Die Odyssee - Homer und die Kunst des Erzählens

von: Jonas Grethlein

Verlag C.H.Beck, 2017

ISBN: 9783406708183 , 331 Seiten

Format: PDF, ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 19,99 EUR

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Die Odyssee - Homer und die Kunst des Erzählens


 

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DIE TELEMACHIE: ERZÄHLUNGEN VOM VATER


Es ist durchaus möglich, sogar wahrscheinlich, daß im archaischen Griechenland eine UrOdyssee kursierte, die ohne Telemachie auskam.[1] Erst später wären dann der «eigentlichen» Odyssee die uns heute bekannten ersten vier Bücher hinzugefügt worden. Die Handlung der Telemachie mag sogar aus einem eigenständigen Telemach-Epos geschöpft sein. Welche Verse von Homer, welche vom «Redaktor» stammten, darauf verwandten die sogenannten Analytiker, bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts die wichtigste Homerschule, viel Scharfsinn. Es verwundert nicht, daß die Telemachie die Analytiker mehr als das restliche Gedicht beschäftigte, erzählt sie doch einen Nebenstrang, dessen die Haupthandlung auf den ersten Blick nicht bedarf: Auf Aufforderung Athenes reist Telemach nach Pylos und Sparta, um von den Veteranen des Trojanischen Krieges Neuigkeiten über den Verbleib seines Vaters zu erfahren. Der Held des Epos, Odysseus, betritt die Bühne des Geschehens erst im 5. Buch. Die Uneinigkeit, ja die erbitterten Polemiken darüber, wo das philologische Seziermesser anzusetzen sei, führen jedoch eindrücklich vor Augen, wie problematisch der Versuch ist, die Genese der Odyssee aus dem uns überlieferten Text abzulesen. Vor allem aber hat der analytische Ansatz den Blick auf die vielfältigen erzählerischen Funktionen der Telemachie am Beginn der Odyssee verstellt. Wie auch immer die Telemachie entstanden ist, sie ist ein fester Bestandteil des uns vorliegenden Textes.

Deswegen sei zuerst der Platz der Telemachie in der Architektur der Odyssee skizziert. Neben anderen Aspekten werden wir dabei auf eine Form der Spannung stoßen, die antike Erzählungen von vielen modernen Romanen unterscheidet. Dann wollen wir uns den mannigfaltigen Geschichten in den ersten vier Büchern zuwenden, die in die Telemachie eine Reflexion über das Erzählen, vor allem seine Wirkung auf Zuhörer und Leser, einbetten. Abschließend soll die Frage gestellt werden, ob man die Telemachie, wie die Mehrheit der modernen Homerforscher meint, als einen Bildungsroman lesen kann. Die anfangs erörterte Spannung wird sich als Teil eines umfassenderen Charakteristikums antiker Erzählungen erweisen, das mit einem spezifisch antiken Verständnis von Persönlichkeit verknüpft ist.

Der Platz der Telemachie in der Odyssee


Das erste und zweite Buch der Odyssee bieten ein eindrückliches Bild von Ithaka zwanzig Jahre nach Odysseus’ Aufbruch in den Trojanischen Krieg. Sein Hof ist zu einem Tummelplatz für die jeunesse dorée nicht nur Ithakas, sondern auch der benachbarten Inseln geworden. Seit mehreren Jahren buhlen 108 Freier um Penelopes Gunst. Während Odysseus’ Vater, Laertes, sich auf das Land zurückgezogen hat, lassen die Freier es sich auf Kosten des abwesenden Hausherren gutgehen. In einem endlosen Gelage verzehren sie sein Hab und Gut, verbringen die Tage mit Spiel und Sport, vergnügen sich schamlos mit den Dienerinnen des Hauses. Penelope konnte sich bislang vor ihren Nachstellungen schützen: Erst wenn sie das Leichentuch für ihren Schwiegervater gewoben habe, sei sie bereit für eine neue Hochzeit. Doch treulose Dienerinnen haben ihre List, das tagsüber gewobene Tuch nachts wieder aufzutrennen, den Freiern verraten. Zudem ist Telemach an der Schwelle zur Mannbarkeit angelangt und damit der Zeitpunkt erreicht, an dem Penelope, so Odysseus bei seinem Abschied vor zwanzig Jahren, sich neu vermählen solle.

Mit der Darstellung der ithakesischen Verhältnisse schafft Homer einen Horizont, in dem die Rückkehr des Odysseus erst ihre rechte Schärfe gewinnt.[2] Er führt dem Leser das Ziel der Irrfahrten des Odysseus vor Augen. Wenn wir später von Odysseus’ Abenteuern lesen, seinen Begegnungen mit Kirke und Kalypso, der Fahrt in die Unterwelt, der Grotte des Kyklopen, so haben wir schon ein Bild davon, wohin die Reise führen soll. Odysseus’ unstillbares Verlangen nach Heimkehr treibt die Handlung an, durch die Telemachie erhält es für den Leser Kontur. Zudem gibt die Telemachie der Odyssee einen geographischen Rahmen: Die Handlung beginnt und endet auf Ithaka.

