Navy SEAL im Einsatz

von: Marcus Luttrell, James D. Hornfischer

riva Verlag, 2016

ISBN: 9783959712446 , 450 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 15,99 EUR

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Navy SEAL im Einsatz


 

Einleitung
Brüderlichkeit


Oktober 2009
Pensacola, Florida

Es war gegen vier Uhr morgens, als mein Handy zu summen begann. Ich setzte mich auf, nahm es vom Nachttisch und starrte auf das Display. Der Anrufer war JT, einer meiner engsten Teamkameraden.

Es war klar, was ein Anruf um diese Uhrzeit bedeutete. Ich wischte mit dem Finger über das Display und fragte: »Was ist mit meinem Bruder?«

Es musste um Morgan gehen, und ich hatte recht.

»Sein Zustand ist stabil, Bro, aber es hat ihn übel erwischt.«

Ich fühlte, wie mich Schwäche überfiel. »Ich bin auf dem Weg.« Als ich auflegte, wurde mir übel. Ich lief ins Bad und übergab mich.

JT hatte aus dem Naval Medical Center in Portsmouth angerufen. Mein Bruder und sein Platoon hatten in der Nacht knapp 40 Kilometer vor der Küste von Virginia an einer Übung teilgenommen. Es war eine wolkenlose Nacht, und es herrschte nur geringer Wellengang, als sich der Black Hawk einem Kriegsschiff näherte. Der Hubschrauber ging auf der ­Backbordseite in den Sinkflug und blieb in geringer Höhe über dem Deck der USNS ­Arctic in der Luft stehen. Die Besatzung ließ die Seile herab, die wie schlaffe Feuer­wehrrutschstangen vom Vogel zum Deck hingen. Morgan und seine Kameraden saßen mit baumelnden Beinen in der offenen rechten Tür bereit.

Die amerikanische Marine beteiligte sich am Kampf gegen die internationale Piraterie, weshalb Übungen wie diese ein fester Bestandteil der Ausbildung waren. Die SEALs mussten lernen, Piraten aufzuspüren und ihre Schiffe zu entern. Es war sechs Monate her, dass somalische Piraten das Containerschiff Maersk Alabama gekapert und den amerikanischen Kapitän als Geisel genommen hatten. Eines unserer Scharfschützenteams hatte auf dem überhängenden Teil des Hecks eines amerikanischen Kriegsschiffs Position bezogen und die drei Geiselnehmer erschossen.

Als nun mein Bruder und seine Kameraden gerade mit dem Abseilen beginnen wollten, durchtrennte der Hauptrotor des Hubschraubers ein schweres Spannkabel, das einen der riesigen Schornsteine des Schiffs stabilisierte. Die Rotorblätter verfingen sich in dem dicken Kabel, und der Black Hawk geriet außer Kontrolle. Die in der Tür sitzenden SEALs wurden in den linken Teil des Laderaums geschleudert. Der Hubschrauber krachte auf das Deck, Stahl auf noch dickeren Stahl, und kippte auf die Seite. Von dem Aufprall benommen, sah Morgan Feuer, das, wie aus einem riesigen Flammenwerfer geschossen, auf ihn zuraste. Er konnte nicht aufstehen und versuchte, dem Inferno kriechend zu entfliehen. Es gelang ihm, aus dem Wrack zu entkommen, aber dann fiel er über eine Kante fünf Meter hinab auf das nächste Deck des Schiffs. Bei dem Aufprall verlor er das Bewusstsein.

Während die Schiffsfeuerwehr das Feuer löschte, barg ein Team in Schutzausrüstung die Verletzten. Bei einer schnellen Sichtung der Lage stellte sich heraus, dass der Kommandant der Hubschrauberbesatzung tot war. Acht weitere Männer, darunter Morgan, waren schwer verletzt. Innerhalb kürzester Zeit flog ein Hubschrauber die Verwundeten nach Portsmouth aus. Vom Krankenhaus aus verbreitete sich die Nachricht von dem Unglück wie ein Lauffeuer.

Als JT anrief, war ich in Florida, wo ich mich nach einer Rückenoperation einer Reha unterzog. Nach den letzten beiden Kampfeinsätzen war meine Wirbelsäule eine Großbaustelle für die Ärzte, aber nichts konnte mich davon abhalten, nach Portsmouth zu fliegen, um meinen Bruder zu besuchen. Morgan und ich lassen immer alles stehen und liegen, um einander zur Seite zu stehen – und zwar wirklich immer. Ich rief einen großherzigen Freund an, der ein Privatflugzeug besaß, und zwang ihn, mir zu helfen. Während er nach Pensacola flog, um mich abzuholen, packte ich eine Tasche, sprang in meinen Mietwagen und raste zum Flughafen. Wenige Stunden später verschwand der Golf von Mexiko hinter uns.

Der Flug in den Norden schien ewig zu dauern, und je näher wir dem Flughafen Norfolk in der Nähe von Portsmouth kamen, desto langsamer schien die Zeit zu vergehen. Als ich im Krankenhaus eintraf, wartete Morgan gerade auf ein MRT. Als ich das MRT-Labor betrat, hob er den Kopf und zwinkerte in meine Richtung. Ich lief zu ihm hinüber. Sie hatten ihn auf einer Trage festgeschnallt, da er unter heftigem Schluckauf litt. Jeder der kleinen Zwerchfellkrämpfe schüttelte seinen zerschlagenen Oberkörper unter furchtbaren Schmerzen durch. Unsere Blicke trafen sich, und mein Hals schnürte sich zusammen, als ich ihn so daliegen sah. Mein Magen hob sich erneut, aber er enthielt nichts mehr, was ich hätte erbrechen können.

