Liberalisierungsreformen in Iran - Möglichkeiten und Grenzen der wirtschaftlichen Diversifizierung eines erdölexportierenden Staates

von: Miriam Shabafrouz

Tectum-Wissenschaftsverlag, 2016

ISBN: 9783828865433 , 362 Seiten

Format: PDF, ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 31,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Liberalisierungsreformen in Iran - Möglichkeiten und Grenzen der wirtschaftlichen Diversifizierung eines erdölexportierenden Staates


 

1Ein Rätsel und viele Erklärungen

Dieses Kapitel dient der theoretischen Einordnung der Arbeit und der Aufarbeitung des Forschungsstandes. Im ersten Teilkapitel wird zunächst das Rätsel vorgestellt, das viele Wissenschaftler und Politiker beschäftigt: die wirtschaftlichen Entwicklungsprobleme von Ländern, die durch den Export natürlicher Ressourcen, unter anderem Erdöl, sehr hohe Einnahmen verzeichnen und dadurch eigentlich mehr Wohlstand, Wachstum und Fortschritt aufweisen könnten, als sie es tatsächlich tun. Für diese als Paradox erscheinenden Entwicklungsprobleme ressourcenreicher Länder sind in der wissenschaftlichen Literatur verschiedene Interpretationen und rivalisierende Erklärungen zu finden. Sie werden klangvoll bezeichnet als „Ressourcenfluch“ (Auty 1993, 2000, 2001; Sachs/Warner 1995, 2001) bzw. „Ölfluch“ (Ross 2012), „Paradox of Plenty“ (Karl 1997, 1999, Basedau/Lacher 2006), „wirtschaftliche Ironie“ (Looney 2006: 37), „zweischneidiges Schwert“ (Frankel 2012), „reversed Midas touch“ (Yergin 2011), um nur einige der vielen Metaphern zu nennen. Knapp zusammengefasst lautet der Tenor:

Resource-rich countries typically develop more slowly, are less diversified, more corrupt, less transparent, subject to greater economic volatility, more oppressive and more prone to internal conflict than nonendowed countries at similar income levels (Siegle 2009: 45).

Über die Gründe für diese Entwicklungen gibt es viele Überlegungen, die in Theoremen zusammengefasst werden können. Diese Grundannahmen dominieren in unterschiedlichen Diskursen über das Thema und werden häufig mit konkreten Verbesserungsvorschlägen und Lösungsstrategien verbunden.4 In dieser Arbeit ist vor allem eines der vielen möglichen Entwicklungsprobleme von Bedeutung: die fortbestehende Abhängigkeit der erdölexportierenden Ländern von den Einnahmen aus ebendiesem Export, die mit einer geringen Diversifizierung der restlichen Volkswirtschaft und den daraus erwachsenden Entwicklungsproblemen einhergeht. Es wird damit der Kausalzusammenhang, dem einige der Studien nachgehen, umgedreht, und nicht erstrangig nach den negativen Auswirkungen der hohen Exporteinnahmen geforscht. Stattdessen wird das Fortbestehen der Abhängigkeit zum Thema gemacht und der innenpolitische Umgang mit dieser Abhängigkeit in einer Falluntersuchung unter die Lupe genommen.

Die Ausgangsidee dieser Arbeit ist die kritische Feststellung, dass das benannte Rätsel in den meisten Fällen nur nationalstaatlich beobachtet und untersucht wird, gegebenenfalls in vergleichenden Small- oder Large-N Analysen, jedoch selten im transnationalen Zusammenhang. Damit bleibt eine Forschungslücke zu schließen, vor allem hinsichtlich der mangelnden Querbezüge zwischen den verschiedenen Perspektiven und Theorien. Eine offene Frage bleibt beispielsweise, wie das internationale System des Erdölhandels sich auf die erdölexportierenden Staaten auswirkt und Grenzen für ihre wirtschaftliche Entwicklung setzt.

