Vom Regen in die Traufe - Krebs haben Patienten, ich doch nicht

von: Magde Conrad-Schneider

Magdes Verlag, 2014

ISBN: 9783958491298 , 499 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Vom Regen in die Traufe - Krebs haben Patienten, ich doch nicht


 

Freizeit und Freiheit

So verging Woche um Woche. Morgens hatte ich meistens meine Bestrahlungstherapie, das war wunderbar. Denn ich konnte ausschlafen, das hieß, eine Stunde länger als sonst oder als Paulo. Und doch musste ich um 7.30 Uhr aufstehen, damit ich pünktlich beim Bestrahlen war. So hatte ich eine Struktur im Tagesablauf, was auch eine gewisse Hilfe war. Alles konnte ich in Ruhe erledigen. Jeden Tag etwas Frühgymnastik, die Arme bewegen, möglichst im Freien oder am offenen Fenster, das weckte meine Lebensgeister. Es ging tatsächlich so weiter, ich hatte jeden Tag Besuch. Eine Freundin aus Idstein bei Frankfurt kam extra angefahren, meine alten Kolleginnen von der EKG-Abteilung der Klinik und so weiter. Und alle rieten mir einstimmig, auf jeden Fall den Mexikourlaub zu machen und danach in Reha zu gehen. »Eine Kur ist immer gut und du musst dich noch viele Jahre im Beruf bewähren, das braucht Kraft.« So war der einstimmige Konsens meiner Besucherinnen, wenn wir das Thema Bestrahlung und Rehabilitation anschnitten. Auch die Romreise fanden alle toll, ich sollte mir ruhig den Tapetenwechsel gönnen, nach all den körperlichen und psychischen Strapazen. Ich sollte mein Ding durchziehen, am Arbeitsplatz würde sich schon alles wieder einrenken, wurde ich immer wieder getröstet.

Paulos Geburtstag stand an, er wollte jedoch nicht feiern und wir ließen es ruhig angehen. Wir fuhren nach Würzburg und verbrachten dort einen schönen Tag. Am Abend kamen nur ein paar einzelne Freunde vorbei, die gesehen hatten, dass wir zu Hause waren. Das war einfach und unkompliziert und da wir sonntags auch zu einer Konfirmation eingeladen waren, war das Wochenende schnell wieder um. Montags traf ich mich nochmal einmal mit meinem Chef in der Praxis und sagte ihm definitiv, dass ich die Reha für den Sommer beantragt hatte. Es fiel genau in diese drei Sommerwochen, in denen die Praxis geschlossen hatte. Dieses Mal war es ein schönes Gefühl in der Praxis zu sein, alle waren freundlich zu mir, mein Chef schaute mir offen in die Augen, es war einfach alles gut jetzt. Einige Patienten sprachen mich sofort an und wiesen darauf hin, wie sehr ich abgenommen hätte. »Ist das das Fitness-Center?«, fragten einige Männer. Bei uns in der Praxis wurde sehr viel Wert auf Bewegung gelegt, die Patienten bekamen ärztliche Unterstützung und Beratung, was Bewegungstherapie und Fitness betraf. So lag es also nahe, dass sie dachten, ich hätte intensiv Sport betrieben. Irgendwie war das Phänomen lustig. Die Männer betonten, wie gut ich aussähe, die Frauen hingegen, dass ich so schmal geworden wäre und krank aussähe. Einige Menschen wussten von meiner Diagnose und sagten dann: »Magde, du siehst so gut aus, du kannst doch gar nicht krank sein.« Ich erklärte es ihnen damit, dass ich momentan keinen beruflichen Stress hätte und Zeit, mich zu pflegen und zu schminken. So kam ich wirklich auf den Geschmack des schönen Lebens. Freundinnen in der Stadt treffen, da gab es dann jedoch Verbot für das Thema Krebs, oder ich marschierte nach der Bestrahlung wieder zu Fuß weiter in einen anderen Stadtteil, nach Steinbach, und traf mich dort mit einer brasilianischen Freundin mit zwei kleinen Jungs. Dann ging es um Kindererziehung, um Spielsachen und um Brasilien. So waren meine Tage bunt und abwechslungsreich. Zwischendurch, jedoch eher selten, tat ich auch etwas für den Haushalt, taute die Gefriertruhe ab und wusch alles schön aus. Die normalen, schnellen Hausarbeiten, wie Putzen, Kochen, Blumengießen, liefen so nebenbei. Größere Arbeiten und gründlichere Säuberungs- und Aufräumaktionen brauchten bei mir allerdings einen größeren Ruck.

