Brecht lesen

von: Hans-Thies Lehmann

Verlag Theater der Zeit, 2016

ISBN: 9783957490902 , 320 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 16,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Brecht lesen


 

SCHLAGLICHTER AUF DEN
ANDEREN BRECHT


1. Un-ernst, grau

„So ist das Andere, allein als solches gefaßt, nicht das Andere von Etwas, sondern das Andere an ihm selbst, d. i. das andere seiner selbst. […] Das Andere für sich ist das Andere an ihm selbst, hiermit das Andere seiner selbst, so das Andere des Andern, – also das in sich schlechthin Ungleiche, sich Negierende, das sich Verändernde […]“1 (Hegel)

Für Brechts Werk gilt seine schöne Wendung über die Architekturen: „Die halbzerfallenen Bauwerke / Haben wieder das Aussehen von noch nicht vollendeten / Groß geplanten […]“.2

Sein Text ist ein Erkundungsfeld, voll von Halbzerfallenem, zugleich das Manövergelände politischer Ideen, deren größeren Teil freilich das Schicksal der Vergänglichkeit ereilt hat, rasch, wie es dem Jahrhundert entspricht. Aber das Messer seines Schreibens weist scharf wie wenig andere auf die zerreißenden Probleme, denen jene Ideen antworteten und die nicht gelöst sind, weil der Sozialismus scheiterte. Vor den Fragen sterben die Antworten. Brechts Fragen leben noch. Deshalb – nicht nur, weil es vielfach einfach grandiose Kunst ist – stöbert man hoffnungsfroh immer neu auf dem Versuchsfeld, ohne das Entsetzen über Ideen, die in Todeskälte und Katastrophe führten, zu verleugnen. Der andere Brecht wäre der, von dem noch immer die Fragen und die Intelligenz der Weltbeschreibung Gültigkeit haben, nicht aber ohne allerstrengste Prüfung die Ideale des Kollektivs und der leninistischen Politik. Was genau von Brechts politischen Analysen und Idealen und Utopien bleiben wird, darüber wird man trotzdem nicht hastig urteilen wollen. Konsens dürfte zu erzielen sein über seine Irrtümer, die den Wert leninistischer Parteien betreffen; sein Schweigen über die Verbrechen des Stalinismus; seine Identifikation mit der verhängnisvollen Politik der Kommunistischen Internationale in den 1930er Jahren; die haarsträubende Versimpelung des Faschismusproblems – am Ende die Verkennung der Nachkriegsdemokratie in der Bundesrepublik und das trotz aufkeimender Resignation verbissene Festhalten an der historisch zukunftweisenden Rolle der SBZ/DDR.

Der andere Brecht: Das ist ein Vorstellungsgelände, ein Wortgewässer, eine Textlandschaft, wo die „offiziellen“ Ideen sich immer wieder im Dickicht der Worte verlieren, wo die nur scheinbar gut kartographierten Gebiete sich als undeutlich oder verzeichnet erweisen. Der prägnante Ausdruck wirkt auf den zweiten Blick „verschwommen“, in der Figuration des Textes vereint die These sich mit ihrem Andern, der materialen Musikalität des Wörterleibs, und das Gewebe, das sie zeugen, ist kaum eine Idee, sondern eine „andere“ Textur. Eine frühe Tagebuchnotiz:

Ich glaube nicht, daß ich jemals eine solche ausgewachsene Philosophie haben kann wie Goethe oder Hebbel, die die Gedächtnisse von Trambahnschaffnern gehabt haben müssen, was ihre Ideen betrifft. Ich vergesse meine Anschauungen immer wieder, kann mich nicht entschließen sie auswendig zu lernen. Auch Städte, Abenteuer, Gesichter versinken in den Falten meines Gehirns schneller, als Gras lebt. Was werde ich tun, wenn ich alt sein werde, wie kümmerlich werde ich dahinleben mit meiner dezimierten Vergangenheit und zusammen mit meinen ramponierten Ideen, die nichts mehr sein werden als arrogante Krüppel.3

Ja, dieses graue Beckettsche Bild für die verfallenden Ideen kann man sich vorstellen. Aber da sind noch die Worte, und da ist die Kraft des neu anfangenden Lesens, das immer gefunden hat und auch heute findet, dass bei einem großen Autor die Ideen untergehen können, aber das Versuchsfeld aus Worten ein Kraftfeld bleibt, das neue Ideen hervorruft.

„Wer immer es ist, den ihr sucht: ich bin es nicht.“4 Der Andere ist der immer und unwiderruflich andere, der jeder Sistierung sich entzieht. Ambiguität, Zweideutigkeit, Paradoxie und Maske – auf den ersten Blick gehören diese Motive, die den Entzug des Ichs und des Sinns anzeigen, zum Urmütterhausrat der Brechtphilologie. Indessen reduziert man bis heute weithin diese inneren Spaltungen auf eine moralische Fragwürdigkeit (etwa die Predigt sozial verantwortlichen Tuns bei persönlichem Opportunismus, als pragmatische Schläue bemäntelt). Oder auf die Paradoxie zwischen Engagement und Poesie. Wie aber, wenn Gesicht und Maske nicht zu trennen sind, das Gesicht mitgehen würde, wenn man die Maske herabreißt, wie es bei Büchner heißt? Wie wenn der Spalt nicht zwischen Engagement und ästhetischer Autonomie des Dichtens verliefe, sondern beide Pole dieser Spannung spaltete?