Iran wird im Theoriekapitel als ein Fall von vielen behandelt, denn die Ergebnisse sollen auch anhand anderer Fälle diskutiert werden können. Dafür werden Daten zu den 21 bedeutendsten erdölexportierenden Ländern vorgestellt, die als Grundgesamtheit behandelt werden, in die sich Iran als Extremfall einordnen lässt. Das Gewicht auf dem Weltmarkt ist das wichtigste Auswahlkriterium für die Grundgesamtheit, da dem Weltmarkt und den Erdölhandelsbeziehungen in dieser Arbeit eine große Bedeutung für das Fortbestehen des Problems zugeschrieben wird. Es wird jedoch bewusst keine vergleichende Analyse vorgenommen, um eine Erklärung zu ermöglichen, die sich aus dem gesamten System ableitet und sich nicht allein an nationalen Strukturen orientiert.

Im ersten Teilkapitel (1.1.) wird das Forschungsrätsel klar benannt. Im zweiten und dritten Teilkapitel werden die volkswirtschaftlichen Probleme erdölexportierender Länder und ihre gängigen Interpretationen aus politökonomischer Sicht zusammengefasst. Dabei konzentriert sich 1.2. auf die wirtschaftlichen Mechanismen, die sich durch hohe Einnahmen in Form von so genannten „Erdölrenten“ ergeben, und 1.3. betrachtet die Erklärungen, die die engen Verflechtungen von Politik und Wirtschaft als Ursache betrachten, sei es durch institutionelle Rahmenbedingungen oder durch Konflikte zwischen Interessengruppen.

Im vierten Teilkapitel wird schließlich das eigentliche Erklärungsgerüst dieser Arbeit vorgestellt, das die beiden anderen integrieren, aber auch in einen größeren, systemischen Kontext setzen will: die kritische Internationale Politische Ökonomie (1.4.). Aus dieser Sicht sind Zweifel angebracht, dass die aus den aus den erstgenannten Theoremen abgeleiteten Reformstrategien wirklich etwas am grundlegenden Problem ändern können. In 1.5. werden die verschiedenen Ansätze und Ebenen zusammengefasst und miteinander verknüpft.

1.1Das Rätsel: die fortbestehende Abhängigkeit vom Erdölexport und Reformresistenz

Das Ausgangsproblem ist die mangelnde Diversifizierung der Volkswirtschaften erdölexportierender Länder (im Folgenden: OEL), die mit ihrer hohen Abhängigkeit von Erdöleinnahmen zusammenfällt. Zu Neige gehende Erdölreserven, die schwache innerwirtschaftliche Position und internationale Wettbewerbsfähigkeit anderer Sektoren (wie Landwirtschaft, Gewerbe, Industrie usw.) in den jeweiligen Volkswirtschaften macht die Relevanz des Problems deutlich. Gerade auch die Schwankungen der Erdölpreise und die daraus erwachsende Volatilität (d. h. Unbeständigkeit) der Einnahmen erdölexportierender Staaten verdeutlicht die Dringlichkeit von Wirtschaftsreformen immer wieder aufs Neue, weist sie doch auf eine Anfälligkeit für verschiedene Formen von Wirtschaftskrisen hin.

Ein wichtiger Bestandteil des vorliegenden Rätsels ist, dass es bereits seit Jahrzehnten wissenschaftlich und politisch als Problem betrachtet wird und daher schon zahlreiche Reformstrategien erarbeitet wurden. Einige dieser Reformansätze wurden von mehreren Ländern schon längst eingeführt (eine Übersicht ist in Anhang Z enthalten) und es wurden auch internationale Institutionen zur Förderung von Transparenz und Kooperation geschaffen (EITI, Publish What you Pay etc.). Bisher hat dies allerdings (noch) zu keinen entscheidenden Veränderungen geführt, denn die Abhängigkeit selbst bleibt in den meisten Fällen weiter bestehen und wurde höchstens leicht gesenkt.