Eines Tages plante ich einen Tagesausflug mit dem Zug nach Karlsruhe zu meiner Freundin. Ich hatte mich am Vortag um einen extra frühen Bestrahlungstermin bemüht, was auch super geklappt hatte. Ich wurde pünktlich aufgerufen und auch die Technik machte mir keinen Strich durch die Rechnung, sodass ich überpünktlich fertig wurde. Als Überraschung bekam ich ein kleines Päckchen von einer früheren Lehrerin überbracht, sie kannte die Karlsruher Freundin ebenfalls. Ein kleines erfrischendes Duftspray für die Reise, Schokolade, ein persönliches Brieflein und eine Grußkarte für Hilde, meine Freundin. Dem Team in der Bestrahlung kam es schon verdächtig vor, dass immer wieder jemand nach mir fragte oder etwas für mich abgab. Aber wenn man über 30 Jahre in einer Klinik arbeitet, ist es wohl normal, dass viele Aufmerksamkeiten an solch eine Person gehen. So packte ich das Geschenk hurtig ein und machte mich auf der Toilette schnell noch zurecht. Danach ging ich zu Fuß zum Bahnhof, fuhr mit dem Zug nach Karlsruhe in die Stadt. Unterwegs leistete mir ein Musikstudent Gesellschaft, der mir seinen interessanten Lebenslauf erzählte. Und ich traf Heide, eine Bekannte aus dem Ort. Wir hatten ein wirklich wertvolles Gespräch, nicht nur den üblichen Small Talk. Also verflogen die Stunden im Zug wie im Nu und es tat mir gut, wieder einmal den Zug nützen zu können. Damals, vor Wochen, hatte ich die ähnliche Strecke nach Ludwigsburg gemacht und es war noch traumatisch in meiner Erinnerung, wie ich gesund hinfuhr und als Krebskranke mit dem Zug zurückkam. Deshalb war es mir wichtig, jetzt eine ganz normale Zugfahrt zu erleben.

Dort angekommen, traf ich mich mit meiner Freundin Hilde. Wir beide sind sehr vertraut, können über alles offen sprechen, jede akzeptiert die Kritik und die Gedanken der anderen und es gibt keine Tabus. Wie wunderbar, solche Freundinnen zu haben, ich schätze mich glücklich deswegen.

Karlsruhe war eine schöne Stadt, das Wetter wunderbar, das Essen schmackhaft, der Kaffee super, der Kuchen in Hildes gemütlichem Wintergarten lecker und die Gespräche offen und vertraut, einfach alles perfekt. Abends um 22.00 Uhr kam ich müde, aber glücklich am Heimatbahnhof an. Und mein ebenfalls müder Paulo holte mich nach einem langen Arbeitstag direkt nach seinem Dienst mit dem Auto ab. Schon seit einigen Jahren hatte ich keine solchen Unternehmungen mehr gemacht. Bis jetzt hatte immer die tägliche Arbeit das Wochenpensum ausgefüllt und am freien Wochenende waren wir dann gemeinsam im Auto unterwegs oder hatten Besuch. Ich nahm jetzt viel bewusster vieles vom Leben wahr, was bisher einfach neben der Arbeit an mir vorbeigeglitten war. Es machte mich zufrieden, dass ich jetzt so viele Möglichkeiten hatte, meine Zeit sinnvoll zu füllen, ohne mich anstrengen zu müssen oder unter Zeitdruck zu stehen. Es gab sogar gemütliche Tage in der Hängematte.

