Die Seele des Autismus - Warum wir die hohe Spiritualität von Menschen mit Autismus brauchen

von: William Stillman

AMRA Verlag, 2016

ISBN: 9783954470761 , 240 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 15,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Die Seele des Autismus - Warum wir die hohe Spiritualität von Menschen mit Autismus brauchen


 

Einleitende Worte


»Okay, hier ist eine verrückte Theorie und etwas zum Nachdenken: Unsere Kinder reagieren sehr sensibel auf das, was sie sehen, hören, riechen und so weiter. Könnte es also sein, dass sie auch mehr auf die geistige Welt eingestellt sind? Bitte haben Sie an dieser Stelle ein bisschen Geduld. Nein, ich bin nicht verrückt …« So begann Ende März 2006 der Beitrag einer verstörten, aber intuitiv veranlagten Mutter in einem Internetforum. In ihrer Nachricht erzählte sie von den ungewöhnlichen Umständen, unter denen ihr kleiner Sohn sich mit einem Foto seines seit Langem verstorbenen Großvaters beschäftigte – den er nie kennen gelernt hatte, den er aber trotzdem zu kennen schien. Die Mutter berichtete, dass das Abbild des Großvaters ihren Jungen zum Lächeln und Kichern bringt (eine Reaktion, die von keinem anderen Bild ausgelöst wird), dass er aufschaut, mit seinen Blicken im ganzen Haus die Luft »schnuppert«, jemandem zuwinkt, den sie nicht sehen kann, und dann wie bei einer Verabschiedung winkt. Am Schluss ihres Beitrags äußert sie ihre Verwunderung darüber, dass sie hört, wie ihr Sohn mitten in der Nacht aufwacht, schallend lacht und dann, plötzlich traurig, klagt: »Alles weg« ... wenn die Ereignisse aufhören.

Die Frage dieser Mutter stieß auf großes Interesse, und der Besucherzähler registrierte in wenigen Tagen rund 1.200 Treffer, denn immer mehr Mütter klinkten sich ein – der Beitrag fand eindeutig ein Echo. (Ein späterer Beitrag zum gleichen Thema war 10 Seiten lang und kam auf über 3.000 Besucher!) Mich überraschte das nicht. Ich hatte diese aufkommende Strömung schon seit einiger Zeit gesehen – und gespürt –, aber jetzt entwickelte sie eine Eigendynamik. Der Zeitpunkt war günstig; mein Buch Autismus und die Verbundenheit mit Gott würde in Kürze veröffentlicht werden.1 Es war das erste Buch dieser Art, das sich mit den multisensorischen spirituellen Fähigkeiten vieler hochsensibler Menschen aus dem Autismusspektrum beschäftigte, und enthält Fallberichte, die denen des Beitrags im Autismusforum und den auf ihn folgenden Reaktionen praktisch identisch sind.

Inzwischen fand das Thema Spiritualität auch Eingang in Autismus-Zeitschriften. In dem Artikel »Kindred Souls« (»Verwandte Seelen«) schrieb Chris Dodds, Mutter eines Sohns namens Taylor: »Ich werde nie die Nacht vergessen, in der ich ihn im Bett weinen hörte und in sein Zimmer ging, um zu sehen, was los war. ›Die Menschen hätten sich nie weiterentwickeln dürfen‹, schluchzte er. ›Wir machen die Erde kaputt und zerstören alles, was gut auf ihr ist.‹« Zu diesem Zeitpunkt war Taylor gerade einmal sieben Jahre alt. Keri Bowers, deren Sohn Taylor Cross bei dem Film Normal People Scare Me Regie führte, beschrieb ihre spirituelle Offenbarung: »Eines Abends, unmittelbar nach Taylors erstem Geburtstag … fragte ich noch einmal: ›Warum ich, Gott?‹ Ich hatte die Fäuste geballt – ich fühlte mich als Opfer –, und mein Kopfkissen war nass von Tränen. Wie konnte mir das passieren? Und dann hörte ich eine Stimme deutlich und doch zart sagen: ›Warum nicht du, Keri? Warum nicht?‹ Zuerst war ich bestürzt; dann überkam mich eine Erkenntnis. Für mich war die Zeit gekommen, das Akzeptieren zu lernen.« Sogar Ellen Notbohms respektables und einflussreiches Buch Ten Things Every Child with Autism Wishes You Knew, das damals gerade erschienen war, beschäftigt sich im letzten Kapitel mit verwandten Überlegungen; die Autorin fragt sich, ob ihr Sohn vielleicht sie ausgesucht hat.

Gleichzeitig ergaben sich weitere Parallelen. Ich erfuhr, dass die Frau, die mein neues Buch in ihrer Radiosendung rezensieren wollte, einen Sohn mit Autismus hatte. Ich informierte sie darüber, dass er sie vor seiner Geburt einem japanischen Paar vorgezogen hatte. Eine andere Radiomoderatorin rief an und teilte ihre erstaunliche Geschichte mit: Ihr kleiner Sohn, der das Asperger-Syndrom hatte, unterhielt sie eines Tages mit Einzelheiten über das Fischen, einschließlich des Wissens über Tintenfische. Auf behutsames Nachfragen hin verriet er, er habe diese Details von seinem Urgroßvater, einem begeisterten Seemann. Allerdings war dieser Urgroßvater gestorben, als die Frau sechzehn Jahre alt gewesen war.

