Die radikalisierte Gesellschaft - Von der Logik des Fanatismus

von: Ernst-Dieter Lantermann

Blessing, 2016

ISBN: 9783641196509 , 224 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 15,99 EUR

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Die radikalisierte Gesellschaft - Von der Logik des Fanatismus


 

2   Aus Mangel an Gewissheiten – Unsicherheit als alltägliche Erfahrung

Wir leben in einer Gesellschaft, in der sich Veränderungen mit einer so hohen Geschwindigkeit vollziehen, dass wir den Überblick zu verlieren drohen. Frühere Gesellschaften boten ihren Mitgliedern bei allen stürmischen Entwicklungen und Zumutungen immer noch einen relativ stabilen Orientierungs- und Entfaltungsrahmen, der für Überblick, Strukturierung, Klarheit, Abschätzbar- und Überschaubarkeit der individuellen Lebensführung einigermaßen Sorge trug. Diese Lebensgewissheiten kann eine moderne Gesellschaft nicht mehr leisten. Ungewissheit und Unsicherheit sind zu Grunderfahrungen von uns allen geworden, ob wir dies nun gutheißen oder nicht.

Von den Sozialwissenschaften bis zum Feuilleton ist von einer neuen Epoche der Verunsicherung die Rede, von einem allgemeinen Lebensgefühl der Unsicherheit, wie Thomas Meyer in den Frankfurter Heften die Verfassung moderner Gesellschaften zusammenfasst. Bereits 1985 brachte Jürgen Habermas einen Band mit dem Titel Die Neue Unübersichtlichkeit heraus, was Wilhelm Heitmeyer fünfundzwanzig Jahre später angesichts der rasanten gesellschaftlichen Veränderungen als eine »Radikalisierung der Unübersichtlichkeitsproblematik« zuspitzte. Der Historiker Heinrich August Winkler spricht von einem »Zeitalter der allgemeinen Verunsicherung«, der Philosoph Zygmunt Bauman von einer »fluiden« Gesellschaft, in der alles im Fluss sei und keine Stabilitäten mehr Geltung hätten.

Es sind die extreme Undurchsichtigkeit und Unvorhersehbarkeit, die dichte Vernetzung aller Strukturen und Entwicklungslinien moderner, komplexer Gesellschaften, die unsere Handlungen, Entscheidungen, Hoffnungen und Befürchtungen zu Orten hoher Ungewissheiten und Unsicherheiten werden lassen. Das soll an zwei Fallbeispielen illustriert werden. Es sind die Lebensläufe von Manfred K. und Andreas S., die sich in einer unserer Umfragestudien den Interviewfragen gestellt haben.

Manfred K. war zu der Zeit unseres Gesprächs 41 Jahre alt und seit sechs Jahren als IT-Experte in einem Frankfurter Bankhaus angestellt. Nachdem er drei Jahre gependelt war, zog er nach Frankfurt. Dort hat er sich eine Wohnung gekauft, für die er einen recht hohen Kredit aufnehmen musste. Seine alten Freundschaften versucht er seitdem, so gut es geht, über Telefon, Facebook, WhatsApp und gelegentliche Heimatbesuche zu pflegen. Seit Kurzem steht die Bank wegen internationaler Turbulenzen der Finanzmärkte vor einem Umbruch und hat angekündigt, sich von einem Teil ihrer Belegschaft trennen zu müssen. Manfred K. befürchtet, einer der Mitarbeiter zu sein, denen demnächst gekündigt wird. Seine Sorgen sind nicht unberechtigt, da er sich von den rasanten Entwicklungen in der IT-Technologie regelrecht überrollt sieht und mit den neu eingeführten Verfahren erhebliche Probleme hat, die auch nicht unbemerkt blieben. War er in früheren Jahren regelrecht stolz, ein Banker zu sein, musste er zudem in der letzten Zeit erfahren, dass das Image dieses Berufsstandes in weiten Teilen der Gesellschaft erheblich gesunken ist, was zusammen mit seinen nagenden Zweifeln an seiner IT-Expertise bei ihm eine Identitäts- und Selbstwertkrise auslöste, die sich immer schmerzlicher bemerkbar macht. Hinzu kommen, wohl wegen der räumlichen Trennung, erste Auflösungserscheinungen in seiner langjährigen Beziehung, die für beide immer auf eine Partnerschaft fürs ganze Leben angelegt war. Mit diesen für ihn unerwarteten Unsicherheiten seiner Lebensverhältnisse geriet seine ganze Lebensplanung ins Wanken, die bis dahin etwa so ausgesehen hatte: Aufstieg in der Bank, gutes Gehalt, Familie gründen, mit seiner Lebenspartnerin in der Nähe von Frankfurt ein Haus kaufen, neue Freundschaften aufbauen und überhaupt ein »klassisches« Leben führen, wie es seine Eltern vorgelebt hatten. Alle diese Lebensplanungen erscheinen ihm inzwischen ungewiss und in Gefahr.