Eines Samstags sollten wir unserer Tochter beim Umzug helfen. Ich bereitete einen schwäbischen Kartoffelsalat für den Besuch bei Tonia vor. Dazu fehlte mir sonst häufig einfach die Geduld. Aber nun hatte ich Zeit und konnte vor mich hin trödeln und mich schon auf das Wiedersehen mit meiner Tochter freuen. Der Kartoffelsalat wurde sehr lecker und am Samstag fuhren wir schon früh nach Koblenz los, um dort Tonia bei ihrem Umzug zu helfen. Sie wollte ihr Studentenzimmer aufgeben, denn sie würde bald nach Berlin ziehen um dort nach ihrem Studium praktische Berufserfahrung zu sammeln. Die Fahrt zog sich hin, aber ich konnte mich gut mit Paulo unterhalten, wir sprachen offen über unsere Gefühle und unser Ergehen. Dank Navigation waren wir bald an Ort und Stelle und konnten Tonia begrüßen. Sie hatte alles perfekt vorbereitet und wusste, was mit nach Hause sollte und was sie noch brauchen würde. Deshalb luden wir unser Auto bis unters Dach systematisch voll und, welch Wunder, es passte fast alles hinein. Die anderen Möbel verkaufte sie vor Ort, einen Teil hatte auch der Nachmieter übernommen. Wir machten ein schwäbisches Mittagessen mit Maultaschen und Kartoffelsalat von mir, es schmeckte richtig gut, alle waren zufrieden und satt. Wir hatten eine vierstündige Fahrt zurück nach Hause und mussten schließlich das ganze Zeug zu Hause irgendwie verstauen. Das beanspruchte einen vollen Samstag.

Am Sonntag kam mein jüngster Bruder mit seinen Söhnen vorbei. Er hatte gerade mit einem Burn-out-Syndrom zu kämpfen und hatte selbst genügend Probleme. Aber der Austausch war erfrischend und tat allen Seiten gut. Gerade seit meiner Krebsdiagnose bekam ich bewusst zu spüren, dass nicht nur Freunde und Bekannte, sondern gerade meine Familie und Geschwister immer wieder die Begegnung und das Gespräch mit mir suchten. Das fand ich sehr berührend und wertvoll.

Montags, es war inzwischen der 30. April, hatte sich meine Schwester Friedlinde aus dem Schwarzwald angemeldet. Das war etwas Besonderes, denn wir sehen uns nur selten. Und wenn wir uns einmal treffen, dann mit der gesamten Familie im Schlepptau. Aber durch die Krebsdiagnose wollte meine Schwester mit mir alleine sein und mich persönlich besuchen. Nur zu zweit lässt sich so manches offener besprechen und bereden. Am Nachmittag machten wir uns gemeinsam auf und besuchten eine Tante von uns. Ich hatte schnell noch einen Blumenstrauß für sie besorgt. Welche Freude hatte die Tante mit unserem Besuch, sie war voll orientiert, wusste auch von meiner Krankheit und rechnete es mir hoch an, dass ich sie trotz meiner Bestrahlung besuchen kam. Sie erzählte uns mit wachen Blicken und ausgewählten Worten von ihrem Leben und den Geschehnissen der letzten Zeit. Da ich aber meinen Termin zur Bestrahlung hatte, blieben wir nicht allzu lange und verabschiedeten uns herzlich voneinander. In der darauffolgenden Nacht verstarb die Tante ganz plötzlich. Das berührte mich sehr. Friedlinde rief mich am Tag darauf an und konnte es auch kaum glauben. Wir waren die letzten Besucher bei Tante Martha gewesen. Wie wohl tat es mir, dieses Gefühl zu erleben, alles zur rechten Zeit erledigt zu haben. Hatte ich doch zuerst Zweifel gehabt und wollte den Besuch ein paar...