Die Schauspielerin Sigourney Weaver, die in dem Film Der Geschmack von Schnee eine Autistin spielt, eröffnete die Präsentation des Films bei den Filmfestspielen in Berlin 2006 mit einer Pressekonferenz, bei der sie den Autismus durch eine spirituelle Brille sah, die den Prinzipien meiner Arbeit überraschend ähnlich ist: »Ich glaube, wir müssen anfangen, ihn als eine Gabe zu sehen. Vielleicht verstehen wir nicht, wozu er da ist, aber im Umgang mit einem Menschen mit Autismus lernen Sie sehr viel. Sie lernen spielen, Sie lernen, wie man Dinge sehen und erleben kann und wie irritierend die Welt ist.« Ähnlich philosophisch wurde der Schauspieler Joe Mantegna, als er über den Autismus seiner 18-jährigen Tochter Mia sagte: »Ich glaube wirklich, dass es da draußen einen Plan gibt … Es ist fast einfacher, daran zu glauben, als nicht daran zu glauben, wenn Sie sich ansehen, wie schön und voller Wunder die Welt ist … Man muss annehmen, dass da eine Art Logik am Werk ist, wir entwickeln uns Richtung Licht. Wenn das Teil des Plans ist, akzeptiere ich meine Rolle gern und bereitwillig.«

Eine Verlagerung zum Spirituellen

Wie viele Menschen mit dem Asperger-Syndrom, der leichtesten Erfahrung aus dem Autismus-Spektrum, habe ich einen scharfen Blick fürs Detail und neige dazu, global über Dinge nachzudenken, weil ich nichts aussortieren will. Und wie der siebenjährige Taylor Dodds habe auch ich mir den Kopf zerbrochen über umfassende, generelle Themen, die sich auf uns alle auswirken könnten. Ich begann eine Reihe von Hinweisen zu bemerken (und sorgsam als Belege zur späteren Verwendung zu horten), dass unsere Gesellschaft als Ganzes für eine Verlagerung der Wahrnehmung hin zum Spirituellen offen war – zumindest war sie offen für Diskussionen und dafür, bislang nicht geäußerte Möglichkeiten zu erörtern, vor allem in Bezug auf Menschen mit Behinderungen. (Ist es nicht faszinierend, dass jetzt auf der Verpackung der Seife in meinem Hotel steht: »Lassen Sie die entspannende Essenz des Lavendels Ihre Stimmung heben und Ihren Geist beruhigen.« Noch vor ein paar Jahren hätte eine solche Formulierung wohl niemanden vom Hocker gerissen.)

Ein paar Monate zuvor hatte ein Artikel im Time Magazine unter der Überschrift »The Down Dilemma« (»Das Down-Dilemma«) das Für und Wider der Möglichkeiten für Schwangere abgewogen, die sich durch ein neues Screening ergeben hatten. Es ermöglicht, »genetische Abweichungen einschließlich des Down-Syndroms« in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten festzustellen. Der als First and Second Trimester Evaluation of Risk (FASTER) bekannt gewordene Test, der eine 96-prozentige Aufklärungsquote verspricht, soll es Frauen potenziell erleichtern, ihren mit dem Down-Syndrom identifizierten Fetus wesentlich früher abzutreiben als bisher – eine Alternative, für die 80 bis 90 Prozent der Frauen sich entscheiden. Den Kontrapunkt dazu bildet der Aufschrei gestandener Eltern, die es ablehnen, das Leben eines Kindes mit unterschiedlicher Seinsweise zu beenden, nur weil es anders und diese Lösung bequemer ist. »Werden die Leute für die Möglichkeiten dieser Kinder offen sein?«, überlegte Patricia Bauer, Ex-Redakteurin der Washington Post und Mutter einer 21-jährigen Tochter mit Down-Syndrom – einer Tochter, die, wie Bauer vorbringt, »eine Quelle der Freude und des Glücks« in ihrem Leben und im Leben der ganzen Familie ist. Folgt nun bald eine ähnliche Diskussion zum Screenen von unerwünschten Feten mit Autismus?

Im Juni 2006 berichtete die Londoner Daily Mail über den »Ethikstreit«, der sich aus verbesserten Screening-Verfahren ergeben und »Designer-Babys« hervorbringen könnte. Durch ein Verfahren zur Auswahl des Geschlechts könnten gesunde männliche Embryos ausrangiert (Autismus tritt mindestens vier Mal häufiger bei männlichen Kindern auf) und durch weibliche Embryos ersetzt werden, um bei entsprechend prädisponierten Familien »das Risiko« eines genetischen Autismus »drastisch zu reduzieren.« Simone Aspis, Aktivistin und Vertreterin des Britischen Behindertenrates, verurteilte diese Pläne und meinte: »Ein Autismus-Screening würde die Angst erzeugen, dass jeder, der irgendwie anders ist, nicht akzeptiert wird. Ein Autismus-Screening würde zu einer Gesellschaft führen, in der nur das Vollkommene geschätzt wird.«

Auch der Gerichtsbeschluss, der dem Leben von Terri Schiavo ein Ende setzte,...