Hippokrates - Meister der Heilkunst

von: Hellmut Flashar

Verlag C.H.Beck, 2016

ISBN: 9783406697470 , 298 Seiten

Format: PDF, ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 19,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Hippokrates - Meister der Heilkunst


 

I.


DIE ANFÄNGE


 

1. Ägyptische Medizin


Ärzte und Medizin hat es immer gegeben, nur fehlt für die ganz frühen Zeiten schriftloser Kulturen die Überlieferung. Nicht zu Unrecht stellen wir uns einen Medizinmann vor, der Priester, Zauberer und Arzt zugleich ist, der, mit magischen Kräften begabt, zwischen der göttlichen und menschlichen Sphäre vermittelt und dabei verängstigte Menschen von Krankheiten befreit. Sicher gab es auch in den vielen kriegerischen Auseinandersetzungen eine ganz einfache und praktische Wundbehandlung. Funde von Schädeln in Gräbern deuten auf präoperative Eingriffe, die bis in die Jungsteinzeit (ca. 10.000 v. Chr.) heraufreichen. In den fernöstlichen Kulturen, in China, Tibet und in Indien, gab es früh Ansätze zu einer Medizin, in der sich magische und rationale Komponenten durchdringen.[1]

Die schriftliche Überlieferung setzt mit der Kultur des Alten Ägypten ein. Es gibt eine ganze Reihe von Papyri, die über medizinische Behandlungen und vor allem über Rezepte ausführliche Auskunft geben.[2] Der älteste, 4,7 Meter lange Papyrus ist der sogenannte Papyrus Smith, benannt nach dem amerikanischen Ägyptologen Edwin Smith (1822–1906). Es handelt sich dabei teilweise um eine Abschrift noch älterer Texte, die bis ca. 1900 v. Chr. heraufreichen. Der längste, fast 20 Meter lange Papyrus, der Papyrus Ebers, benannt nach dem Leipziger Ägyptologen Georg Moritz Ebers (1837–1898), ist – wie der Papyrus Smith – um 1550 v. Chr. geschrieben.

Nehmen wir nur diese beiden Papyri, so tritt uns in ihnen ein geschlossenes Bild der ägyptischen Medizin entgegen. Sie zeichnet sich durch ein hohes Niveau von Anfang an, durch eine bemerkenswerte Konstanz über die Zeiten ohne eine erkennbare Weiterentwicklung im Grundsätzlichen und durch eine hohe Spezialisierung aus. In diesen beiden Papyri werden 150 Ärzte genannt, 132 mit Namen, spezialisiert als: Augenärzte, Zahnärzte, Kopfärzte, Bauchärzte, «Hirt des Afters», Spezialisten für unsichtbare Krankheiten. Manchmal haben sie einen Titel wie: «Arzt des Palastes» oder «Oberster der Ärzte des Palastes».

Auffallend ist die ungeheure Fülle der Rezepte. Allein im Papyrus Ebers finden sie sich in 880 Einzeltexten nach 45 Sachgruppen geordnet. Die Beschreibung der Erkrankungen und der entsprechenden Heilmittel geht vom Kopf an über Hals, Nacken, Brust, Rücken, Wirbel und weiter abwärts. Es gibt allein 40 Hustenrezepte, je nachdem, wo der Husten sitzt. Kommt er aus dem Bauch, so wird folgendes Rezept empfohlen: Feigen, Granatapfel, Rosinen, Kreuzkümmel, Blätter der Dornakazie, Senfkohl und süßes Bier werden in einem bestimmten Mengenverhältnis verrührt und vier Tage lang getrunken. Nach diesem Schema gibt es Hunderte von Rezepten. Die Therapie bestand generell im Einnehmen, Essen, Trinken, Inhalieren, Salben, Schneiden, Brennen, Einrenken, Anlegen von Verbänden. Der Arzt war dabei sein eigener Apotheker; die Trennung von Apotheke und Arzt ist erst im Mittelalter vollzogen worden. Die Diagnosestellung war exakt; man konnte den Puls messen. Ein Beispiel mag die Art der Untersuchung veranschaulichen:

Wenn du einen Mann untersuchst, der an seinem Magen leidet: Alle seine Körperstellen sind unter Druck gegen ihn wie bei einem Ausbruch von Ermattung. Dann sollst du deine Hand auf seinen Magen legen und findest du seinen Magen wie eine Pauke, indem er geht und kommt unter deinen Fingern, dann sollst du sagen: Das ist eine Trägheit des Essens, die verhindert, dass er weiter etwas isst. Dann sollst du ihm ein Abführmittel machen: Kerne von Datteln, durchgepresst mit verdorbenem Bier. Seine Esslust kommt wieder (Pap. Eb. 189).

Mit großer Selbstverständlichkeit werden auch Frauen untersucht und behandelt. Da ist von Schmerzen am After, in der Schamgegend, von Ausscheidungen, von Erkrankungen der Vagina, des Uterus, von Blutungen bis hin zu krampfartigem Husten die Rede.

