Das Science Fiction Jahr 2016

von: Hannes Riffel, Sascha Mamczak, Hannes Riffel

Golkonda Verlag, 2016

ISBN: 9783944720982 , 674 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 14,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Das Science Fiction Jahr 2016


 

John Rieder

Zur Definition von SF oder auch nicht

Genretheorie, Science Fiction und Geschichte

»On Defining SF, or Not« ist im Original 2010 in der Zeitschrift SCIENCE FICTION STUDIES veröffentlicht worden und gewann 2011 den ›Pioneer Award‹ der Science Fiction Research Association als bester wissenschaftlicher Aufsatz des Jahres. John Rieder leistet eine wichtige Untersuchung der historischen Konstruktion der Science Fiction und ist hierbei zugleich auch selbst ein wichtiger Baustein davon; Professor Rieders aktuelles Buch Colonialism and the Emergence of Science Fiction (2008) kann als ein Praxisbeispiel der hier vorgestellten Methode angesehen werden.

1. Einleitung

In seinem wegweisenden Essay »A Semantic/Syntactic Approach to Film Genre« (1984) stellte Rick Altman zutreffend dar, dass »die Genretheorie bis zum heutigen Tage fast ausschließlich auf die Ausarbeitung eines synchronistischen Modells abzielte, das die syntaktischen Funktionsweisen eines spezifischen Genres möglichst genau zu beschreiben sucht«[1] (12). Nur wenige Jahre später, 1991, verkündete Ralph Cohen, dass ein Paradigmenwechsel in der Genretheorie stattgefunden habe, in dessen Zuge die dominierende Ausrichtung der Forschung sich von der Identifizierung und Klassifizierung fester, ahistorischer Einheiten weg und hin zu einer Untersuchung von Genres als historische Prozesse verlagert habe (85–87). Nichtsdestotrotz war die Auswirkung dieses Paradigmenwechsels auf die Forschung im Bereich der Science Fiction, obwohl er vornehmlich zu einer Konzentration auf eine historische anstatt auf eine formalistische Ausrichtung der meisten akademischen Projekte beigetragen hat, weder so unvermittelt noch so übermächtig, als dass seine Implikationen für die Konzeptualisierung des Genres sowie für das Verständnis seiner Geschichte eindeutig klar geworden wären. In diesem Aufsatz geht es mir entsprechend darum, die Auswirkungen einer historischen Genretheorie auf die SF-Forschung zu klären und zu stärken.

Ich beginne mit dem Problem der Definition, weil trotz der wissenschaftlichen Notwendigkeit, Genredefinitionen auszuarbeiten, eine historische Herangehensweise an Genre eine feste Definition zu unterlaufen scheint. Die Tatsache, dass so viele Bücher zur SF mit einer mehr oder weniger umfangreichen Erörterung des Problems einer Definitionsfindung beginnen, zeigt ihre Wichtigkeit für die Bereitstellung eines Bezugssystems zur Erstellung einer Genregeschichte auf, zur Festlegung von Reichweite und Umfang, zur Identifikation zentraler Orte von Produktion und Rezeption, zur Auswahl eines Kanons von Meisterwerken, etc.[2] Die wissenschaftliche Arbeit, die die Wichtigkeit der Genredefinition am besten unterstreicht, dürfte wohl die Bibliographie sein, weil bei ihr die Entscheidung, welche Titel aufzunehmen sind und welche nicht, notwendigerweise von klar artikulierten Kriterien geleitet sein muss, denen solche Definitionen oftmals innewohnen.

Und doch scheint der Akt des Definierens niemals der Idee von Genres als historischem Prozess gerecht zu werden. In seinem Buch Film/Genre (1990), eine der besten und umfassendsten Untersuchungen dieser Herangehensweise an Genre, argumentiert Altman, »Genres [seien] keine fixen, von allen konsensuell geteilten Kategorien, … sondern vielmehr diskursive Behauptungen, die von realen Sprechern aus bestimmten Gründen für spezifische Situationen aufgestellt [würden]« (101, zitiert nach Bould und Vint 50). Entsprechend argumentieren Mark Bould und Sherryl Vint in einem aktuellen Artikel, bezugnehmend auf Altmans Arbeiten: »So etwas wie Science Fiction gibt es nicht«, womit sie darauf verweisen, dass »Genres niemals, wie häufig angenommen, Objekte sind, die bereits in der Welt existieren und die daraufhin von Genretheoretikern untersucht werden, sondern fließende und unsichere Konstruktionen, die durch die Interaktionen verschiedenster Behauptungen und Praktiken von Autoren, Produzenten, Händlern, Vermarktern, Lesern, Fans, Kritikern und anderen diskursiven Akteuren« (48) erschaffen wurden. In dieser Auffassung von »Behauptungen und Praktiken«, die eine Geschichte des Genres bestimmen, erscheint der kritische, wissenschaftliche Akt des Definierens daher reduziert auf eine von vielen »fließenden und unsicheren Konstruktionen«. Genau genommen wäre die einzige generische Definition, die dem historischen Paradigma angemessen erschiene, so etwas wie eine Tautologie: eine Bestätigung, dass das Genre genau das ist, wofür es die verschiedenen diskursiven Akteure, die in Produktion, Distribution und Rezeption involviert sind, ausgeben. Und tatsächlich finden sich Aussagen wie diese beständig in Diskussionen um die Definition von SF wieder. Das bekannteste Beispiel hierfür dürfte Damon Knights Zurückweisung eines bloßen Versuchs einer Definition sein: »Science Fiction ist das, worauf wir zeigen, wenn wir den Begriff benutzen« (122, zitiert nach Clute und Nicholls 314).

