Dag Hammarskjöld - Die längste Reise ist die Reise nach innen - Eine biografische Skizze mit Tagebuchauszügen.

von: Oliver Kohler

adeo, 2015

ISBN: 9783863347451 , 192 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 13,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Dag Hammarskjöld - Die längste Reise ist die Reise nach innen - Eine biografische Skizze mit Tagebuchauszügen.


 

I

Du hörst sie. Fährst weiter. Eine Alternative gibt es nicht. Nirgendwo Schutz. Dabei kann dieses Fleckchen Afrika so friedlich daliegen. Wie ein schlafender Tiger. Sein Fell wellt sich im ruhigen Strom seines Atems. Dieselbe Irritation erlebt der Skifahrer. Vor ihm das weiße Feld. Die wenigen Spuren darin hat Neuschnee überweht. Das Glitzern der Schneekristalle verdämmert. Eine schwarze Wolke erobert den Himmel. Du nimmst Fahrt auf. Die Lawine in deinem Rücken wird zu einem grollenden Rauschen. Seit Wochen.

Nie zuvor in meinem Leben habe ich so ausdrücklich die Kontrolle verloren. Als Kurier der Verständigung besuche ich die Mächtigen des Kongo. In dieser kargen Erde schlummern Schätze, nach denen die Investoren der reichen Halbkugel geilen. Immer gibt es in deren Schaltzentralen Berater im Dienst der Habgier. Du erkennst ihre Gesichter, gepflegt und verwüstet, wie männliche Prostituierte, die nichts mehr rückgängig machen können. Tabellen quellen aus ihren Aktenkoffern. Bedarf und Vorkommen eines Rohstoffs geben eine selbst den Ministern verständliche Gleichung, die gerade vom Postenkarussell abgesprungen sind. Stets finden sie dafür ein Ohr. Ein Anruf dann. Die Einsätze werden gesetzt. Als Global-Player verstehen sie die „Vereinten Nationen“ als ein Service-Team zu ihren Diensten. Die Entscheider sitzen am ovalen Tisch. Sie pokern um ein Land. Wir bringen ihnen die Drinks.

Der Zynismus treibt wie morsches Holz auf dem Hochwasser meiner Erschöpfung. In einem Konvoi bringen sie uns in ein Hotel. Morgen dann steht der Flug nach Rhodesien an. Die Hotel-Nächte der letzten acht Jahre kann ich nicht zählen. Trotzdem spüre ich manchmal eine kindliche Unruhe auf dem Flur. Welche Tür trägt die Ziffern meines Schlüssels? Was erwartet mich dahinter? Jeder Raum ist neu und verbraucht, gastlich und verwohnt, aufgeräumt und verwahrlost, leer wie ein hinteres Blatt aus meinem Block und vollgekritzelt von tausend Gästen.

Ständig halten unsere Wagen an. Die Unruhe beruhigt. Straßenlärm verschmilzt zum Sound einer Big-Band. Manchmal wirkt die Monotonie des Alltags wie ein Wiegenlied. New York spielt mir oft viele Strophen davon. Es gab in meiner Wohnung schwedisches Essen für Gäste aus drei Kontinenten. Dann will ich zurück zu den Akten. Ein Nachtleser bin ich seit dreißig Jahren. Das Taxi schlängelt sich durch die Melodie der Dunkelheit, durch die Rhythmen des Dschungels der Großstadt. Manchmal nicke ich ein. Hier habe ich den Schlafsnack verlernt, viel zu müde, um nicht noch weiter zu wachen. Wer mich auf dieser Reise zum Schlafen schickt, lange wird er dann auf mich warten müssen. Ein Bischof fällt mir ein, steinerne Erinnerung an einen Aktiven, in einem der Dome Deutschlands, die den Krieg als Gerippe überstanden. Der Würdenträger wurde zum Seitenschläfer, als habe er auf der harten Grabplatte die bequemste Lagerung gesucht. Seinen Kopf federt er mit der Innenhand ab, bettet sich selbst. Jahrhunderte schauen ihm zu. Er schläft. Ein Bild. Nicht mehr. Manchmal ertappe ich mich bei der Hoffnung, uns Schlafenden könne nicht wirklich etwas geschehen, bis ein anderer uns dann weckt …

Die vagen Chancen einer Verständigung drücken mich in das speckige Leder der Rückbank eines Daimlers. In unkalkulierbarer Regelmäßigkeit verstellt der Fahrer den Radiosender. Erinnerungen legen sich wie die durchsichtigen Zwischenblätter eines Fotoalbums auf das Hier und Jetzt. Ich überlasse mich ihnen.

