Tabu - Versteckte Regeln und ungeschriebene Gesetze in Organisationen

von: Thomas Saller, Sebastian Mauder, Simone Flesch

Haufe Verlag, 2016

ISBN: 9783648090763 , 208 Seiten

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 33,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Tabu - Versteckte Regeln und ungeschriebene Gesetze in Organisationen


 

2   Immer schön beschäftigt sein – Das Nichtstun-Tabu


 

Beispiel

Semesterferien in der Universität. Der Campus ist fast ausgestorben. Der frisch gebackene Inhaber des Wirtschaftslehrstuhls Nils Rabe fragt sich, was er denn den ganzen Tag tun soll. Schnell findet er aber eine Lösung und stürzt sich in neue Arbeit. Was ist passiert?

Wahrscheinlich hätte Nils Rabe gar nicht erst mit seiner Promotion begonnen, wenn er gewusst hätte, wie knallhart der Wettbewerb um die wenigen begehrten unbefristeten Professuren ist. Mit seiner Doktorarbeit im Bereich der Wirtschaftswissenschaften begann die wissenschaftliche Ochsentour. Es folgten einige Jahre als Postdoc, eine schlecht bezahlte Stelle als Juniorprofessor, der harte Kampf um überlebenswichtige Publikationen in den renommierten wissenschaftlichen Zeitschriften, sowie eine unattraktive Position als Associate Professor an einer Universität im Ausland. Dies alles verbunden mit der ständigen Unsicherheit, es könnte nicht reichen.

Aufgrund des hohen Einsatzes hatte Nils das Glück des Tüchtigen. Kurz vor dem vierzigsten Geburtstag übernimmt er einen Lehrstuhl an einer internationalen Hochschule.

Die Bezahlung ist zwar gut, die Anforderungen im Bereich Lehre und Forschung aber nicht ohne. Denn kurz nach seiner Berufung hat Nils zusätzlich die Funktion des „Department Heads” seiner Fakultät übernommen. Somit vertritt er seine Abteilung nun auch im Senat und kümmert sich um die personalrelevanten und administrativen Belange aller Professoren und (nicht-)wissenschaftlichen Mitarbeiter in seinem Bereich.

Das Arbeitspensum im ersten Semester ist nach wie vor beträchtlich. Da sind zum einem die Vorlesungen und Seminare, damit verbunden jede Menge Korrekturarbeit und nebenbei der administrative Aufwand. Auch an repräsentativen Tätigkeiten wird Nils nun einiges abverlangt. Und letztlich muss er ja auch noch forschen und publizieren.

Nun also die Semesterferien – plötzlich Ruhe! Nils verabschiedet sich in einen kurzen Urlaub mit der Familie – 4 Tage in Österreich, das hatten sie sich schon lange verdient.

Zurück im Büro sind aber immer noch fast 3 Monate Zeit, bis es wieder losgeht. Also setzt Nils eine Networkingmail an seine 80 Topalumnis ab. In Anschluss besuchte er jene, die geantwortet haben in ihren Unternehmen. So will er sicherstellen, dass sie der Universität auch weiter gewogen sind. Kurz darauf stehen die Mitarbeitergespräche an. Außerdem muss der neue Strategieworkshop des Departments vorbereitet werden, hierzu sind Analysen zu tätigen. Gleichzeitig gehen zahlreiche Einladungen von Verbänden, Arbeitskreisen und Expertengruppen ein.

Dazu steht es für Nils an, die Festschrift für das Jahrbuch eines Verbandes der Wirtschaftsprofessoren zu schreiben. Ein Vortrag in einem Fachverband und drei Podiumsdiskussionen stehen auch auf der Agenda. Dazu die Vorbereitung des abteilungsinternen Jahresberichts. Und die Einladung der Sprecher für eine Vortragsreihe im Department. Und, und, und ...

Nils Mailbox quillt regelmäßig über. Er schafft es kaum mehr zu allen Meetings rechtzeitig zu kommen, und alle E-Mails sauber zu beantworten. Die 70-Stunden-Wochen aus der Vergangenheit kann er sich jetzt nur noch erträumen. Nils Familie findet das natürlich alles andere als großartig. Zeit zur Forschung bleibt höchstens noch nachts. Vielleicht zwischen Weihnachten und Neujahr? Leider nein! Da muss Nils sich letztlich noch um seine Netzwerke auf Xing und LinkedIn kümmern, die er unterjährig kaum pflegen konnte ...

2.1   Das Tabu in Kürze


Langeweile, freie (unproduktive) Zeit und Müßiggang sind gerade in maskulin geprägten Firmenkulturen ein klassisches Tabu – insbesondere auf Managerebene.

Ein guter Chef, ein erfolgreicher Projektleiter oder ein kompetenter Berater dürfen nicht zu viel Zeit haben und müssen immer zumindest etwas, insgesamt aber wirklich viel, zu tun haben. Ob alle Aufgaben dabei notwendig sind, kann zumindest hinterfragt werden.

2.2   Typische Beobachtungen aus der Praxis


  • An allen fünf Tagen der Arbeitswoche sind (weit im Voraus) zahlreiche Besprechungen sowie Telefon- und Videokonferenzen im Kalender eingeplant.

  • Die Zeiträume zwischen den Besprechungen und anderen Terminen sind kurz. Und wenn, dann werden sie für andere „wichtige Themen” genutzt wie Führungsaufgaben, Kundenkontakte, Netzwerkpflege oder Bearbeitung der Mailbox.

  • E-Mails werden möglichst unmittelbar und direkt nach Erhalt beantwortet.

