen Begriffen, solchen, die unserer Zeit angemessener sind, rekonstruieren lässt. Die Erwartungen an den Fortschritt mögen übertrieben gewesen sein, aber sie lieferten den Menschen eine Orientierung in Raum und Zeit. Der Geburtsort der Idee des Fortschritts lässt sich präzise lokalisieren: Sie kam aus Westeuropa, mit der wissenschaftlichen Revolution, der Französischen Revolution und der Industriellen Revolution. Sie stieß die Tür zu einer neuen Zeit auf und öffnete den Horizont einer künftigen Geschichte, im Zuge derer sich der Fortschritt über den gesamten Erdball ausbreiten sollte. So pflegten sich die Westeuropäer die Weltgeschichte vorzustellen, und diese Sichtweise gab ihnen die Gewissheit, was zu tun und was zu erwarten sei. Wie wir sehen werden, ist dieser Glaube oft erschüttert worden, nicht zuletzt während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und war doch nicht totzukriegen. Selbst in letzter Zeit, obwohl seltener, konnten sowohl die öffentliche Debatte als auch die akademische Forschung einige Länder und deren Bevölkerungen noch als 'fortgeschrittene Industriegesellschaften' oder 'fortgeschrittene Demokratien' bezeichnen, während sich andere Gesellschaften noch 'zu entwickeln', noch 'aufzuholen', oder, neuerdings, 'aufzustreben' hätten. Obwohl das Genre der Geschichtsphilosophie seit langem diskreditiert ist, hielt sich doch die Vorstellung, die Geschichte der Menschheit bewege sich in eine bestimmte Richtung. Und die vorherrschende Sichtweise lautete, dass diese Richtung eine positive sei, dass es Fortschritt gegeben habe und weiterhin geben werde und dass nur diejenigen anderer Meinung seien, die für die neue Zeit noch nicht bereit wären. Die Ausgangsbeobachtung dieses Essays aber lautet, dass uns diese Vorstellung nunmehr vollständig abhandengekommen ist - nicht heute oder gestern, nicht von einem Tag auf den anderen, sondern schrittweise, beginnend im letzten halben Jahrhundert und radikal beschleunigt seit den späten 1970er Jahren. Dieser Verlust sollte uns aus vielen Gründen willkommen sein. Denn diese Sichtweise erzeugte eine raumzeitliche Hierarchie, welche Menschen in vielen Teilen der Erde die 'Gleichzeitigkeit' mit denen auf der Nordhalbkugel absprach, um ein Wort von Johannes Fabian aufzugreifen. Im Namen des Fortschritts lieferte sie eine Rechtfertigung für die Herrschaft von Menschen über Menschen. Heute jedoch scheint das vergangene Übermaß an Vertrauen in die raumzeitliche Ordnung der Welt durch eine allumfassende Orientierungslosigkeit ersetzt worden zu sein. Aber dieser Zustand ist weder unvermeidlich noch wünschenswert. Gibt es eine Alternative sowohl zur übermäßigen Zuversicht der Vergangenheit als auch zur Orientierungslosigkeit der Gegenwart? Wenn wir den Traum vom immerwährenden Fortschritt aufgeben, können wir dennoch handlungsfähig bleiben und dabei die Vorstellung haben, voranzukommen? Können wir uns die Zweifel am Fortschritt noch einmal vor Augen führen, dabei aber vermeiden, dass außer Zweifel nichts übrigbleibt? Manche Leser mögen einwenden, dass diese Fragen zwar interessant sind, sich aber kaum beantworten lassen werden. Schließlich gab es gute Gründe, sich von der Geschichtsphilosophie zu verabschieden. Und auch deren Nachfolgerin, jene Spielart der historischen Soziologie, die im 19. Jahrhundert auf den Plan trat und in der von großen Umbrüchen und pauschal von lang anhaltenden Trends die Rede war, sah sich bedingt durch die Professionalisierung und Spezialisierung der Sozialwissenschaften im 20. Jahrhundert einer ähnlichen Kritik ausgesetzt. Vielleicht sollten wir uns einfach mit jenem Wissen begnügen, das solide empirische Forschung liefert, und aufhören, Fragen zu stellen, die wir nicht beantworten können. Der vorliegende Essay geht von der Annahme aus, dass wir es zumindest versuchen sollten. Die Fragen sind zu wichtig, um unbeantwortet zu bleiben - oder, was vielleicht noch schlimmer wäre, nur jene unangemessenen Antworten zu erhalten, die gegenwärtig im Umlauf sind. Die Fragen, welche die historische Soziologie in ihren besten Momenten aufgeworfen hat, haben nichts von ihrer Aktualität und Brisanz eingebüßt, aber wir brauchen neue Instrumente zu ihrer Bearbeitung. (Die bibliografische