Die anderen reisen ab. Mir bleibt noch eine Nacht in der großen, fremden, nahen Stadt. Kein Arbeitsessen mehr, keine pinkfarbenen Cocktails auf Barhockern, spitz wie Stöckelschuhe. Diese Stunden fallen durch die Raster meines Timers. Sie sind frei. Die Oper, nur Straßenzüge entfernt, lockt mich wie ein Berggipfel im Nebel. Seine Witterung nehme ich auf, lange bevor er zu sehen ist. „Verdi“, keucht der unsagbar dicke Concierge, „heute gibt es Verdi.“ Das Trinkgeld verschwindet in einer speckigen Tasche seiner weinroten Livree. „Und?“ „Wie – und?“ „Welche Oper, meine ich?“ „Ach so, einen Moment.“ Andere Hotelgäste räuspern sich in meinem Rücken. Er blättert, sucht und schwitzt. „Falstaff.“ „Danke!“ Die Schwingtür schleust mich ins Freie.

Die letzte Oper also des Jongleurs mit den Bällen der Liebe, des Gauklers der Klangmasken. Ein strenger Winter hat den Gehweg in eine Kraterlandschaft verwandelt. Alt war er und schrieb. Alterswerk sagen sie später dazu. Zwischen zwei Taxen quere ich eine Straße. Eine Bank auf einem Bergweg ist das Alter. Du siehst zurück und hinauf. Die Weite hat dir gehört und die Tiefe. Jetzt sind es nur noch ein paar Schritte. Komme ich jemals soweit?

Sie erkennen mich. Dankend lehne ich eine Loge ab. Reihe sieben, außen, das passt. Das schwarze Abendkleid öffnet die Schultern wie die Flügel von Schmetterlingen. Den Stuhl vor mir scheint sie kaum zu berühren. Alles an ihr zieht in die Höhe. Einen Begleiter gibt es nicht. Sie ist allein mit der Musik. Wie ich. Die Instrumente stimmen sich ein. Manchmal zuckt ihr Rücken, als hätte ich ihn sanft berührt.

Finde den Kern! Schäle ihn aus den Phrasen heraus. Lege ihn frei. Erst dann kann sich zeigen, was veränderbar ist. Wir codieren uns selbst auf Analyse und Subtraktion. Unsere Politik ähnelt der Arbeit eines Bildhauers. Schlage die Schlacken ab. Finde die Form. Verdi dagegen erfindet ständig Neues. Er ist wie ein Schneider, ein Virtuose in einer Stoffhandlung. Überall ballen sich Töne. Er hebt sie an, wirft sie auf, lässt sie schweben. Die Zeiger meiner Uhr werden unleserlich, so unwesentlich sind sie jetzt. Doch die Zeit bleibt nicht stehen. Auf einmal beginnt er, der letzte Gesang.

Sie singen einen Satz. Wenig genug. Ihre Stimmen verfugen sich zu einem Ganzen. Mehrstimmig lösen sich Perspektiven auf, vernetzen sich neu. Die Menschen auf der Bühne haben Grund, diesen Satz zu singen. Wie Schuppen fallen ihnen ihre Irrungen und Wirrungen vor Augen: „Tutto nel mondo è burla.“ Privat verhakt sich diese Bilanz nirgendwo. Mühelos streift sie sich über Jahre wie ein elastischer Strumpf. Das Wenigste macht wirklich Spaß. Darum geht es ja auch gar nicht. Das Meiste, für das unser Herz hörbar zu pochen beginnt, erweist sich als Farce. Gerade noch voller Ernst, wird die Szene nur noch lächerlich. Das aber besingen sie auch nicht. Eine Choreographie entfaltet sich auf unserer Lebensbühne, ohne Sinn und Ziel, deshalb aber noch lange nicht sinnlos: „Alles auf der Erde ist ein Spaß.“ Lautlos summe ich ihn mit, diesen Klangsatz, bis mir der Atem vergeht. Alles – nicht der Osten und der Westen, nicht die erste und die dritte Welt, die ganze Kugel, alles und jeder … nicht zu vergessen die Zeit. Generationen geben sich die Hand, schauen sich nach, verschwinden in einem Dunst, der irgendwann auch ihre Straße und Häuser auflöst.