  • Die To-do-Liste ist immer lang.

  • Geschäftsreisen werden weit im Voraus geplant: An- und Abreisezeiten und Abende werden zum Aufrechterhalten des operativen Geschäfts durch Telefonate und Mails verwendet.

  • Kurzpausen lassen Zeit für das Smartphone.

  • Wochenende und Kurzurlaube werden produktiv genutzt, z. B. für „private Projekte”.

  • Trotz Erschöpfungsgefühlen entsteht ein schlechtes Gewissen bei zu langen „unproduktiven” Entspannungspausen.

  • Private Aktivitäten werden durch Berufliches beeinflusst, z. B. kommt das Blackberry auch abends zum Einsatz, berufliche E-Mails werden auch im Urlaub geschrieben, private Treffen werden zum Netzwerken genutzt oder um Projekte zu besprechen.

2.3   Hintergründe


Wer beschäftigt ist, ist wichtig

In einem vielbeachteten Artikel in der New York Times beschreibt Tim Kreider 2012 erstmalig die „Busy Trap” einer breiten Öffentlichkeit. Für ihn ist die Aussage: „Ich bin unglaublich beschäftigt” eine als Beschwerde getarnte Prahlerei. In der Praxis werde sie häufig mit Sätzen wie „Na, besser als Nichts zu tun” oder „Das ist ja wirklich mal ein positives Problem” beantwortet.

Kreider sieht Gründe dafür „busy” zu sein, nicht nur im eigenen Ehrgeiz sondern auch in der Angst etwas zu verpassen – und in einer Art Suchtverhalten etwas zu tun zu haben. Nichts zu tun zu haben, sei für viele Menschen mit einem Schuldgefühl verbunden. Die Beschwerde darüber, zu beschäftigt zu sein, verschaffe vielen Menschen hingegen das Gefühl, wichtig und gefragt zu sein.

In seinem Blog „Der Vorgesetzte” spricht auch der Journalist und Sprecher Damian Sicking das Thema an. Er zitiert Studien, nach denen höherrangige Führungskräfte sich alle neun Minuten mit einer anderen Aufgabe beschäftigen. Gleichzeitig wirft er die Frage auf, wie viele unternehmerische Entscheidungen der Langeweile eines verantwortlichen Managers, Geschäftsführers oder Vorstandsvorsitzenden entspringen. Getreu dem Motto: Bevor ich nichts zu tun habe, treffe ich lieber mal ein paar Entscheidungen.

Wer nicht beschäftigt ist, könnte sich langweilen

In aktuellen US-amerikanischen Experimenten demonstrieren Psychologen tatsächlich, dass viele Personen es als unangenehm empfinden, mit sich alleine zu sein. In den Versuchen wurden Collegestudenten für sechs bis 15 Minuten in einen nicht dekorierten Raum gebeten, in dem sie ihren Gedanken ohne Ablenkung (Smartphone, Bücher und Musik) nachgehen sollten. Nur wenige beschrieben im Nachhinein die Erfahrung als positiv. Im Gegenteil entschieden sich in einem Experiment 12 von 18 Männern und sechs von 24 Frauen mindestens einmal sich selbst mit einem Elektroschock zu schocken. Laut der Forscher gingen sie lieber einer unangenehmen Aktivität nach, als nichts zu tun.

Das Phänomen kann man häufig bei simulierten Planspielen mit Managern verschiedener Ebenen wahrnehmen. Sobald das Schiff läuft und das mittlere Management operativ arbeitet, beginnt das Topmanagement nicht selten, sich unwohl zu fühlen. Was sollen wir denn jetzt tun? Wir können doch nicht einfach rumsitzen und warten! Also werden neue Impulse in die Mannschaft gegeben.

In einem vielbeachteten Artikel beschäftigt sich auch Manfred Kets de Vries, INSEAD Distinguished Professor of Leadership Development & Organisational Change mit dem Phänomen. „Die Kunst des sich Mit-sich-selbst-Auseinandersetzens bzw. der Reflexion haben wir verloren, seitdem die Versuchungen, nur noch schnell dies und das fertigzustellen, einfach zu groß geworden sind”, schreibt er. Nichts zu tun sei niemals tatsächlich akzeptiert gewesen. Es werde schon von jeher mit Verantwortungslosigkeit und Verschwendung von Lebenszeit assoziiert und vermittle uns ein Schuldgefühl.

Die Frage, ob die rasante Entwicklung des Internets der Auslöser des Phänomens ist, verneinen die meisten Forscher. Die Tatsache, dass wir heutzutage stets eine unbegrenzte Auswahl an Unterhaltungs- und Ablenkungsmöglichkeiten zur Hand haben, unterstütze jedoch das Phänomen, so de Vries. Ein Zeitgeistphänomen macht Kreider in seinem Blog aus. Er habe – wie mit Sicherheit viele der Leser dieses Buches – noch zur Generation jener Kinder gehört, die jeden Nachmittag drei Stunden „total unstrukturierte, weitgehend nicht überwachte Zeit” gehabt habe. Nichts zu tun zu haben, gäbe es heute schon bei Kindern nicht mehr.

Beschäftigt sein wird belohnt

Sätze wie „Ich zahle dem Mitarbeiter ein sehr gutes Gehalt, da sollte er doch nun wenigstens an seinen Schreibtisch sitzen und arbeiten”, zeigten zudem, so de Vries, dass es nicht nur um ein selbst auferlegtes Tabu geht, sondern dass auch starke externe Kräfte wirken.

„Men of genius...