Kritik der arabischen Vernunft

von: Mohammen Abed Al-Jabri

Perlen Verlag, 2013

ISBN: 9783942662055 , 169 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Kritik der arabischen Vernunft


 

Vorwort
Ex okzidente lux


Der arabische Aufklärer Mohammed Abed Al-Jabri

Reginald Grünenberg und Sonja Hegasy

Die arabo-islamischen Wissenschaften waren einst die wichtigsten Lehrmeister des nachrömischen Europas. In den Gebieten der arabischen Expansion von den Pyrenäen bis nach Vorderasien wurden die Schätze der griechischen Antike übersetzt, kommentiert und auf diese Weise überliefert. Unter den omajjadischen Emiren und späteren Kalifen auf der spanischen Halbinsel (756-1031) erlebten wissenschaftliche Errungenschaften wie die arabische Medizin, Philosophie und Mathematik ihre Hochzeit. Córdoba, zehn Mal größer als alle anderen europäischen Städte ihrer Zeit, war im 10. Jahrhundert eine Perle der Zivilisation, tolerant gegenüber Juden wie Christen. In ihren öffentlichen Bibliotheken befanden sich die größten Büchersammlungen des Abendlandes. Doch der viel versprechende Anfang wurde nicht fortgesetzt. Europa stieg unaufhaltsam auf, das islamische Weltreich implodierte. Die Kreuzzüge im Osten – zwischen 1096 und 1396 gab es sieben Haupt- und mehr als doppelt so viele Nebenkreuzzüge unter dem Vorwand der Befreiung Jerusalems von den muslimischen Besatzern –, die spanische Reconquista im Westen – Córdoba wurde 1236 von den Christen zurückerobert – und schließlich der aggressive Kolonialismus waren der europäische Beitrag zum spektakulären Niedergang der arabischen Kultur. Doch heute, im dritten Jahrhundert nach den großen bürgerlichen Revolutionen – die Glorious Revolution in England 1688, der amerikanische Unabhängigkeitskampf 1779 und die Französische Revolution 1789 –, im Zeitalter der Globalisierung und der Menschenrechte, wo abgesehen von militärischer Bedrohung und Hegemonie auch die amerikanisch-europäischen Muster wirtschaftlicher und kultureller Dominanz nicht mehr widerspruchslos akzeptiert werden, muss auch der Westen neue Wege gehen. Es stellt sich allerdings die Frage, wer heute unsere Gesprächspartner in der arabischen Welt sein könnten? Mit dem Erstarken des Islamismus im 20. Jahrhundert, den Anschlägen vom 11. September 2001 und dem Reflex eines „Krieges gegen den Terrorismus“ haben sich die Voraussetzungen für eine Verständigung auf beiden Seiten nicht verbessert. Und es schien, als müsste die arabische Welt zuerst heraustreten aus der historisch nachvollziehbaren, jedoch weitgehend unfruchtbaren und zum Teil sogar selbstzerstörerischen Opferrolle (siehe hierzu das Kapitel Nachtrag 2012: Der Tod des Philosophen und die arabischen Revolutionen). Die Journalistin Sonja Zekri fragte, wo die Stimmen in der arabischen Welt waren, welche die „sterile Routine des Antiamerikanismus zugunsten einer Selbstkritik“ überwinden wollten (Süddeutsche Zeitung, 26.3.2004). Und der türkischstämmige Lyriker Zafer Şenocak forderte eine „innere Debatte über die Konflikte des muslimischen Glaubens mit der Moderne“ und eine „kritische Analyse der eigenen Tradition“, auf deren Grundlage die Muslime eine Charta entwickeln könnten, die ihr Zusammenleben mit Nicht-Muslimen in offenen, demokratischen Gesellschaften regelt (Die Welt, 3.1.2008). Gibt es also in den Reihen der muslimischen Eliten eine Debatte, die diese Forderungen einlösen könnte, die die Hoffnungen der arabischen und möglicherweise auch nicht-arabischen, muslimischen Gesellschaften auf eine bessere Zukunft ermutigt sowie den aggressiven Islamismus isolieren könnte?

In seinem Artikel Zuviel Poesie, zuwenig Selbstkritik lenkte der Politikwissenschaftler Bassam Tibi als erster die Aufmerksamkeit einer breiteren Öffentlichkeit* auf den Namen eines großen arabischen Aufklärers, der außerhalb der Region noch weitgehend unbekannt ist, nämlich den Marokkaner Mohammed Abed Al-Jabri** (DIE ZEIT 2004/49). Er war, so schrieb Tibi, einer der letzten noch lebenden arabischen Linken, die nicht in das ideologische Lager der Islamisten übergelaufen waren. Fast ein halbes Jahrhundert lang arbeitete Al-Jabri an einer umfassenden und kritischen Reflexion des Niedergangs der arabischen Kultur. Sein vierbändiges Hauptwerk Naqd al-caql al-carabī, erschienen 1984 bis 2001 in Beirut und Casablanca, löste von Marokko über Ägypten bis in die Golfstaaten kontroverse Diskussionen aus. Der Titel erscheint uns in der deutschen Übersetzung vertraut und weckt hohe Erwartungen: Kritik der arabischen Vernunft.