Auch bei Andreas S., 47 Jahre, läuft nicht alles nach Plan. Er hatte sich nach seinem Lehramtsreferendariat entschieden, in Zukunft als freier Künstler zu arbeiten. Die Risiken und Unwägbarkeiten, die mit dieser Entscheidung verbunden waren, nahm er in Kauf zugunsten der Gewissheit, von jetzt an ein unabhängiges, selbstbestimmtes Leben führen zu können. Seine Bilder fanden Anklang, eine renommierte Galerie verkaufte seine Arbeiten, die auch von Museen erworben wurden, und die Kunstkritik nahm regen Anteil an seinen Ausstellungen. Mit dem Geld, das seine Bilder ihm einbrachten, konnte er ein Haus für sich und seine Familie erwerben und ein ganz seiner künstlerischen Tätigkeit gewidmetes Leben führen. Doch mit den Jahren ließ das öffentliche Interesse an seinen Bildern nach, die Einnahmen sanken, und seine Zukunftsaussichten als anerkannter Künstler wurden immer unsicherer und düsterer. Er begann daran zu zweifeln, ob er noch in der Kunstwelt wahrgenommen wurde oder welchen Ort es in der Gesellschaft überhaupt noch für ihn gab. »Ich bin der Welt abhandengekommen, sie mag wohl glauben, ich sei gestorben«, ist zu einem seiner Lieblingszitate geworden (er liebt Gustav Mahler). Die finanzielle Situation entwickelt sich immer mehr zu einer täglichen Gratwanderung, und er fragt sich so manches Mal, ob es vielleicht doch die Art seiner (ungegenständlichen) Malerei sein könnte und nicht nur der überdrehte Kunstmarkt, was seine so erfreulich gestartete Karriere ins Stocken geraten ließ. Alle diese Ungewiss- und Unsicherheiten seiner Lebenssituation hindern ihn bis heute aber nicht daran, an seinem Lebensentwurf als freier Künstler festzuhalten und die Bilder zu malen, die er malen will und malen muss. Bei allen Rückschlägen und Zweifeln kann sich Andreas S. zudem immer auf den Rückhalt seiner Familie verlassen.

Was Andreas S. und Manfred K. widerfahren ist, sind keine zufälligen Verkettungen von Ereignissen, die allein einem willkürlichen, persönlichen Schicksal geschuldet wären. Es sind vielmehr sehr typische Entwicklungen, die moderne Gesellschaften wie die Bundesrepublik Deutschland kennzeichnen und vorantreiben, die diese beiden sehr unterschiedlichen Lebensentwürfe und Lebensläufe überlagern und beeinflussen.