Neben den Papyri gibt es Darstellungen von Arzt-Szenen eingeritzt auf Wänden meist sakraler Bauten, so eine Augenbehandlung auf einer Baustelle an einem Grab. Einem Bauarbeiter ist offenbar ein Fremdkörper, vielleicht ein Holzsplitter, ins Auge geraten. Er wird an Ort und Stelle mit einem Federrohr behandelt mit dem Ziel, den Fremdkörper aus dem Auge zu entfernen.[3]

Bei alledem ist aber die so rational wirkende ägyptische Medizin von Anfang bis Ende durchzogen von Magie und Zauberei. Die Zaubersprüche selbst werden in den Papyri kaum im Ganzen mitgeteilt. Es heißt immer wieder: «Dieser Zauberspruch werde rezitiert über …» Oder: «Es werde dieser Zauberspruch gesprochen über dem Kot eines Katers» – bei einem Beinleiden (Pap. Eb. 74). Manchmal wird auch mitgeteilt, wie oft ein Zauberspruch wiederholt werden soll, so sieben Mal über einem Amulettknoten für ein Beinleiden (Westendorf I 68). Es sind Begleitsprüche bei der Drogenbereitung und bei der Behandlung. Das Auflegen von Amulettknoten auf eine Wunde soll helfen, Zaubersprüche sollen Seuchen eindämmen. Anrufung von Dämonen, Schutzzauber für eine Mutter nach der Geburt eines Kindes und viele andere Zaubermittel stehen jedoch nicht isoliert, sondern sollen zusammen mit dem Heilmittel wirken. Schon die Bereitung der Drogen wird von Zaubersprüchen begleitet. So ist der Arzt zugleich ein mit magischen Kräften begabter Zauberer, der eine Verknüpfung mit der dämonisch-göttlichen Sphäre herstellt. Hier liegt der entscheidende Unterschied zur griechischen Medizin.

Als der Geschichtsschreiber Herodot (ca. 485–425) Ägypten bereist, urteilt er über die Medizin in der Spätphase des ägyptischen Reiches:

Jeder Arzt ist nur für eine Krankheit da und nicht für mehrere. Und alles ist voll von Ärzten. Denn die einen sind Ärzte für die Augen, andere für den Kopf, andere für die Zähne, andere für den Unterleib, wieder andere für innere Krankheiten (II 84).

Diese Worte lassen den Schluss zu, dass es – nach der Meinung Herodots – bei den Griechen offenbar anders war.[4] Herodot verfasste sein Werk zu Lebzeiten des Hippokrates.

2. Homerische Ärzte und mythische Ahnen


In dem ältesten Werk europäischer Literatur, in der Ilias Homers (ca. 700 v. Chr.), taucht sogleich der Urahn der griechischen Medizin, Asklepios, auf.[1] Homer nennt ihn einen «untadeligen Arzt» (Ilias XI 518). Aber er ist noch nicht der Heilgott oder Heilheros, sondern ein Sterblicher und Arzt überhaupt nur im Nebenberuf. Denn er ist Fürst von Trikka (Trikke, heute: Trikala) in Thessalien nahe des Pelion-Gebirges und er beteiligt sich auch an dem globalen Feldzug aller Griechen gegen Troia, zu dem er 30 Schiffe entsendet (Ilias II 729–733). Aber er fährt nicht selber mit, sondern beauftragt seine beiden Söhne, Machaon und Podaleirios, ebenfalls «tüchtige Ärzte» (Ilias II 733), mit der Führung des Kontingents. Also sind auch sie nicht nur Ärzte, sondern Flottenkapitäne, Anführer von ca. 1500 Kriegern.[2] Und sie kämpfen auch selber mit, stehen jedenfalls an vorderster Front. Als Menelaos durch einen Pfeilschuss verwundet wird, soll Machaon «die Wunde abtasten und Kräuter auflegen, die die Schmerzen lindern» (Ilias IV 190). Schließlich wird Machaon selber verwundet. Nestor wird aufgefordert, ihn aus der Schusslinie zu den Schiffen zu bringen, zu seiner Hütte, wo er durch Getränke gestärkt wird (Ilias XI 504–520), später Wein trinken soll und ein wärmendes Bad bekommt, damit der Schorf von der Wunde abgewaschen werden kann (Ilias XIV 1–8). Mit der Verwundung des Machaon ist eine schwierige Situation eingetreten, ist er doch der einzige Arzt, dem in dem riesigen Heer vor Troia eine aktiv-therapierende Funktion zufällt. Als Eurypylos verwundet wird, ist kein Arzt vorhanden, denn der verwundete Machaon «bedarf selbst eines untadligen Arztes», der andere (Podaleirios) «hält stand im Feld der Troer dem scharfen Ares» (Ilias XI 835–836). Er kämpft also gerade. Später soll er zu den 20 Männern gehört haben, die in dem Troianischen Pferd in die Stadt eindrangen.[3] Dass von ihm in der Ilias nicht weiter die Rede ist, hängt auch damit zusammen, dass er nicht in erster Linie Wundarzt, sondern eher für innere Krankheiten zuständig war. Jedenfalls gibt es in der Ilias durchaus einen gewissen Ärztemangel, was Anlass genug ist, die Reputation des Arztes gebührend hervorzuheben:

Abb. 1: Achill verbindet den verwundeten Patroklos. Attische Trinkschale des Sosias-Malers, Antikensammlung, Staatliche Museen zu Berlin

Denn ein ärztlicher Mann wiegt viele andere auf, Pfeile herauszuschneiden und lindernde Kräuter aufzustreuen (XI 514).

Gemeint ist ganz konkret, dass ein Arzt in der Lage ist, als Einzelner viele andere Menschen zu heilen und damit wieder funktionsfähig zu machen.[4] Daneben aber haben sich die homerischen Helden bei kleineren Verwundungen, wie sie entsprechend der eingesetzten Waffen (Schwert, Lanze, Pfeil) häufig vorkommen, gegenseitig erste...