Mohammed Abed Al-Jabri wurde 1935 in einer halbnomadischen Berberfamilie im südlichen Marokko geboren. Nach der Koranschule absolvierte er eine Schneiderlehre, wurde Volksschullehrer und begann 1958 ein Philosophiestudium in Damaskus. Dieses schloss er 1968 mit einem Hochschuldiplom für Philosophie in Rabat/Marokko ab und wurde 1970 mit einer Dissertation über den Historiker und wichtigsten Vorläufer der modernen Soziologie Ibn Khaldun (1332-1406) promoviert. Ab 1968 unterrichtete Al-Jabri bis zu seinem Tod 2010 islamische Ideengeschichte in Rabat. Anfang der achtziger Jahre wurde er unter arabischen Intellektuellen bekannt mit seinen Büchern Wir und die Tradition und Der zeitgenössische Diskurs. 1984 erschien der erste Band der Kritik der arabischen Vernunft unter dem Titel Die Genese des arabischen Denkens. 1986 folgte Die Struktur des arabischen Denkens, 1990 der dritte Band, Die arabische Vernunft im Politischen und 2001 abschließend Die praktische arabische Vernunft.

Al-Jabri erhielt 1988 den Bagdad-Preis für arabische Kultur der UNESCO. Viele andere Preise hat er abgelehnt, etwa 1989 den Saddam-Hussein-Preis oder 2002 den Gaddafi-Preis für Menschenrechte. Sein Hauptwerk ist bis heute in keiner anderen Sprache veröffentlicht – und diese internationale Anonymität war lange Zeit beabsichtigt. Al-Jabri wollte mit seiner Kulturkritik einen dezidiert innerarabischen Diskurs entwickeln. Die meisten arabischen Intellektuellen, so sein Vorwurf, kritisieren die islamische Kultur von einem Standpunkt europäisch anerzogener Exteriorität, wodurch sie das Eigentümliche des subjektiven, religiös-praktischen Erlebens und damit die für das Verständnis der Religion konstitutive Rolle der ‚Tradition’ (turāth) aus den Augen verlieren. Deshalb verweigerte Al-Jabri lange Zeit, sich der intellektuellen Diaspora in Paris anzuschließen, und lehnte eine Vielzahl von Einladungen nach Europa ab. Viele muslimische Intellektuelle fragen sich heute, warum sie ihre Zeit damit vergeudet haben, ein westliches Publikum von den Entwicklungsmöglichkeiten ihrer Religion und Kultur zu überzeugen, anstatt die interne Diskussion zu forcieren.

Es ist längst überfällig, dass die Kritik der arabischen Vernunft in Europa wahrgenommen wird als eine der einflussreichen, kritischen Stimmen im innerarabischen Diskurs über Identität, Geschichte und Politik. Es gibt viele Bücher, die sich in der Nachfolge Immanuel Kants mit dem Titel Kritik schmücken, doch selten ist diese Anmaßung so berechtigt wie bei Al-Jabris profunder und hochgradig origineller Fundamentalanalyse arabischer Wissensproduktion. Philosophische Kritik bedeutet bei Kant die Bestimmung der Grenzen des legitimen Vernunftgebrauchs bei der Erzeugung von naturwissenschaftlichem, moralischem und theologischem Wissen mit universellem Anspruch. Al-Jabri will in Anlehnung an dieses Verfahren zeigen, wie das arabische Denken mit seiner spezifischen Wissensproduktion die Grenzen seiner legitimen Ansprüche überschritten und sich in eine Kultur der „schlechten Universalismen“ verwandelt hat. Das arabische Wissen bestehe zum Beispiel, basierend auf den Grundlagen des islamischen Rechtssystems, aus analogisch abgeleiteten Verallgemeinerungen, die eine Universalisierung nicht leisten können. Al-Jabri suchte einen Weg zurück zu den Ursprüngen der arabischen Ideen- und Geistesgeschichte. Dazu brachte er die antiken Quellen wieder zum Sprechen, vor allem durch die Schriften von Ibn Rushd, der im Mittelalter unter dem Namen Averroes als der große arabische Kommentator aristotelischer Schriften berühmt war. Al-Jabris Anknüpfen an die arabische Aufklärung des 12. Jahrhunderts zielt auf eine Neubegründung des arabischen Rationalismus.

Für die Untersuchung der Art und Weise, wie in der arabischen Kultur bisher Wissen produziert wurde, greift er auf den Begriff der Episteme zurück, den der französische Philosoph Michel Foucault in seiner wissensarchäologischen Studie Die Ordnung der Dinge (1966) eingeführt hat. Episteme sind, dem Begriff des Paradigmas verwandt, epochenspezifische Vorstellungen, die der Wissensbildung wie ein logisches Unterbewusstsein vorauseilen. Abweichend von Foucault möchte Al-Jabri allerdings nicht jede Epoche von einer einzigen Episteme beherrscht sehen, so wie das Spätmittelalter und die Renaissance nach Foucault etwa von der Episteme der Ähnlichkeit bestimmt war, sondern die Koexistenz von mehreren Epistemen zur selben Zeit beschreiben. Im Unterschied zu Foucault hält er die Episteme auch nicht für unzugänglich und innerhalb ihrer Epoche unveränderbar wie Adam Smiths berühmte „unsichtbare Hand“, Hegels „List der Vernunft“ oder eine Luhmannsche Systemtheorie, die hinter den Kulissen das gesamte Kulturgeschehen alternativlos arrangiert,...