»Hey, mijo« sagte er. Der spanische Spitzname, den er mir gegeben hatte, bedeutet so viel wie »Kleiner«. Der Klang seiner Stimme holte mich in die Wirklichkeit zurück. Ich nahm seine Hand, umarmte ihn behutsam und sagte: »Ich bin hier, Brüderchen. Wir schaffen das.«

Der Techniker starrte konzentriert auf seinen Computerbildschirm und schien mich nicht bemerkt zu haben. Anscheinend konnten sie das MRT nicht machen, solange der Patient unter Schluckauf litt, aber sie taten nichts, um die Krämpfe zu stoppen. Ich machte dem Techniker klar, dass er seine Arbeit machen solle: »Heben Sie Ihren faulen Arsch und helfen Sie meinem Bruder, bevor ich Ihnen die Arme abreiße und Sie damit durchprügle!« Im Handumdrehen bekam Morgan ein Medikament, und als der Schluckauf nachließ, schoben die Techniker ihn in die Röhre.

Meinen Bruder dort liegen zu sehen und ihm nicht helfen zu können zerriss mich innerlich. Er ist einer der härtesten Männer, die ich kenne. Er kann nicht einfach nur Schmerzen ertragen, sondern er bietet dem Schmerz die Stirn.

Als er sich im College das Sprunggelenk anknackste und kein Geld für den Arzt hatte, humpelte er mehrere Wochen mit dem verletzten Fuß he­rum, weil er zu den Vorlesungen gehen und arbeiten musste. Im Lauf seines Dienstes hatte er sich zahlreiche Knochen gebrochen und eine Vielzahl blutender Wunden zugezogen, aber verglichen mit dem hier, waren das alles Lappalien: Das MRT zeigte, dass seine Wirbelsäule an sechs Stellen gebrochen war. Außerdem hatte er einen Beckenbruch erlitten.

Im Warteraum rief ich JT und einen weiteren Kameraden an, der den Spitznamen »Boss« trug. In den fünf Tagen, die Morgan im Krankenhaus verbrachte, stellten wir in seinem Zimmer ein Feldbett auf und ließen ihn nicht eine Minute lang allein. Wir hielten abwechselnd rund um die Uhr Wache. Morgan nimmt keine Schmerzmittel, es sei denn, die Schmerzen lassen ihn nicht schlafen oder stören auf andere Art den Heilungsprozess. Also taten wir unser Bestes, um ihn abzulenken. Wir sorgten dafür, dass er Besuch bekam, wenn er Gesellschaft wollte. Wir beschafften ihm einen DVD-Player und etwas zu lesen und bemühten uns um eine heitere Atmosphäre. Doch vor allem gaben wir ihm Raum, sich auszuruhen.

Wenn er sich erleichtern musste, schickten wir die Schwestern hinaus und machten die Arbeit selbst. Einer von uns packte ihn an den Schultern, der Zweite an den Füßen und der Dritte an der Hüfte, um ihn behutsam zur Seite zu rollen, damit er sein Geschäft verrichten konnte. Da ihm all diese Medikamente und Flüssigkeiten in die Adern gepumpt wurden, war das normalerweise eine Sauerei. (Es war wie in dieser Szene in Der Exorzist, nur dass es am anderen Ende herauskam.) Es war immer klar, wer im Raum den niedrigsten Rang hatte, denn dieser Mann war für das Putzen zuständig. Was immer Morgan brauchte, wir taten unser Bestes. Denn das tun Brüder füreinander.

Aber es ist unmöglich, Morgan lange Zeit stillzuhalten. Als sein Appetit zurückkehrte, war uns klar, dass er auf dem Weg der Besserung war. Und als JT anfing, mit den Schwestern zu flirten, wusste ich, dass wir ein weiteres Stück des Weges geschafft hatten: Wenn wir anfangen konnten, uns wieder ein bisschen um uns selbst zu kümmern, war klar, dass Morgans Lage sich verbessert hatte. An diesem Punkt begannen wir, ihn mit liebevoller Härte anzufassen.

»Dein Rücken ist gebrochen – willkommen in meiner Welt, Bruder. Hat ganz schön gedauert, bist du das geschafft hast!«

»Du tust dir hoffentlich nicht leid, nicht wahr?«

»Wenn du dich ein bisschen zusammenreißt, wird das hier schnell vorbei sein.«

»Wenn du es nicht schaffst, wird dein Team ohne dich zum Einsatz aufbrechen.«

Diese Aussicht machte ihm am meisten zu schaffen.

Wenn die Ärzte vorbeischauten, fragten wir sie, ob sie die große Narbe von seiner Stirn auf die Wange verlegen könnten, da die meisten Mädchen Narben an der Stelle lieber mögen.

Hin und wieder gewährten wir ihm eine Atempause, aber die meiste Zeit sorgten wir dafür, dass ihm klar war, dass sein Team mit seiner Rückkehr rechnete, sobald er die Operationen und die Reha hinter sich hatte. Wir hielten sein Elend auf einigen urkomischen Fotos für die Nachwelt fest, denn es würde der Tag kommen, an dem wir diese Fotos hervorkramen müssten, damit er demütig blieb.

Als er die chirurgischen Eingriffe hinter sich und eine Weile das Kranken­hausleben genossen hatte, sagte Morgan schließlich: »Bro, ich muss unbedingt hier raus.« Nicht, dass er unser inoffizielles Trainingsprogramm sattgehabt hätte – er war einfach an dem Punkt angelangt, an dem er die Gefangenschaft nicht länger ertragen konnte. Also entwarfen wir einen Evakuierungsplan.

Es würde ein schneller und schmutziger Einsatz werden, und da wir auf einen Mann wie JT zählen konnten, waren wir überzeugt, dass es tatsächlich klappen würde. Als die Nacht einbrach, ging JT hinaus auf den Gang und begann, eine der Schwestern...