Herzenssache - Organspende: Wenn der Tod Leben rettet

von: Nataly Bleuel, Christian Esser, Alena Schröder

C. Bertelsmann, 2017

ISBN: 9783641088323 , 192 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 16,99 EUR

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Herzenssache - Organspende: Wenn der Tod Leben rettet


 

Die Spender

»Ich wollte das starke und gute Herz nicht einfach so sterben sehen.«

Ein vierzehnjähriges Mädchen geht morgens aus dem Haus und wird auf dem Schulweg von einem Auto angefahren. Wenige Stunden später sitzen die Eltern an ihrem Krankenbett und müssen die schwierigste Entscheidung ihres Lebens fällen.

Die Mutter

Als unsere Tochter noch lebte, hatte mein Mann schon lange einen Organspendeausweis. Einmal hat er zu mir gesagt: »Du brauchst doch keinen – wenn es so weit ist, gebe ich deine Organe schon frei.« Da habe ich ihn erschrocken angeschaut, das weiß ich noch. Ich bin eigentlich für die Organspende. Aber ich hatte dieses Papier nie in der Tasche. Warum, das kann ich mir auch nicht erklären.

Der Vater

Dann kam bei uns der Fall.

Und obwohl man irgendwann für sich die Entscheidung getroffen hat, das ist was Gutes, ist in diesem Moment alles auf null gesetzt. Man denkt alles noch mal durch. Da ist es hilfreich, wenn man sich mit dem Thema schon mal auseinandergesetzt hat. Insofern war es, für mich zumindest, relativ schnell klar. Und vielleicht leichter als für jemanden, der sich noch nie damit befasst hat und auf einmal, mitten aus dem Leben heraus, vor dieser Entscheidung steht: Spenden wir die Organe unseres Kindes?

Die Mutter

Donnerstag früh war unsere Tochter wie immer um fünf vor halb acht aus dem Haus gegangen, zur Schule. Um kurz nach halb acht habe ich ihre kleine Schwester zur Schule gefahren, und da sah ich den Krankenwagen stehen und dachte, ah, da ist ein Unfall passiert. Als ich zurückkam, stand er immer noch da. Dann wollten wir uns gerade zum Frühstück setzen, mein Mann und ich. Wir müssen erst um neun zur Arbeit. Um zehn nach acht klingelte es an der Tür. Es war ein Polizist. Ich wollte ihn erst gar nicht reinlassen und dachte, der hat sich bestimmt getäuscht. Dann fragte er, ob er reinkommen darf, es gehe um unsere Tochter Franziska. Mein erster Gedanke war: Sie hat irgendwas angestellt. Und ich habe noch ganz unbedarft gefragt: »Hatte sie einen Unfall?«

»Ja.«

Als Medizinerin dachte ich, ach, bestimmt nicht schlimm. Wenn wir ins Krankenhaus kommen, sitzt sie lachend im Bett, gebrochenes Bein und so. Da hat er schon was von Kopfverletzungen gesagt. Da dachte ich auch noch nichts Schlimmes. Selbst im Krankenhaus, als sie sagten, sie müssten den Schädel aufmachen, weil der Hirndruck zu groß sei, dachte ich: Das wird. Na gut, Skiurlaub können wir nicht machen in diesem Jahr, und im Sommer muss sie vielleicht in eine Therapie.

Der Vater

An der großen Kreuzung war die Ampel kaputt, und als sie fast über die Straße war, ist sie erfasst worden. Genaues wissen wir nicht, möglicherweise war der Autofahrer ja sogar ein Nachbar. Um 7.35 Uhr ging der Notruf ein. Wahrscheinlich war in der Sekunde des Unfalls alles schon entschieden. Beim Eintreffen der Rettungskräfte hatte sie lichtstarre Pupillen. Das ist das Zeichen für enormen Hirndruck, schwere Verletzungen, Blutungen. Und die Reflexe funktionierten auch nicht.

Die Mutter

Von neun bis halb zwölf haben wir während der OP im Krankenhausflur gewartet. Und dann kam die Oberärztin mit ganz ernstem Gesicht und hat gesagt: »Ich hole Sie gleich ab.« Ich dachte, wieso macht sie so ein ernstes Gesicht? Also, wenn ich mit Eltern im Krankenhaus gesprochen habe, dann habe ich immer ein freundliches Gesicht gemacht und ein bisschen positive Stimmung verbreitet.

Und dann kam dieser Satz.

»Ihre Tochter hat Verletzungen, die man nicht überleben kann. Sie wird sterben.«

Mein Mann hat das relativ schnell realisiert. Er hat die Todesnachricht sofort angenommen. Während ich bis zum Schluss dachte, nein, das Kind wird leben. So viele Unfallopfer überleben, die Medizin ist heute so weit, warum sollte ausgerechnet mein Kind sterben? Die schafft das!

Dann durfte ich zu ihr. Sie hatte Ödeme, war aufgequollen und wurde beatmet. Aber eigentlich sah sie äußerlich unversehrt aus.

Erst als die Hirndiagnostik kam und sie wirklich für tot erklärt wurde, habe ich es irgendwie annehmen können. Da war für mich sofort klar, was der nächste Schritt sein musste. Weil ich aus meinem Beruf als Ärztin die Menschen kenne, die auf ein Organ warten, die krank sind über viele Jahre und deren Leben abhängt von einem Organ.