Was verschiedene Denkschulen zu diesem Rätsel sagen, welchen Schwerpunkt davon sie analysieren und wie sie es jeweils lösen wollen, wird in den Abschnitten 1.2 – 1.4 erörtert. An dieser Stelle geht es darum, einen ersten Einblick in das Thema zu vermitteln und aufzuzeigen, dass es vielschichtige Problemlagen birgt, die unterschiedliche Interpretationen erlauben. Diese Arbeit will darauf hinweisen, dass die bisherigen Erklärungsansätze sich meist nur auf Teile des Problems konzentrieren. Aufgrund dieser Unvollständigkeit können die aus ihnen abgeleiteten Lösungsstrategien nicht wirklich erfolgreich sein. Den Zusammenhang herzustellen zwischen Policy-Maßnahme und dahinter liegender Interpretation des Problems ist ein wichtiger Bestandteil der Arbeit.

Eine geringe wirtschaftliche Diversifizierung bedeutet, dass die gesamte Wirtschaft hauptsächlich auf der Wertschöpfung in einem Sektor beruht (Bougrine 2006) und andere Sektoren neben der Erdölproduktion, wie beispielsweise die Landwirtschaft, die produktive Wirtschaft oder auch bestimmte Teile des Dienstleistungssektors, wenig entwickelt sind und sich nicht unabhängig von den an sie vermittelten Erdöleinnahmen entwickeln (können).5 Sie ist eines von mehreren Problemen, die mit dem Begriff „Ressourcenfluch“ zusammengefasst werden. So haben Forscher Korrelationen zwischen der Abhängigkeit von oder dem Reichtum an Ressourcen und einer ganzen Reihe negativer wirtschaftlicher und politischer Entwicklungen festgestellt (Moss 2011: 3): Einige stellten den Zusammenhang zwischen einem hohen Erdölexportanteil am Gesamtexport und einer geringen Wirtschaftsleistung fest (z. B. Gelb 1988; Auty 1993; Sachs/Warner 1995). Andere beobachteten in ressourcenexportierenden Ländern besonders hohe Armutsraten (z. B. Auty 2001). Auch Korruption scheint sich zu intensivieren, wenn der Ressourcenexport steigt (Leite/Weidmann 1999; Gylfason 2001; Sala-i-Martin/Subramanian 2003). Häufig untersucht wurde der Zusammenhang zwischen Ressourcenreichtum oder -abhängigkeit und Autoritarismus (z. B. Luciani 1987; Ross 2001; Smith 2004; Diamond 2008). Und ein Teil des Diskurses interessiert sich insbesondere für den Zusammenhang von Ressourcenreichtum und dem Ausbruch oder der Dauer von Gewaltkonflikten (z. B. Collier/Hoeffler 2004; De Soyza 2000; Le Billon 2001; Fearon/Laitin 2003; Humphreys 2005; Omeje 2008). In den letzten Jahren sind zunehmend auch Umweltaspekte in den Ressourcenfluchdiskurs miteingeflossen (z. B. Orihuela 2010). Diese Arbeit beschäftigt sich, wie bereits angekündigt, nur mit dem eingangs genannten Teilproblem der fortbestehenden Abhängigkeit von Einnahmen aus dem Erdölexport. Die anderen Aspekte werden jedoch berücksichtigt, und zwar dann, wenn es um politische Entscheidungsprozesse, Interessen und Weltbilder geht, die die Bevorzugung bestimmter Lösungsstrategien begründen. Zudem kann diese fortbestehende Abhängigkeit auch als Urproblem verstanden werden, das die anderen Erscheinungen erst hervorruft, bzw. in einem zusammenhängenden Kreislauf stärkt und durch sie verstärkt wird.

Der Begriff des „Ressourcenfluchs“ wurde erstmalig von Auty (1993) zur Beschreibung des Rätsels verwendet und kurz darauf von Sachs/Warner (1995) aufgegriffen,...