Alex Schur.24 - Vom Fan zum Kapitän - Geschichte einer Eintracht-Legende

von: Oliver Zils

Societäts-Verlag, 2016

ISBN: 9783955422400 , 256 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 11,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Alex Schur.24 - Vom Fan zum Kapitän - Geschichte einer Eintracht-Legende


 

2. Alles Kopfsache


Amateur ohne Aussicht
Der Kopf ist der prägendste Körperteil. Wichtig für Entscheidungen und Leistungen auf dem Platz, aber vor allem abseits davon. Und Entscheidungen hatte ich viele zu treffen. Im Vergleich zu Karrieren von Profifußballern, die heute aktiv sind, war meine weniger linear, weniger voraussehbar. Am wenigsten für mich selbst.
251 Pflichtspiele und 23 Tore für meine Kindheits- und Jugendliebe Eintracht Frankfurt, über zehn Jahre Stammspieler in den höchsten beiden deutschen Ligen, ein gutes Jahr davon Mannschaftskapitän – das sind Eckdaten, die mir im Rückspiegel wie ein Wunder vorkommen. Für das ich vielleicht mehr als andere arbeiten musste. Hart arbeiten.
Mit Mitte 20, einem Alter, in dem viele Top-Fußballer heute ihren am besten dotierten Vertrag abschließen, auf den Zenit ihrer Laufbahn zusteuern, war ich Amateur ohne Aussicht auf einen Platz in der obersten Etage. Ich kickte in der Oberliga, hatte ein Bauingenieur-Studium an der Fachhochschule Wiesbaden begonnen. Ich haderte nicht damit, aber ich war mit 25 Jahren nicht mehr als ein fußballspielender Student.
Gerade weil es nicht absehbar war, dass ich Profi werden würde, musste ich mich immer auf meinen Kopf verlassen. Und ich konnte es. Ich habe Abitur, kam in der Berufsschule wie an der Uni klar. Ich habe eine Ausbildung, diverse Praktika und bin heute als Fußball-Lehrer tätig. Der Kopf ist ständig gefragt.
Als Kleinkind
Auch technisch gesehen hat die Kopfarbeit mein Spiel geprägt, die Karriere bei den Profis begründet und einen wichtigen Teil meiner Zweikampfstärke ausgemacht. Mit dem Kopf habe ich den größten Teil meiner Tore erzielt. Interessant ist, dass sich diese Stärke streng genommen aus einem Defizit heraus entwickelt hat.
Mit 15 Jahren wurde bei mir eine Geschwulst im rechten Knöchel entdeckt, die operativ entfernt werden musste. Der Eingriff zog eine Bewegungseinschränkung im rechten Bein nach sich. Ich kann den rechten Fuß bis heute nicht bis zur Nulllinie strecken und auch nicht so heranziehen wie den linken. Das linke Bein, das bei einem Rechtsfuß ohnehin stärker entwickelt ist, musste viel Arbeit übernehmen und wurde immer muskulöser.
Nach der langen Reha habe ich – wahrscheinlich zu einem großen Anteil unbewusst – eine spezifische Sprungtechnik entwickelt, mit der ich beim Kopfball höher kam als die meisten meiner Gegenspieler. Ich bin einbeinig abgesprungen, auch wenn es für das ungeübte Auge so aussieht, als ob der Absprung von zwei Beinen aus erfolgen würde.
In der Luft die Macht zu haben, das ist im wahrsten Sinne des Wortes erhebend. Kopfball ist für mich eine Herzensangelegenheit. Sachlich gesehen sind für einen guten Kopfball fünf Punkte entscheidend: Technik, Antizipation, Timing, Kraft und Leidenschaft.
Mein Vorbild war Armin Kraaz. Er ist der beste Kopfballspieler, mit dem ich je gespielt habe. Armin hatte eine Stabilität in der Luft, die viele Profis nie erreichen werden. Ich habe mir einige Details seines Bewegungsablaufs abgeschaut, zum Beispiel, dass er diagonal in den Luftkampf gesprungen ist. Und sehr mutig war.
