Emotionen einschätzen, Hunde verstehen - Das EMRA-System als individuelle Herangehensweise an Verhaltensprobleme und deren Therapie

von: Robert Falconer-Taylor, Peter Neville, Val Strong

Cadmos Verlag, 2016

ISBN: 9783840461576 , 128 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Emotionen einschätzen, Hunde verstehen - Das EMRA-System als individuelle Herangehensweise an Verhaltensprobleme und deren Therapie


 

Was sind        

Emotionen ?

Vielleicht ist das ständige Belecken die einzige Möglichkeit des Hundes, sein Wohlbefinden aufrechtzuerhalten, da diese Tätigkeit mit positiven Emotionen verknüpft ist.

Manchmal geraten ihre Hunde in Schwierigkeiten und reagieren dann selbst aggressiv, weil sie für andere Hunde einfach zu überschwänglich sind.

Emotionen lassen sich als Handlungsimpulse beschreiben und als von verstärkenden Reizen für ganz bestimmte Zwecke hervorgerufene Geisteszustände. Darunter solche, die das Tier veranlassen, sich selbst zu verteidigen, nach Futter oder anderen lebensnotwendigen Dingen zu suchen, in Gruppen Kooperationen mit anderen einzugehen und aufrechtzuerhalten (bei obligatorisch sozialen Tieren wie Hunden), anderen gegenüber Emotionen auszudrücken, auf Neuerungen zu reagieren sowie sich Signale und Geschehnisse zu merken, die im Zusammenhang mit sozialen oder auf das Umfeld bezogenen Ereignissen stehen, und zu lernen, in Zukunft auf diese Signale zu reagieren, besonders wenn sie mit Gefahr verknüpft sind. Tatsächlich können die verschiedenen Emotionen danach klassifiziert werden, ob der Verstärker positiv oder negativ ist. So entstehen Skalen, die Verstärkungskontingenzen, bezogen auf den Grad der Emotionalität, darstellen, beispielsweise Freude, die sich zur Begeisterung und Ekstase steigert, Frustration, aus der Zorn und Wut werden, Besorgnis, die sich zu Angst und Entsetzen auswächst, und so weiter (siehe Abbildung 1, nach Rolls, 1999).

Abbildung 1:

 1. Welche Emotion(en) genau aufkommt/aufkommen, kann durch die äußeren Umstände beeinflusst werden – ist eine aktive Reaktion möglich, könnte es ZORN/WUT sein, ist nur eine passive Reaktion möglich, ist es vielleicht KUMMER/DEPRESSION.

 2. Emotionen treten häufig vermischt auf, etwa KONFLIKT/SCHULD/ FREUDE bei einem Seitensprung oder ANGST/FREUDE/ERLEICHTERUNG beim Bungee-Jumping.

 3. ERLEICHTERUNG kann eine sehr starke und überwältigende Emotion sein, nach der man süchtig werden kann. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn sich jemand wiederholt selbst einer BESTRAFUNG aussetzt, um die darauf folgende Erleichterung zu spüren, etwa beim Sadismus.

 4. Ebenso kann ein intensives Gefühl der FREUDE zur alles beherrschenden Sucht werden, etwa beim Drogenmissbrauch.

 5. Zur Einschätzung von Emotionen ist es hilfreich, sich die Körpersprache anzusehen.

Ein entscheidender erster Schritt bei der Arbeit mit dem EMRA™-System ist also die emotionale Einschätzung eines Hundes, der sich beispielsweise anderen gegenüber aggressiv verhält oder Dinge zerstört, wenn er allein gelassen wird. Es handelt sich hierbei nicht um eine Diagnose, denn eigentlich ist es nur Tierärzten und Ärzten erlaubt, Diagnosen zu stellen. Das führt vielleicht bei einigen zu einer aus wirtschaftlichem Selbstschutz getätigten Überlegung, die es notwendig erscheinen lässt, alle Verhaltensprobleme als klinische Erkrankungen oder Anomalien einzuordnen, deren Ursachen nur beim Tier selbst zu suchen sind. Es geht jedoch nicht um einen Diagnoseversuch, sondern es ist äußerst wichtig, sich eine Meinung darüber zu bilden, wie sich der Hund zu dem Zeitpunkt, wenn das Problem auftritt, tatsächlich fühlt. Ist er ängstlich, frustriert, zornig, traurig, fröhlich und so weiter? All diese Emotionen unterscheiden sich voneinander, und eine genaue Einschätzung ist richtungsweisend für die Behandlung, wobei der Fokus zunächst darauf liegt zu entscheiden, wie sich der Hund in der betreffenden Situation stattdessen fühlen soll. Selbstverständlich möchten wir, dass sich ein ängstlicher Hund sicherer fühlt, ein zorniger Hund zufriedener und so weiter. Die Aufgabe des Verhaltensexperten ist es, ihn auf dem Weg zu diesem anderen Gefühl zu unterstützen.

Den Gefühlszustand eines Hundes einzuschätzen ist notwendig, um sein Verhalten zu verstehen und zu verändern. Dazu ist wichtig, die Körpersprache richtig zu deuten.