Nach einer Sitzung stapelte ein Abteilungsleiter Schriftstücke aufeinander. Sein Gemurmel verstand ich: „Es ist doch alles ein Witz. Wir stopfen einige Löcher. Eigentlich fällt die ganze Leitung auseinander.“ Heiteres mutiert zum Aberwitzigen, das Burleske zum Grotesken, das Lächeln zum Gelächter. An den Abenden wird das Gefühl deutlicher: Wir tragen diese Erde zu Grabe. Sargträger – machen sie Witze? Du bist betroffen beim ersten Mal, bedrückt von einem weißen Kindersarg, bestürzt durch ein Unfallopfer, aber du machst weiter: gemessenen Schrittes, die Hände in schwarzer Verhüllung, Seile wie Taue von Segelschiffen, das bedächtige Absenken in den Geruch frischer Erde, das kurze Innehalten, dann weggetreten. Du verwaltest Trauer. Du verfügst über Abschiede. Du verteilst den Tod auf einen großen Garten. Wege legst du darin an, beschreibst Zeichen, begrünst den Saum von Gräbern.

Es müssen viele Jahre vergangen sein seit der Konferenz in Rom. Die Erinnerungen verblassen wie frühe Fotografien. Nur das Holz spüre ich noch, dunkel und glänzend. Abends bat ich den Bibliothekar um Einlass und hörte die schwere Tür hinter mir ins Schloss fallen. Die schwarze Kutte verbarg einen hageren Körper. Mein Tisch war leer bis auf eine gebogene Lampe. Ihr Fuß, unterlegt mit Filz, schwamm wie ein Schiff auf braunem Meer. Mein Interesse schliff er wie ein stumpfes Messer: Die ersten Christen in Rom – das ist zu groß für drei Abende. Allein ihr Ringen um das jüdische Erbe … Was lockt Sie? Er verstand mich als Staatsmann und Glaubenden. Diese Schnittstelle also, nickte er. Dann brachte er schmale Bände und Folianten, aufgeschlagen, mit Papierstreifen unterlegt. Lesen Sie die Quellen, alles andere wird rasch zur gut gemeinten Lüge.

Also las ich. Ab und zu schrieb ich einen lateinischen Satz ab. Das römische Staatsverständnis interessierte mich. Wie reagiert es auf eine Bewegung, die den einzelnen Menschen, kein Kollektiv, glaubensfähig macht? Wir streiten mit Regierungen, die Christen foltern. Kein großes Thema ist das, eher eine Fußnote der Weltgeschichte, aber ich bin einer der Ihren. Manchmal speichern wir Informationen, ohne sie zu nutzen. Es ist wie nach einem Großeinkauf. Die Dosen mit geschälten Tomaten und die Gläser mit Gewürzgurken reihen sich in einem Regal auf. Irgendwann später schlägt ihre Stunde.

Jetzt öffnet sich ein schlafender Vorrat. In heißen Gegenden vergraben die Bewohner Amphoren, damit die Erde sie kühlt. Der Tondeckel löst sich aus seiner Verkrustung. Dunklen Wein schöpfen sie aus einer schattigen Tiefe. So geht es mir mit Sätzen der römischen Bibliothek. Die Geschichtsschreiber erwähnen Verfolgte. In die Arena getrieben, umtost von johlenden Rufen nach Löwen und Panthern, stimmt irgendeiner der Zitternden einen zögernden Gesang an. Psalmen singen sie, Hymnen auf den...