Kopfball – eine Herzensangelegenheit
Der Winkel zum Gegner, mit dem man in das Luftduell hineinspringt, ist extrem wichtig. Um diesen Winkel realisieren zu können, muss man kopfmäßig immer auf der Höhe, sehr fokussiert und aufmerksam sein. Sich fragen, wo bin ich? Wo steht oder läuft der Gegner? Wo befindet sich der Ball? Man muss ständig Koordinaten verarbeiten, um permanent aktionsbereit zu sein. Die Antizipation ist Voraussetzung dafür, den richtigen Moment zu erwischen. Mit Timing konnten auch einige kleinere Spieler das Größendefizit ausgleichen – wie Olaf Thon oder Pirmin Schwegler.
Meine Größe von 1,85 Metern ist sicher eine gute Ausgangsbasis, zudem habe ich mir im Training Sprungkraft erarbeitet. Die Leidenschaft habe ich als Charaktereigenschaft mitgebracht. Ich hatte keine Angst, mir wehzutun. Im Gegenteil. Ich war bereit, die Schmerzgrenze zu überschreiten.
Viele vermeiden Kopfbälle oder gehen sie halbherzig an, für mich waren sie Herausforderung, Lust. Eigene Verletzungen haben mich nicht gebremst. Ich erinnere mich an ein Spiel gegen den VfL Bochum, in dem ich beim Kopfballduell mit dem Gegenspieler zusammengeprallt bin und mir eine Platzwunde geholt habe. Das Blut lief in Strömen, Schmerzen habe ich nicht wahrgenommen. Ich bekam einen Turban verpasst und bin in den nächsten Zweikampf gegangen, als wenn nichts gewesen wäre.
Das war der Unterschied. Ein großer Schmerz, ein traumatisches Erlebnis oder prinzipiell eine vorsichtige Haltung, ja Angst, hält viele ab, mit voller Intensität in den Zweikampf zu gehen. Mich nicht. Auch das hat dazu geführt, dass ich meistens vor dem Gegenspieler oben war und den Ball häufig noch zum eigenen Mitspieler bringen konnte. Ich schätze, dass ich eine Vielzahl meiner Kopfballduelle gewonnen habe. Der Kopfball war mein Markenzeichen.
In diesem Buch, einer Rückschau auf die ersten 45 Jahre in meinem Leben, wird es immer wieder um dieses wesentliche Element meines Spiels gehen. Für das Fortkommen im Leben war selbstverständlich bedeutender, was sich im Kopf abspielt.
Anfänge in Bockenheim
Mein Leben fing unbeschwert an: Ein geborgenes Zuhause und viel Freiheit haben es geprägt. Wenn ich nicht daheim war, war ich draußen. Seitdem ich denken kann, habe ich Fußball gespielt. Nach der Schule sind wir raus, kicken. An meine Grundschule habe ich keine große Erinnerung, außer an meine Lehrerin Frau Schwarz, eine natürliche Autorität.
Im Anschluss bin ich auf die Bettinaschule gegangen, ein Gymnasium in der Feuerbachstraße, direkte Nachbarschaft. Ich war kein herausragender Schüler, aber auch kein schlechter. Als es mit den Schmerzen im Fuß unerträglich wurde und die Geschwulst diagnostiziert wurde, war das sprichwörtlich der erste markante Schnitt in meinem Leben.
Die Operation bedeutete vier Monate Pause – im Fußball und in der Schule. Ich musste Reha machen und anschließend eine Nachprüfung ablegen. Die schaffte ich auch, aber der zuständige Lehrer hat mir dennoch empfohlen, das Schuljahr zu wiederholen. „Warum?“, habe ich gefragt. Die Antworten haben mir nicht eingeleuchtet. Und dann hat mein Vater entschieden, dass das so gemacht wird. Ich habe geheult, empfand es als eine Niederlage, dass ich zurückgestuft wurde. Im Nachhinein war es das Beste, was mir passieren konnte.
