Trichotillomanie. (Fortschritte der Psychotherapie, Band 37)

von: Antje Bohne

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2009

ISBN: 9783840919961 , 120 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 17,99 EUR

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Trichotillomanie. (Fortschritte der Psychotherapie, Band 37)


 

3 Hinweise zur Diagnostik (S. 42-43)
3.1 Diagnosestellung

Merke: In jedem diagnostischen Erstgespräch sollte eine Screeningfrage zu Trichotillomanie gestellt werden, wie z. B. „Haben Sie sich jemals Haare ausgerissen (Kopfhaare oder andere), so dass ein merklicher Haarverlust eingetreten ist?“

Eine Screeningfrage ist auch dann sinnvoll, wenn keinerlei Hinweise (z. B. aus Vorinformationen oder äußerem Erscheinungsbild) auf eine solche Problematik vorliegen. Angesichts der geschätzten hohen Komorbiditätsrate der Trichotillomanie ist davon auszugehen, dass sich ein Teil der Betroffenen wegen anderer Symptome beim Behandler vorstellt und komorbid bestehendes Haareausreißen nicht aus eigenem Antrieb in das diagnostische Gespräch einbringt – sei es aus Scham, sei es weil die Störungswertigkeit des Verhaltens unklar ist oder weil das Haareausreißen im Schatten der komorbiden Störung(en) steht. Im Fall eines positiven Screenings sollte eine gezielte Abklärung der diagnostischen Kriterien für Trichotillomanie erfolgen. Die diagnostische Abklärung des Spannungsbogens kann schwierig sein. Die korrekte Einschätzung dieses Kriteriums ist von einer ausreichenden Introspektionsfähigkeit der Betroffenen abhängig, die vor Beginn der therapeutischen Arbeit nicht ohne Weiteres vorausgesetzt werden kann (vgl. Kapitel 1.3). Insbesondere Betroffene mit „automatisiertem“ Haareausreißen erleben das Reißen sowie seine Vorbedingungen und Nachwirkungen auf emotionaler und körperlicher Ebene nicht voll bewusst. Das Reißen hat hier möglicherweise den Effekt, dass emotionale und körperliche Zustände und deren Veränderungen im Zeitverlauf nicht explizit wahrgenommen werden (z. B. aufgrund eines Trancezustandes, vgl. auch die Karte „Exploration der Verhaltensmerkmale des Haareausreißens“ im Anhang des Buches).

Merke: Hier ist es hilfreich, den Betroffenen die Frage zu stellen, was im Zeitverlauf passieren würde, wenn sie sich trotz bestehenden Drangs längerfristig keine Haare ausreißen könnten. Die meisten Betroffenen haben bereits Situationen erlebt, in denen sie versucht haben, dem Drang zum Haareausreißen zu widerstehen (z. B. aufgrund sozialer Kontextbedingungen, wie die Beobachtung durch andere), und haben dabei eine deutliche Span nungszunahme (z. B. in Form zunehmender Unruhe, Anspannung oder Frustration) beobachten können. Andere Betroffene können sich eine solche Situation zumindest lebhaft vorstellen und für den konkreten Fall einen entsprechenden Spannungsbogen antizipieren.

Über die Introspektionsfähigkeit hinaus kann Scham die Betroffenen davon abhalten, sich selbst und anderen einzugestehen, dass während oder nach dem Haareausreißen so etwas wie „Genuss“ oder „Befriedigung“ empfunden wird. Hier ist eine enttabuisierende und entpathologisierende Haltung des Diagnostikers hilfreich. Zum einen bieten sich alternative Formulierungen wie „nachlassende Anspannung“ bzw. „Entspannung“ an, die mit weniger Scham verbunden sind. Zum anderen sind Hinweise darauf, dass viele Menschen durch ähnliche Verhaltensweisen (wie z. B. Nägelkauen) eine Form der Entspannung erfahren, hilfreich (vgl. dazu die ethologische Perspektive zu Übersprungshandlungen in Kapitel 2.1).

Merke: Eine Trichotillomanie-Diagnose sollte nicht allein aus dem Grund abgelehnt werden, dass Betroffene im diagnostischen Erstgespräch nicht den für Impulskontrollstörungen definierten Spannungsbogen berichten (können). Vorausgesetzt dass alle anderen Störungskriterien erfüllt sind, sollte in diesen Fällen vorerst trotzdem die Verdachtsdiagnose „Trichotillomanie“ gestellt werden. Mit Hilfe von Beobachtungsprotokollen und Aufmerksamkeitstraining (vgl. Kapitel 4.1.2 sowie Anhang, S. 108) bleibt dann in den folgenden Sitzungen abzuklären, ob zunehmende Spannung vorher und Erleichterung nach dem Haareausreißen im individuellen Fall zu beobachten sind (vgl. auch Karte „Exploration der Konsequenzen des Haareausreißens“ im Anhang des Buches).

Über die Diagnosekriterien der ICD-10 hinaus sollten Leidensdruck und funktionale Beeinträchtigung durch das Haareausreißen (entsprechend der DSM-IV-Kriterien) abgeklärt werden, da diese als Voraussetzung für eine ausreichende Therapiemotivation zur konsequenten Bearbeitung des unwiderstehlichen Drangs anzusehen sind (vgl. Kapitel 1.3 und Kapitel 4.1.1). Außerdem sollte jegliche Primärerkrankung, die dem Haareausreißen zugrunde liegt oder die das Haareausreißen besser erklären könnte, ausgeschlossen werden – also nicht nur wie in der ICD-10 explizit gefordert eine vorbestehende Hautentzündung, zugrunde liegender Wahn/Halluzinationen und Bewegungsstereotypie mit Haarezupfen. Liegt eine andere Primärerkrankung vor, so ist diese zunächst zu behandeln. Bei Fortbestehen des Haareausreißens trotz erfolgreicher Behandlung der Primärerkrankung oder aber bei nicht behandelbarer Primärerkrankung kann eine Trichotillomanie- Behandlung angezeigt sein.