Martin Luther - Rebell in einer Zeit des Umbruchs

von: Heinz Schilling

Verlag C.H.Beck, 2016

ISBN: 9783406701061 , 731 Seiten

4. Auflage

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 10,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Martin Luther - Rebell in einer Zeit des Umbruchs


 

Alle Epochen, in welchen der Glaube herrscht,
unter welcher Gestalt er auch wolle, sind glänzend,
herzerhebend und fruchtbar für Mitwelt und Nachwelt.

 

Johann Wolfgang von Goethe, West-östlicher Divan.
Noten und Abhandlungen, Israel in der Wüste

Prolog

Luther als Mensch einer Epoche des Glaubens und des Umbruchs


Martin Luther, der Wittenberger Reformator, lebte in einer «Epoche, in welcher der Glaube herrscht». Ja, in der Zeit des Umbruchs vom Mittelalter zur Neuzeit war es im Wesentlichen ihm zu verdanken, dass die Religion zu jener Kraft wurde, die Deutschland und Europa für mehr als ein Jahrhundert in ihren Bann schlagen sollte – «glänzend, herzerhebend und fruchtbar», aber auch finster, herzzerreißend und zerstörerisch. Das musste auch Luther durchleben – in hochfliegenden Stunden des Erfolgs und der Hoffnung, alle Welt zu überzeugen, und in bitteren Wochen, in denen er Satan und seine finsteren Gewalten gegen sich und sein Werk anstürmen sah. Nie aber hat er daran gezweifelt, dass ihn Gott selbst zu seinem Propheten berufen hatte.

Nicht dass es an Religion gemangelt hätte, als Martin Luther oder Luder, wie über die ersten Jahrzehnte hin sein Familienname lautete, am 10. November 1483 in Eisleben in der mitteldeutschen Grafschaft Mansfeld zur Welt kam. Im Gegenteil, kaum eine Epoche war stärker mit Fragen der Religion und der Kirche befasst als das ausgehende 15. Jahrhundert.[1] Das aber war Ausdruck einer beunruhigenden Spannung zwischen dem kühnen diesseitigen Aufbruch des römischen Papsttums und den Nöten eines Kirchenvolkes, das den Heilszusagen der Priesterkaste nicht mehr traute und daher verunsichert nach der Wahrheit und dem Heil suchte. Erst Luther brachte den sicheren Anker einer Religion, die jeder Mensch als seine ureigene Sache begreifen konnte.

Auch die Römische Kirche hat Luther zu danken. Denn ohne die Wittenberger Herausforderung hätte sie sich kaum so entschieden von dem verweltlichten Renaissancepapsttum befreien und den Weg in eine Epoche bahnen können, in der wieder als Erstes der Glaube galt. So sehr sich auch bereits innerhalb der Papstkirche Kräfte der Neubesinnung regten, war es doch erst die Rebellion des Augustinermönchs, die der werdenden Neuzeit Glauben und Religion einschrieb, und zwar als dynamische, die Welt verändernde Kräfte.[2] Das diente vielen Menschen zum Heil und zur Befreiung; für nicht wenige brachte es aber Unheil und Verderben. Die gnadenlose konfessionelle Unduldsamkeit, die für mehrere Generationen auf die Reformationsepoche folgte, ließ im Innern der Gesellschaften unversöhnliche Gegensätze aufbrechen, die sich in blutigen Verfolgungen entluden und nicht selten ins Chaos der Bürgerkriege führten. Und nach außen, zwischen den Staaten trug die Unversöhnlichkeit der konfessionellen Kirchen- und Weltanschauungssysteme entscheidend zu der Selbstzerfleischung in den Religions- und Staatenkriegen bei, zu der sich der Konkurrenzkampf der europäischen Mächte ausgangs des Reformationsjahrhunderts zuspitzte.[3]

Goethes Begeisterung für Epochen des Glaubens, mehr noch seine komplementäre Abwertung «aller Epochen, in denen der Unglaube einen kümmerlichen Sieg behauptet», als Zeiten des «Scheinglanzes und des Unfruchtbaren» sind der säkularen Gegenwart fremd, ja befremdlich. Doch gerade deswegen sind sie geeignet, uns den Weg zu weisen, wie ein halbes Jahrtausend nach der Veröffentlichung der 95 Reformationsthesen am 31. Oktober 1517 eine Biographie Martin Luthers anzulegen ist. Und auch das heute kaum verständliche Phänomen, dass seine keineswegs einfach verständlichen theologischen Aussagen die Herrschenden herausforderten und von vielen Millionen Menschen bejubelt wurden, lässt sich nur begreifen, wenn wir uns klar machen, dass für Luther und seine Zeitgenossen Religion und Kirche einen ganz anderen Stellenwert besaßen als für uns heute, dass – mit einem etwas gewagten Vergleich beschrieben – die Menschen damals ähnlich ängstlich die Sicherheit des Glaubens vermissten wie wir heute die Sicherheit der Finanzmärkte oder den globalen Frieden.