Jetzt, während der Lektüre der Telemachie, drängt sich die Frage auf, wie es Odysseus gelingen wird, seinen alten Hof zurückzugewinnen, auf dem sich mehr als hundert Freier breit gemacht haben. Vor allem aber: Wie kann Odysseus rechtzeitig zurückkehren, bevor die Freier den nun erwachsenen Telemach aus dem Weg geräumt und Penelope zur Hochzeit genötigt haben? Die Zeit drängt … Noch vor dem Eintritt des Odysseus in die Handlung erzeugt die Schilderung der Situation auf Ithaka Spannung.

Dabei handelt es sich um eine besondere Form der Spannung. Weil sie für antikes Erzählen charakteristisch ist und zum Nachdenken über Zeit und Erzählung im allgemeinen anregt, sei sie genauer beschrieben, bevor wir weitere Funktionen der Telemachie kennenlernen. Dem heutigen Leser dürfte ebenso wie den antiken Zuhörern das Ende der Odyssee bekannt sein: Allen Hindernissen zum Trotz gelingt es Odysseus, nach Ithaka zurückzukehren und seinen Platz neben Penelope wieder einzunehmen. Dieses Ende ist nicht nur durch die Bekanntheit des Mythos verbürgt, es wird auch in der Odyssee immer wieder vorweggenommen. Gleich am Anfang sichert Zeus Athene zu, er werde Odysseus gegen den Widerstand des Poseidon eine – wenn auch mühevolle – Heimkehr gewähren. In der Volksversammlung des zweiten Buches weissagt der greise Zeichendeuter Halitherses nach einem auffälligen Vogelflug, daß Odysseus in Kürze auftauchen und furchtbare Rache nehmen werde. Für die Figuren sind derartige Vorhersagen keineswegs verbindlich. So ficht der Freier Eurymachos die Worte des Halitherses an (2.180–2): «Doch dieses hier weiß ich viel besser als du auszulegen! Vögel kommen und gehen viele unter den Strahlen der Sonne, sind aber nicht alle von Vorbedeutung!» Er unterstellt Halitherses sogar, er schiele nur auf ein Geschenk von Telemach. Anders der Leser: In Kenntnis der Handlung und als Zeuge der Gespräche zwischen den Göttern weiß er um die Verläßlichkeit der Prophezeiung ebenso wie um die Relevanz anderer Zeichen.

Kann aber Spannung entstehen, wenn das Ende bekannt ist? Ist dafür nicht ein offener Ausgang unabdingbar? So mag man zuerst denken, aber die Odyssee zeigt, daß gerade die Bekanntheit des Endes hier für Spannung sorgt. Sie läßt den Leser nämlich fragen, auf welchem Weg die Handlung das erwartete Ende erreichen werde. Die Spannung richtet sich weniger auf das was als auf das wie. Die Spannung auf das was bauen Vorhersagen und auktoriale Vorwegnahmen in der Tat ab, dafür können sie eine auf das wie gerichtete Spannung erhöhen. Die Vorwegnahmen in der Odyssee, seien sie in die Handlung eingebettet oder nur dem Leser zugänglich, sind vage und stacheln die Phantasie des Lesers an. Wie, so fragt man sich etwa nach der Prophezeiung des Halitherses, wird Odysseus es fertigbringen, von Ogygia, der Insel der Kalypso, nach Ithaka zu gelangen und, einmal dort angekommen, die über hundert Freier auszuschalten?

Die Spannung auf das wie ist charakteristisch für antike Literatur. Viele Genres bedienen sich aus der Schatzkammer des Mythos und greifen damit auf bekannte Sujets zurück – neben dem Epos zum Beispiel die Tragödie. Die Zuschauer des euripideischen Orest hatten keinen Zweifel daran, daß der Titelheld ungeschoren davonkommen werde. In den Bann schlug sie aber die Frage, wie Euripides die Handlung zu diesem von der mythischen Tradition diktierten Ende führt. Anders als Aischylos setzt er kein Gericht ein, das den Muttermörder freispricht. Orest wird zum Tode verurteilt und nimmt die Tochter des Menelaos, der ihm die Unterstützung verweigert hat, als Geisel. Nur die Intervention des Gottes Apollon vermag das erwartete Ende herbeizuführen. Nicht die Frage nach dem Ausgang, sondern die sich immer weiter öffnende Kluft zwischen dem Verlauf der Handlung und dem erwarteten Ende raubte den Zuschauern im Dionysostheater den Atem.

Auch Gattungen mit nichtmythischen Handlungen bedienen sich der Spannung auf das wie. Im griechischen Roman etwa erfüllen die Konventionen des Genres eine ähnliche Funktion wie der vertraute Mythos. Der Leser erwartet, daß das strahlende Paar nach zahlreichen Abenteuern und Proben alle Hindernisse überwinden und am Ende seine Liebe vollziehen wird. In vielen Fällen nehmen auch hier Zeichen und Orakel das Ende vorweg. In Heliodors Aithiopika, dem Roman...