Anmerkung am Ende des Buches gibt einen Hinweis darauf, was diese Instrumente sein könnten und wo sie zu finden sind. Leser mit einem Interesse an methodologischen Fragen mögen diese Anmerkung als erstes lesen wollen.) Was genau aber können wir uns von diesem Versuch erwarten? Die Antwort ist einfach: Wir können so hoffentlich vermeiden, die Gegenwart, so wie sie ist, unhinterfragt als notwendig zu akzeptieren. Unsere Gegenwart ist die Verwirklichung von nur einigen der vielen Möglichkeiten, die in der Vergangenheit offenstanden. Indem wir den historischen Ort unserer Gegenwart bestimmen, können wir die Bandbreite vergangener Möglichkeiten ermessen und dadurch besser verstehen, warum so viele von ihnen verworfen und nur wenige verwirklicht worden sind. Den geschichtlichen Ort der Gegenwart bestimmen, heißt, das Wirkliche mit dem Möglichen zu vergleichen. Aus dieser Perspektive gesehen, gibt es stets zwei Formen des Möglichen: das, was in der Vergangenheit möglich war, und das, was gegenwärtig möglich ist. Eine solche historische Soziologie macht unsere Gegenwart als Resultat von Kämpfen lesbar, die um die Möglichkeiten der Vergangenheit ausgetragen wurden. Diese Kämpfe ausgehend von den Forderungen zu analysieren, die seinerzeit mit Blick auf die Zukunft erhoben wurden, hilft uns im Gegenzug dabei, die in der Gegenwart schlummernden Möglichkeiten unserer eigenen Zukunft zu erkennen. In diesem Sinne hat die Geschichte tatsächlich eine Richtung, die kein Methodenstreit und keine Sezierung von Begriffen zum Verschwinden bringen können. Aber wir können in diese Richtung nicht auf einem schon gebahnten Weg voranschreiten; wir kommen nur voran, indem wir den Weg, den wir gehen wollen, selbst bahnen und ihm dabei seine Richtung geben. Die Aufgabe dieses Essays besteht darin, vergangene Möglichkeiten zu analysieren, um zu einem besseren Verständnis unserer gegenwärtigen Möglichkeiten zu gelangen. Wenn dies gelingt, werden wir ein gewisses Maß an Orientierung wiedergewinnen, und ich hoffe, dies wird ein adäquates Maß sein. Ich bin Laurent Jeanpierre zu tiefem Dank verpflichtet, der mich zum Schreiben dieses Buches ermuntert und mir die Möglichkeit eröffnet hat, es in der Reihe L'horizon des possibles zu veröffentlichen, die er gemeinsam mit Christian Laval bei La Découverte betreut. Ohne seine Anregung wäre es in der nun vorliegenden Form nie entstanden. John Thompson hat die Idee anschließend für die englische Ausgabe bei Polity aufgegriffen. Auch ihm danke ich für sein beständiges Interesse an meiner Arbeit und seine Unterstützung. Zudem danke ich zwei mir unbekannten Gutachtern von Polity für ihre Kommentare und Anregungen. Die Forschungsarbeit, aus der dieses Buch hervorging, hat großzügige Unterstützung durch den Europäischen Forschungsrat für das Projekt 'Trajectories of modernity: comparing non-European and European varieties' (TRAMOD, Advanced Grant Project 249438) erhalten. Diese Förderung hat vor allem die Gründung der TRAMOD-Forschungsgruppe ermöglicht, die über fünf Jahre hinweg ein Ort der gemeinsamen Erkundung, Inspiration und Kritik gewesen ist. Ich danke allen Mitgliedern der Gruppe für die ausführlichen Diskussionen der Hauptgedanken dieses Buches sowie früherer Fassungen des vorliegenden Textes. Ein besonderer Dank geht an Àngela Lorena Fuster Peirò, Nathalie Karagiannis, Aurea Mota und Gerard Rosich, die das gesamte Manuskript oder Teile davon gelesen und ausführlich kommentiert haben. Johann Arnason und Gerard Delanty haben mich in der Frühphase der Arbeit zur Fortsetzung ermutigt. Die Grundgedanken wurden bereits im April 2014 an der Ural Federal University in Jekaterinburg und im März 2015 am Centre de Cultura Contemporània de Barcelona vorgestellt. Ausführlicher Gedankenaustausch mit Axel Honneth und Luc Boltanski über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede unserer Perspektiven haben mir geholfen, meine Überlegungen zu verfeinern. Ich bin froh darüber, dass Axel Honneths Initiative es nun ermöglicht hat, dass dieses Buch nun auch in deutscher Sprache in der Reihe des Instituts für Sozialforschung erscheint und hoffe auf die Fortsetzung anregender Diskussionen, die in Frankfurt bereits begonnen wurden. Peter Wagner