Deswegen war es für mich in dem Moment, als ich wusste, das Kind ist tot, klar, dass die Organe weggegeben werden. Denn hätten wir gesagt, kommt nicht infrage – dann hätten sie in dem Moment das Gerät abgeschaltet.

Das fand ich unmenschlich. Den Schalter umzulegen. Ich kenne das Geräusch. Es ist ganz leise. Und dann macht es piep.

Der Vater

Außerdem war für mich klar, dass ich dadurch diesem sinnlosen Tod … dass ich diese Sinnlosigkeit zumindest etwas entschärfen kann. Indem ich durch die Gabe von vier Organen vier anderen Familien ersparen kann, was uns geschehen ist: den Tod ihres Kindes. Es waren das Herz, die Nieren, die Bauchspeicheldrüse und die Leber. Die Lunge war leider schon entzündet, durch das Intubieren, und nicht mehr geeignet für eine Transplantation. Das fand ich sehr schade. Sonst hätten wir fünf Empfänger gehabt. Aber so hatte ich immerhin das Gefühl, in unserem Unglück noch ein bisschen Hoffnung für andere gebracht zu haben. Und ich weiß, dass das Herz unseres Kindes jetzt noch irgendwo schlägt.

Die Mutter

Unsere Tochter war fast Leistungssportlerin, sie war topfit. Wir haben dann immer gesagt, das tolle Herz muss doch irgendwie weiterschlagen. Und der schöne Nebeneffekt war, dass wir noch fast anderthalb Tage mehr Zeit im Krankenhaus hatten. Bis es dann sozusagen über die Bühne gegangen war. Es war für mich sehr wichtig, dass ich noch so viel Zeit hatte mit ihr. Auch wenn sie schon hirntot war. Die Diagnostik war Freitagabend, und wir hatten noch den ganzen Samstag bis Sonntagmorgen. Bis die ganze Organspende-Maschinerie anlief, die Empfänger gesucht, die Teams eingeflogen wurden.

Und dann gab es eine große Diskussion. Ich wollte sie nach der Organentnahme noch einmal sehen. Die Ärzteschaft und die Pflegerschaft haben alle abgeraten und gesagt: Behalten Sie sie so in Erinnerung, verabschieden Sie sich vor der OP!

Der Vater

Das war der Moment, als meine Frau anfing, sich auf die Hinterbeine zu stellen. Sonst hätte ich immer gesagt, wenn die Ärzte es so sagen, machen wir das. Ich arbeite für eine Krankenversicherung, ich habe eine Nähe zur Medizin. Aber bei dem Punkt dachte ich mir, nee! Ich habe jetzt mein Kind verloren, und ich will es nach der OP wiedersehen! Und das war gut so.

Denn ich wusste: Es wird das letzte Mal sein, dass ich mein Kind sehe. Auch wenn es noch so viel Mühe macht für die Ärzte und Pfleger. Es ist ja ein zusätzlicher Aufwand. Der Körper muss nach der OP versorgt werden. Und dann muss ein Pfleger das Bett noch mal irgendwohin rollen. Im Klinikum hatten sie dafür sogar einen Extraraum, zum Abschiednehmen. Ich glaube aber, vor allem will man die Eltern schützen, vor einem Bild.

Wir haben danach noch mal Abschied genommen, im Bestattungsinstitut. Und wir haben den Sarg unserer Tochter auch in der Kirche noch mal aufgebahrt. Aber dieses Bild, nach der OP, das ist das schönste, das ich im Rahmen dieser … ganzen Geschichte habe. Ich habe Fotos gemacht. Man fotografiert sein Kind ja auch, wenn es geboren wird. Warum sollte ich es nicht fotografieren, wenn es stirbt?

Die Mutter

Ich hätte mich nicht vor der OP verabschieden können. Weil sie aussah, als würde sie noch leben. Auch wenn sie hirntot war. Die warme Haut, der Brustkorb hat sich gehoben und gesenkt. Sie war offensichtlich schwer verletzt. Aber nicht tot. Nur der Kopf war tot.

Aber das konnte ich nicht begreifen, nicht mal als Ärztin. Als Mutter konnte ich es erst realisieren nach der Organentnahme. Da war sie kalt und bewegte sich nicht. Sie sah nicht mehr so verletzt und verquollen aus, sogar friedlich.

Es war dieser Eindruck: Da liegt ein totes Kind, und es ist meines. Es ist gestorben. Man muss das sehen, um es begreifen zu können. Erst im Laufe der Trauerarbeit ist mein medizinisches Gedächtnis als Ärztin wieder aufgewacht. Dann wollte ich alles noch mal abklären und habe ein paar Monate später die Ärzte befragt: Was ist genau passiert, weshalb, warum musste sie sterben? Wurde alles Menschenmögliche getan, um sie zu retten?

Der Vater

Im Krankenhaus nennen sie das den »warmen Abschied« und den »kalten Abschied«.

Die Mutter

Zwischen Leben und Tod. Also, zwischen Hirntod und wirklich tot.

Manchmal, wenn ich schwach werde, komme ich ins Hadern. Ich habe ja auch eine spirituelle Seite, und das ist bei der Transplantation ein Dilemma. Was haben wir mit ihrem Körper gemacht? Hat sie, auch wenn das Hirn keinen Schmerz mehr verarbeiten konnte, bei der Operation vielleicht doch etwas erlebt? Wir wissen ja nicht, wie es ist zu sterben.

Hatte die Seele die Zeit, die sie...