Die Welt ist aus den Fugen geraten – die Allgegenwärtigkeit des fernen Fremden

Unter der Merkel-Ägide der vergangenen Jahre erschien Deutschland als eine Insel der geordneten Verhältnisse. Die Katastrophen dieser Welt drangen nur als Nachrichten von fernen Ereignissen zu uns. Wenn die Medien in ihrer Berichterstattung aufrüttelnde Bilder von Bürger- und Religionskriegen, von Hunger und Gewaltexzessen zeigten, konnten wir uns ängstigen, über schreiende Ungerechtigkeiten empören und Solidarität oder Abscheu empfinden. Aber im Großen und Ganzen gestaltete sich unser Verhältnis zum Rest der Welt als eine sentimentale Beziehung: Bei allen Erschütterungen, allem Entsetzen, aller Anteilnahme an den Geschehnissen in der Welt da draußen hofften wir insgeheim, dass diese uns nicht wirklich etwas angingen. Beim Anblick der Bilder fühlten wir uns betroffen, tief bewegt, jedoch gleichzeitig fern jeder konkreten Vorstellung, dass diese Ereignisse etwas mit unserem wirklichen Leben hier in Deutschland zu tun haben und uns zu irgendwelchen Taten anstiften sollten.

Diese Ära ist fürs Erste vorbei. Nach einer Allensbach-Umfrage im Januar 2016 ist der Anteil der deutschen Bevölkerung, der sich große Sorgen vor zunehmender Gewalt und Kriminalität macht, innerhalb eines halben Jahres um 20 Prozent gewachsen. Die Autoren der Studie sehen diesen sprunghaften Anstieg als unmittelbare Reaktion auf die körperlichen Übergriffe von Marokkanern und anderen vermeintlich arabischen jungen Männern in der Kölner Silvesternacht. So etwas kannten wir bislang nur aus den Nachrichten über den Tahir-Platz in Kairo, und jetzt geschieht das hier, in Köln, vor unserer eigenen Haustür! Über 70 Prozent der Bevölkerung fürchten sich Anfang 2016 vor einem Terroranschlag in Deutschland und machen sich große Sorgen darüber, dass immer noch mehr Flüchtlinge ins Land kommen. Sie sehen sich in ihren Befürchtungen auch deshalb bestätigt, weil die islamistisch motivierten oder ummantelten Gewalttaten sich extrem häufen und immer näher rücken: Paris, nochmals Paris, Brüssel, Nizza, Würzburg, dann München und Ansbach. Der Terror wird zudem durch Trittbrettfahrer und die sich selbst radikalisierenden jungen Männer immer unberechenbarer und im Bewusstsein allgegenwärtiger.

Nach einer Studie der Gesellschaft für Konsumforschung befürchten fast vier Fünftel der Bevölkerung, dass die wirtschaftlichen Probleme Deutschlands größer werden – auch diese Sorgen haben in den letzten Monaten extrem zugenommen. Große Teile der Bevölkerung empfinden Ende 2015 die Verhältnisse in Deutschland als so reich an Unsicherheiten, dass es für den Einzelnen schwieriger als früher sei, eine klare Orientierung und einen Halt für sich zu finden. Auch das persönliche Bedrohungsgefühl hat sich in kurzer Zeit erheblich erhöht: Anfang 2016 halten es zwei Drittel der Bevölkerung für möglich, dass sie selbst ein Opfer terroristischer Gewalt werden, ein halbes Jahr zuvor war es »nur« die Hälfte.

Die Globalisierung macht auch vor den Grenzen Deutschlands nicht Halt, und zu Beginn des Jahres 2016 scheinen in der Wahrnehmung großer Teile der Bevölkerung alle Dämme gerissen zu sein, die Deutschland bislang vor den Folgen weltweiter Erschütterungen schützten. Viele erleben diese Entgrenzung der Welt als eine unheimliche Invasion des Fremden, des ehedem Fernen in den Nahraum alltäglicher Erfahrung, der sich viele schutz- und hilflos ausgeliefert sehen.

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