Schwesternspiegel im 15. Jahrhundert - Gattungskonstitution - Editionen - Untersuchungen

von: Ekkehard Borries

Walter de Gruyter GmbH & Co.KG, 2008

ISBN: 9783110210767 , 553 Seiten

Format: PDF

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 189,95 EUR

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Schwesternspiegel im 15. Jahrhundert - Gattungskonstitution - Editionen - Untersuchungen


 

VII. Der Text als Gattungsmodell (S. 379-381)

1. Einführende Bemerkungen

Volkssprachliche Texte des Mittelalters erscheinen in allen Überlieferungsformen und formalen Typen.1 Auch wenn die Versuche, diese Texte in Gattungssysteme einzuordnen, nicht selten an Grenzen stoßen, ist es unbestreitbar, dass die „Ordnungsmacht Philologie“2 das Instrumentarium der Gattungen nicht nur deshalb benötigt, „um die chaotischen Massen an Literatur zu ordnen und handhabbar zu machen“,3 sondern auch, weil gattungstypologische Analysen zum Verständnis spätmittelalterlicher Texte in ihrer historischen Situierung einen ganz wesentlichen Beitrag leisten können.4

Für die Ermittlung der Gattung eines spätmittelalterlichen Textes ist bei einer Überlieferung in Sammelhandschriften zunächst der Blick auf die Autoren und Gattungen der Mitüberlieferung5 zu richten, weil die Kompilationen nicht als zufällig einzuschätzen sind.6 Zahlreiche Texte der Sammelhandschriften, in denen der Text von der besessenen Schwester Agnes tradiert ist, sind anonym überliefert. Die deutliche Mehrzahl der genannten Verfasser waren Franziskaner, einige gehörten der Devotio moderna an. In die Codices wurden unter anderem Texte oder Textauszüge aufgenommen von Pseudo- Augustinus, Bonaventura und Pseudo-Bonaventura, Bernhard von Clairvaux und Pseudo-Bernhard, Johannes Brinckerinck, Hendrik Herp, Dirc van Herxen, David von Augsburg, Marquard von Lindau, Caesarius von Heisterbach, Heinrich Vigilis von Weißenburg, Heinrich von Neustadt, Bernhardin von Siena und Heinrich Seuse.

Neben Gebeten findet man Exempel, Legenden, Viten, allgemeine Belehrungen für Ordensleute sowie Klosterhistoriographie und verschiedene geistliche Unterweisungstexte, die zum Teil für religiös lebende Frauen bestimmt sind. Eine einheitliche Ausrichtung der jeweiligen Kompilationen auf eine spezielle Adressatengruppe ist jedoch nicht festzustellen. Durch die Beurteilung von Autoren und Schriften der Mitüberlieferung kann also keine gattungstypologisch spezifische Zuordnung des Textes von der besessenen Schwester Agnes vorgenommen werden. Sichtet man deshalb im nächsten Schritt Termini, die heute zur Gattungseinordnung mittelalterlicher Texte herangezogen werden, bieten sich bei einer deduktiven Vorgehensweise zunächst zusammenfassende Oberbegriffe an wie zum Beispiel der Terminus ’Gebrauchsliteratur‘.

Dieser Begriff ist jedoch wenig spezifizierend, weil rund neunzig Prozent der überlieferten mittelalterlichen Literatur zur Gebrauchsliteratur gerechnet werden können. 7 Konzentriert man sich auf das religiös-theologische Schrifttum, findet man am häufigsten die Bezeichnungen ’Erbauungsliteratur‘8 oder ’geistliche Literatur‘. Doch auch mit diesen Termini werden immerhin noch rund sechzig bis siebzig Prozent der mittelalterlichen Literatur erfasst.

Spezieller sind die Einteilungen der geistlichen Literatur nach ihrer Gebrauchsfunktion in ’Katechetik‘, ’Aszetik‘ und ’Mystik‘ Es erscheint plausibel, die aus dem Text von der besessenen Schwester Agnes ermittelten Themenkomplexe (1) und (2), also die ’Praktischen Verhaltensanweisungen für das gemeinsame Leben in geistlichen Frauengemeinschaften‘ und die ’Weisungen für die innere geistliche Entwicklung der Schwestern‘,11 bestimmten Materien und Themen, die sich mit Glaubensleben (Aszetik) und Glaubenswissen (Katechetik) befassen, zuzuordnen. Überprüft man diese Zuordnung, stellt man jedoch fest, dass sie unzureichend ist. Im Zentrum der spätmittelalterlichen katechetischen Literatur standen der Dekalog, das Glaubensbekenntnis, das Vaterunser und Ave Maria, die sieben Hauptsünden und die sieben Gaben des Heiligen Geistes.12 Egino Weidenhiller nennt zusätzlich die sieben Sakramente.