Im nächsten Schritt kommen wir dann zur Lebensgefühleinschätzung. Wie fühlt und verhält sich der Hund in allen anderen alltäglichen Situationen, in denen das problematische Verhalten nicht auftritt? Ein depressiver Hund ist bei der Behandlung eindeutig schwerer zu motivieren als ein zufriedener Hund. Ein manisch fröhlicher Hund, der alles und jeden liebt, kann sich jedoch in einem ebenso schwierigen Gefühlszustand befinden, wenn wir beispielsweise möchten, dass er lernt, sich bei der Begegnung mit einem anderen Hund ruhig zu verhalten, anstatt diesen zu überrennen und zu verängstigen. (Boxer-Besitzer werden das kennen – manchmal geraten ihre Hunde in Schwierigkeiten und reagieren dann selbst aggressiv, weil sie für andere Hunde einfach zu überschwänglich sind.) Es ist die Grundstimmung, die wir zuerst betrachten müssen, und nicht die zum Zeitpunkt des Konflikts mit einem anderen Hund stattfindende emotionale Reaktion. Um diese kümmern wir uns dann, wenn wir die Grundstimmung auf einem Niveau stabilisiert haben, auf dem der Hund besser ansprechbar ist.

Erst wenn die Grundstimmung auf einem guten Niveau ist, ist es sinnvoll, sich der Veränderung des emotionalen Zustands in der Problemsituation zu widmen.

Der dritte Schritt des EMRA™-Ansatzes ist die Verstärkereinschätzung, zu der auch eine Einschätzung des Nutzens gehört, den der Hund aus dem gezeigten problematischen Verhalten zieht. Gäbe es diesen emotionalen Nutzen nicht, wäre das Verhalten niemals aufgetreten, hätte sich nicht verfestigt und wäre auch nicht trotz aller Bemühungen, es abzustellen, wieder aufgetreten. Das ist ein entscheidender Punkt, weil die Frage nach dem Verstärker auch auf neurochemischer Ebene zu betrachten ist und jede Behandlung zuerst das Gefühl von Erfolg oder Erleichterung, das dieses Verhalten ausgelöst hat, wieder davon entkoppeln muss. Nur dann können wir es dem Hund in der Therapie ermöglichen, alternative, aber ebenso erfolgreiche oder Erleichterung verschaffende Verhaltensweisen zu zeigen, die dann wiederum in der betreffenden Problemsituation verstärkt und etabliert werden.

Lernen verändert die Art und Weise, wie ein Tier sein physisches und soziales Umfeld wahrnimmt, und es verändert auch den emotionalen Zustand eines Tieres während seiner Reaktion auf Signale, die mit Gefahren oder Belohnungen verknüpft sind. Deshalb ist es einem Hund beispielweise nicht möglich, Emotionalität von dem komplexen System des Erlernens und Aufrechterhaltens von sozialem Verhalten und sozialen Strukturen zu trennen. Ebenso verhält es sich bei offensichtlich belohnenden Ereignissen wie der Reaktion auf Signale, die mit dem Auffinden von Futter in Verbindung gebracht werden und traditionell als eher unemotionale konditionierte Reaktionen beschrieben wurden (zum Beispiel Pavlovs Experimente mit Hunden zur klassischen Konditionierung). Der Zweck von Emotionen ist in diesen Fällen, den Körper dazu zu befähigen, in irgendeiner Form mit den Ereignissen in seinem Umfeld und den damit in Verbindung stehenden Signalen umzugehen, sowie die zu Belohnungen führenden Verhaltensweisen zu formen, zu intensivieren, zu verfeinern und schließlich zu perfektionieren. Das gilt insbesondere für primäre Belohnungen wie Futter, Sex, Sozialkontakt und Sicherheit, obwohl die damit in Verbindung stehenden Verhaltensweisen von Natur aus selbstbelohnend sind. Der Erfolg der Säugetiere ist tatsächlich auf ihre emotionale Sensibilität zurückzuführen und auf ihre Fähigkeit, den „Wert“ jedes sensorischen Inputs sehr schnell einzuschätzen: ist er beispielsweise für ihr Wohlbefinden gut, schlecht oder ohne Bedeutung? Es ist auch richtig festzustellen, dass es kein Lernen ohne emotionale Veränderung gibt, egal, ob es um neue Lerninhalte in unbekannten Situationen geht oder um das Verfeinern des Ausdrucks angeborener motorischer Verhaltensmuster. Letztendlich ist eine positive emotionale Veränderung auf neurophysiologischer Ebene – etwa von ängstlich zu erleichtert oder von neutral zu glücklich – die Belohnung für jegliches Verhalten.

Es ist deshalb falsch, bei einem Tier, das sich durch ständiges Putzen und Belecken selbst verletzt, automatisch eine krankhafte „Zwangsstörung“ zu diagnostizieren, außer man möchte dieses seltsam anmutende Verhalten unbedingt kompliziert beschreiben. Es kann sich vielmehr um die Reaktion eines absolut gesunden Hundes handeln, der unter beträchtlichem Stress steht, weil er beispielsweise soziale Isolation erlebt oder ihm die Möglichkeit verwehrt ist, normale und für das Aufrechterhalten seines Wohlbefindens notwendige Verhaltensweisen zu zeigen. Bleiben dem Tier derart wichtige Möglichkeiten zum Erhalt seines art- oder typspezifischen Wohlbefindens verwehrt, zeigt es, um sein Wohlgefühl dennoch aufrechtzuerhalten, vielleicht das einzige ihm zur Verfügung stehende Verhalten, das eine positive emotionale Veränderung bewirkt.

Das Sich-Pflegen ist eine der Verhaltensweisen, die bewirken, dass ein Hund, oder auch ein Mensch, sich besser fühlt. Einigen Hunden verschafft es Erleichterung, wenn sie ein bisschen an einem Spielzeug herumnagen, für andere ist ausgiebiges Nagen, vielleicht an...