Über die Jahrhunderte hin wurde der Wittenberger als der Vorläufer der jeweiligen Gegenwart und als Bahnbrecher der Neuzeit porträtiert. In den vergangenen Jahrhundertfeiern schuf sich jede Generation ihren eigenen Luther:[4] 1617 am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges den kämpferischen Luther, der die gefährdete protestantische Welt gegen die Konterrevolution der «Römlinge» verteidigen sollte; 1717 in der aufbrechenden Verträglichkeit und Säkularität der Aufklärung eher den zahmen, weltoffenen Luther; 1817 und 1917 den nationalen Luther als Heros religiöser Tiefe der Deutschen und Schutzschild gegen westliche Überfremdung durch eine als oberflächlich und seicht diffamierte romanische Zivilisation. Mit der historischen Gestalt hatte all das nur noch wenig zu tun. Es war «der Herren eigener Geist», den die jeweiligen nationalen oder lokalen Festkomitees feierten.

Es ist an der Zeit, diesen Gedenkkult zu durchbrechen und Martin Luther, sein Denken und Handeln wie dasjenige seiner Zeitgenossen als das darzustellen, was sie für den heutigen Menschen zuerst und vor allem sind, nämlich Zeugen «einer Welt, die wir verloren haben», oder besser gesagt, die nicht mehr die unsere ist und uns somit mit dem Fremden und ganz Anderen konfrontiert. Luther dachte und handelte als ein «Mensch zwischen Gott und Teufel», und als solcher ist er einer Gegenwart begreiflich zu machen, die den Teufel nicht mehr kennt und Gott nur noch – wo überhaupt – in Gottesbildern, die dem Wittenberger unverständlich gewesen wären.[5]

Es ist nicht die geringste emanzipatorische Leistung der Historie, dass sie der so ganz selbstverständlich hingenommenen Gegenwart fremde Lebens- und Denkwelten als Spiegel vorhält und dadurch die scheinbar «alternativlosen» Zwänge der Gegenwart relativiert. Die Konfrontation mit dem ganz Anderen in der eigenen Vergangenheit lässt die prinzipielle Wandelbarkeit nicht nur der materiellen Lebensumstände, sondern auch des Denkens und der Emotionen der Menschen hervortreten. Nicht um einen Luther, in dem sich unser eigener Geist spiegelt, soll es im Folgenden gehen, sondern um den «fremden» Luther, dessen Denken und Handeln sich sperrig zu den Interessen nachfolgender Generationen verhält, so oft es auch zur Legitimation gegenwärtigen Handelns diente und weiterhin dienen wird.

Selbstverständlich schließt diese Fremdheit nicht aus, sondern zwingt dazu, komplementär auch immer wieder diejenigen Linien und Zusammenhänge herauszuarbeiten, die das Werk des Reformators ebenso wie die Entscheidungen der Reformationsepoche mit der weiteren Entwicklung der Neuzeit bis hin zur Gegenwart verbinden. Dabei ist aber darauf zu achten, dass wir Luther nicht vorschnell zu dem Unseren machen und dass wir zwischen beabsichtigten und nicht beabsichtigten Folgen unterscheiden. Luthers Wirken in seiner Zeit ist von der Wirkungsgeschichte zu trennen, die über die Jahrhunderte hin den Reformator und sein Werk mit den Vorstellungen und dem Begriffsverständnis der jeweils eigenen Zeit deutete und so mit einem Sediment von Rezeptionsschichten überlagerte,[6] die es in gleichsam archäologischer Arbeit abzutragen gilt.

Wie kaum bei einem anderen, selbst bei Goethe nicht, ist es in erster Linie das Werk, das authentisch Auskunft über Luthers Handeln und Denken gibt. Er wirkte durch sein und in seinem Wort, das schriftliche seiner Briefe, Manifeste, Pamphlete und theologischen Abhandlungen und das gesprochene der Predigten, Vorlesungen und Tischreden, die meist durch Mitschriften seiner Hörer auf uns gekommen sind. Es wird daher in diesem Buch ausführlich aus Luthers Werken zitiert, in der Regel in der frühneuhochdeutschen Diktion und Schreibweise des Reformators und seiner Zeit.[7] Schnellen Lesern mag das gelegentlich beschwerlich erscheinen. Sie werden entschädigt durch die Farbigkeit und den Bilderreichtum von Luthers Sprache, deren ungebändigte Kraft sie zugleich daran erinnert, dass der Reformator Zeitgenosse eines Götz von Berlichingen war. Zudem ist der Rückgriff auf das authentische Werk der sicherste Weg, im Dickicht einer kaum noch überschaubaren Literatur zu einem eigenständigen Verständnis des Reformators zu gelangen und seine Stellung in den kirchlichen und politischen Positionskämpfen zu Beginn der Neuzeit zu bestimmen – unberührt von Apologetik oder Verleumdungen, wie sie noch vor wenigen Jahrzehnten mit der These ins Kraut schossen, Luther sei wegen einer Mordtat ins Kloster gegangen.[8]

Allein, auch der Rückgriff auf die Schriften wirft Probleme auf. Nicht weil sie schwer zu greifen oder in der Textüberlieferung durchgehend unsicher wären – die große Weimarer Ausgabe, aus der hier zitiert wird, bietet eine verlässliche Grundlage wie auch zahlreiche weitere Teilausgaben oder Übersetzungen, vor allem ins Englische.[9] Auch die noch Mitte des vorigen Jahrhunderts beschworene Gefahr, «über die Beschäftigung mit Luthers Theologie den Menschen Luther zu verlieren»[10], ist durch die zwischenzeitlich erfolgte Öffnung der theologischen Kirchen- zur Allgemeingeschichte weitgehend überwunden. Es sind vielmehr die Quellen selbst, die mit Bedacht gelesen und gedeutet...