Ich kam in eine neue Klasse. Und fortan zählte ich zu den Besseren, was mich ungeheuer motiviert hat. Erst da bin ich bewusst im Schulleben angekommen, merkte, die Lehrer meinen es gut mit mir. Die Mitschüler waren nett. Zu einigen habe ich heute noch Kontakt. In dieser Zeit habe ich meine Frau kennengelernt. Denn in dieser 9b saß Ilona, sie war 14, ich 16. Sie war in mich verknallt. Ich wollte zunächst nichts davon wissen, doch das änderte sich rasch.
In der Oberstufe wählte ich Deutsch und Mathe als Leistungskurse. Vor allem der Mathelehrer war ein guter Typ. Das Abitur kam näher und ich war gewappnet. Neben den LKs wählte ich Geschichte und Biologie als Prüfungsfächer und schaffte einen Schnitt von 2,4.
Die Erlebnisse in der Schulzeit haben mir gezeigt, dass es nicht immer linear vorangeht, dass einen auch Rückschritte voranbringen können.
Als ich mit der Schule fertig war, war von einer Profikarriere nicht die Rede. Warum auch? Ich kam aus der Jugend, die ich in Bockenheim verbracht hatte und spielte jetzt in der 2. Mannschaft von Rot-Weiss Frankfurt, Bezirks-Oberliga. Ich hatte mein Leben lang davon geträumt, Profi zu werden wie manch ein Kind davon träumt, einmal Polizist oder Feuerwehrmann zu sein. Aber es gab für mich kaum Anzeichen, dass sich dieser Traum irgendwann erfüllen sollte.
Einige meiner Schulkollegen und Freunde sind damals ins Ausland gegangen, zumindest mal für ein Jahr. Weil ich sehr heimatverbunden bin und hier gekickt habe, habe ich mich für Jura an der Goethe-Universität in Frankfurt eingeschrieben. Es war ein Versuch. Als wir zum ersten Mal die Bibliothek besucht haben und ich die ganzen Paragraphen-Wälzer gesehen habe, teilweise mit Staub drauf, hatte ich eine unangenehme Ahnung. Dass man sich Zeit seines Lebens mit genau diesen Büchern beschäftigen muss, gefiel mir gar nicht. Ich bin ein paar Mal zur Vorlesung gegangen, mit der Zeit immer seltener.
Nach zwei Semestern plante ich neu, dachte nach, sprach mit meinem Vater. Und bekam diesen Rat: „Mach am besten erstmal was Solides, zum Beispiel eine Bankausbildung.“ Ich fand die Idee okay und bewarb mich, wurde bei der Frankfurter Sparkasse 1822, der Deutschen Bank und der Dresdner Bank zu Tests eingeladen. Ich bin überall durchgefallen.
Bei der Dresdner Bank musste ich im Bewerbungsgespräch Buntstifte verkaufen. Mein Gegenüber, der den Kunden spielte, ließ sich aber nicht locken. Das Gespräch hat keine drei Minuten gedauert, weil ich gesagt habe: „Okay, dann eben nicht.“ Die Jury wollte natürlich etwas ganz anderes von mir hören und sehen. Die wollte, dass ich Überzeugung vermittle, eine Argumentationskette aufbaue. Aber ich konnte nicht gut verkaufen, hatte kein Talent zum Verkäufer.
Das war ein weiterer Moment, von dem viel Erkenntnis ausging. Zum Beispiel für mich als Vater. Ich möchte meinen Kindern dabei helfen, dass sie ihre Talente entdecken und entwickeln können, so dass sie nicht irgendetwas gegen ihre Überzeugung tun müssen.
Es wurde trotzdem die Banklehre. Die Nassauische Sparkasse nahm mich. Das Ausbildungszentrum war in Frankfurt, meine Zweigstellen in Stierstadt,...