In seinem 2003 erschienenen Essay »On the Origin of Genres« gelingt es Paul Kincaid, die tautologische Bekräftigung einer Genreidentifikation in eine wohlüberlegte Position zu verwandeln. Basierend auf Ludwig Wittgensteins »Familienähnlichkeiten« (aus den Philosophischen Untersuchungen) argumentiert Kincaid, dass wir weder »einen spezifischen, gemeinsamen Faden extrahieren« können, der alle Science-Fiction-Texte verbindet, noch in der Lage sind, einen »spezifischen, gemeinsamen Ursprung« des Genres zu identifizieren (415). Er kommt zu dem folgenden Schluss:

Science Fiction ist nicht eine bestimmte Sache, sie ist eine Vielzahl von Sachen – ein zukünftiger Schauplatz, eine wunderbare Erfindung, eine ideale Gesellschaft, eine außerirdische Kreatur, eine Windung in der Zeit, eine interstellare Reise, eine satirische Perspektive, eine spezifische Herangehensweise an die Substanz einer Geschichte; all das, wonach wir suchen, wenn wir nach Science Fiction Ausschau halten, mal deutlicher, mal subtiler – zusammengewoben in einer unendlichen Vielfalt von Variationen. (416–417)

Die Brauchbarkeit von Wittgensteins Konzept der Familienähnlichkeit für die Genretheorie bedarf noch weiterer Ausführungen, und ich werde zu einem späteren Zeitpunkt darauf zurückkommen. Zunächst einmal ist der wesentliche theoretische Punkt in Bezug auf Kincaids Argumentation, nicht einfach nur zuzustimmen, dass im Sinne einer historischen Genretheorie die SF »eine Vielzahl von Sachen« ist, sondern ebenso zu bemerken und zu unterstreichen, dass diese Darstellung einer Genredefinition, wie es auch Altman und Bould und Vint tun, gleichermaßen Subjekte wie Objekte involviert. Somit ist eine Definition nicht allein eine Frage der Eigenschaften der textuellen Objekte, die als Science Fiction bezeichnet werden. Vielmehr beinhaltet sie auch die Subjekte, die eine solche Kategorie festschreiben, und entsprechend auch die Motive, die Kontexte und die Effekte ihrer mehr oder weniger bewussten und erfolgreich ausgeführten Projekte. Um es anders auszudrücken: Die Behauptung, dass SF »all das, wonach wir Ausschau halten, wenn wir nach Science Fiction Ausschau halten« sei, ist nicht sehr aussagekräftig, wenn »wir« nicht wissen, wer »wir« sind und warum »wir« nach Science Fiction Ausschau halten.

Im Folgenden möchte ich daher einen Vorschlag zur Beschreibung des gegenwärtigen Zustands der Genretheorie vorlegen, mit einem Fokus auf ihren Beitrag zum Versuch der Beschreibung, was Science Fiction ist. Der erste Abschnitt dieses Aufsatzes konzentriert sich dabei auf die Entwicklung eines Konzepts dessen, um was es sich bei einem Genre eigentlich handelt und um was nicht. Der zweite Abschnitt wird dann auf die Frage zurückkommen, wie man die kollektiven Subjektpositionen zu verstehen hat, die eine Genrekonstruktion vornehmen. Im Verlauf des Textes stelle ich die Frage, welche Bedeutung die tautologische Behauptung – SF ist das, worauf »wir« zeigen, wenn »wir« den Begriff verwenden – hat, wenn wir sie als ernsthafte These über das Wesen nicht nur der SF, sondern des Konzepts Genre selbst verstehen. Wenn also die berüchtigte Vielgestaltigkeit der Definitionen des Genres nicht als Zeichen von Verwirrung zu werten ist und ebenso wenig als Fehlinterpretation einer Fülle von Genres, die als ein einzelnes wahrgenommen werden, sondern im Gegensatz hierzu als die Identität der SF, die gerade durch das Netz teilweise widersprüchlicher und konkurrierender Behauptungen konstituiert ist, welchen Einfluss sollte dieses Verständnis der Genreformierung dann auf die Darstellung einer Geschichte der SF haben?

2. Genre als historischer Prozess

Ich werde fünf Thesen über die SF aufstellen, die jeweils zu Aussagen über Genre als Konzept umformuliert werden könnten und die eine relativ unumstrittene, aber dennoch hoffentlich nützliche Zusammenfassung dessen darstellen, was dem aktuellen Paradigma der Genretheorie entspricht. Die Reihenfolge bewegt sich dabei von der grundlegenden Position, das Genres historische Prozesse sind, hin zu einem Punkt, an dem man effektiv die Fragen der Nutzung und Nutzer von SF verhandeln kann, was im letzten Abschnitt dieses Essays geschehen soll. Die fünf Thesen lauten:

SF ist historisch und wandelbar.

SF hat keinen essenziellen Wesenskern, kein einzelnes, sie vereinendes Merkmal, keinen Ausgangspunkt.

SF bezeichnet keine Schnittmenge von Texten, sondern ist eine Art, Texte zu nutzen und Beziehungen zwischen ihnen herzustellen.

Die Identität von SF ist eine differenziert ausgeprägte Position in einem historisch wandelbaren Feld von...