Der Text, nicht nur Brechts, steckt, indem er sich auf und in das Spiel der Sprache einlässt, ein Versuchsfeld ab, in dem jede Position – und scheine sie noch so klar – ein Stück Ernst verliert. Für sich selbst wusste Brecht das – auch in den finsteren Zeiten. Er sagt 1938 zu Walter Benjamin:

Ich denke oft an ein Tribunal, vor dem ich vernommen werden würde. „Wie ist das? Ist es Ihnen eigentlich ernst?“ Ich müßte dann anerkennen: ganz ernst ist es mir nicht. Ich denke ja auch zu viel an Artistisches, an das, was dem Theater zugute kommt, als daß es mir ganz ernst sein könnte. Aber wenn ich diese wichtige Frage verneint habe, so werde ich eine noch wichtigere Behauptung anschließen: daß mein Verhalten nämlich erlaubt ist.5

Keine Logik bleibt vom Spiel des Textes unangefochten. Einzig die Lektüre, nicht der Text, vermisst die Koordinaten. Ein Netz von Bezügen – Philologie tendiert zu rasch dazu, es aufzuschneiden, um – sehr vermeintliche – Sicherheit des Verstehens zu gewinnen.

Vergessen wir nicht, was vergessen wird, wenn wir Brecht sagen. Immer wieder verfällt diese Rede dem Konstrukt des Einen, der – scheinbar – den Text mit der Signatur zu „seinem“ erklärt hat, verfällt dem Fetisch der Signatur. (Und übrigens des Geschlechts: Ist die Instanz, das Nicht-Wesen, welches den Text schreibt, mit der gleichen Sicherheit als männlich oder weiblich zu bestimmen wie die empirische Person des Autors Brecht?) Gedankenspiel: Wie viel gewönne oder verlöre man, wenn für einige Zeit ganz einfach das Nomen „Brecht“ – wie „Goethe“ oder „Shakespeare“ – sozusagen tabu wäre, wenn jedes Mal statt von dieser weithin imaginären und konstruierten Instanz nur von dem konkreten Text gesprochen würde?

Der „andere Brecht“ als Thema wäre also zunächst ein Nicht-Thema, wenn es doch ein Brecht ist, der sich per definitionem nicht definieren lässt? In der Tat, in der Praxis, ein Nicht-Thema, ein Verweis auf das Problem der Thematisierung selbst. Der andere Brecht bedeutet zugleich eine Reflexion auf die Art und Weise des Lesens und Inszenierens. Wenn Verstehen Fixieren von Bedeutung, Rekonstruktion ihrer Genese heißt, so stellt die Frage nach dem immer und notwendig anderen auch die Frage nach einem notwendigen Nicht-Verstehen im Verstehen selbst. Der andere Brecht bedeutet nicht: ein anderes Terrain, ein Anderswo, ein verkannter oder bislang weniger beachteter Aspekt, den man sozusagen nachtragen müsste, weil es eine Forschungslücke gibt. Es bedeutet: Hervorhebung einer Andersheit in sich selbst, die man mit einem Begriff, den Louis Althusser im Zusammenhang mit Brechts Theater prägte, Alterität nennen könnte. Alterität hieße dann eine Andersheit, die sich nicht im Sinne einer Dialektik aufheben lässt, ein Bruch zwischen zwei Realitäten, die partout nicht wie im Symbol verschmelzen oder dialektisch als tiefer gedacht Einheit erscheinen wollen.

2. Das Schwarze

Einige haben ihn gesehen, den anderen Brecht, Hans Henny Jahnn zum Beispiel, der Brecht 1923 kennen gelernt hatte. Mit Arnolt Bronnen gemeinsam bereitete Brecht damals in Berlin eine Aufführung von Pastor Ephraim Magnus vor. Seitdem scheint Jahnn Brechts Arbeit „mit großem Interesse“ verfolgt zu haben. 1933 trafen beide als Exilanten in Dänemark wieder zusammen, dann erneut 1950 in Berlin.6

Unmittelbar nach Brechts Tod bat Peter Huchel Jahnn um einen Text zu Brecht für die von ihm geleitete Literatur- und Kulturzeitschrift Sinn und Form. Jahnn schrieb ihm (auf eine Mahnung hin) am 9. November 1956, er habe „an Bord eines Kohlen-Trampdampfers“ auf der Nordund Ostsee an dem Beitrag gearbeitet. Die Jahnn-Ausgabe bietet die Handschrift, die dem seinerzeit veröffentlichten Text zugrunde lag. Im letzteren hieß es:

Man hat, jedenfalls bei uns im Westen, sich mit der marxistisch determinierten Weltanschauung Brechts befaßt, und es ist dabei zum Teil zu einem abfälligen Urteil über das Werk gekommen. Es ist offenbar schwer für Andersgläubige, es hinzunehmen, daß er Marxist war, wie andere große Dichter, Bernanos etwa, Christen waren – oder noch...