... wenn Gott Geschichte macht! - 1989 contra 1789

von: Ulrich Schacht, Thomas A. Seidel

Evangelische Verlagsanstalt, 2015

ISBN: 9783374043774 , 248 Seiten

Format: PDF, ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 14,99 EUR

Mehr zum Inhalt

... wenn Gott Geschichte macht! - 1989 contra 1789


 

Harald Seubert

Die „Furie des Verschwindens“ und der Geist wahrer Freiheit


Zur Phänomenologie von zweierlei Revolutionen1

Prolog

„Was für ein Jahr! Im Jahr des 100. Geburtstages von Hitler eine reguläre bürgerliche Revolution! Und wir waren dabei!“2, so notierte Walter Kempowski am 31. 12. 1989 in sein Tagebuch. Im Jahr 1989, so Timothy Gordon Ash damals, ging ein Völker- und Bürgerfrühling durch Europa.3 Wahrgenommen wurde eine Revolution, die freilegte, schonte, begründete, die nicht tötete, und die sich damit von der „Mutter aller Revolutionen der Neuzeit“, der französischen, markant unterschied.

I

Zunächst das magische Datum: 1789. Das Phänomen der Französischen Revolution möchte ich in der Brechung durch die deutsche Geistesgeschichte, die es unmittelbar kommentierte und auf den metaphysischen Begriff brachte, anzeigen. Mit Faszination und gleichermaßen tiefem Erschrecken nahmen Kant, Schiller, Fichte, Hegel und viele andere wahr, wie die Revolution ihre Kinder fraß und sich gleichsam in einer umfassenden Zerstörungsmacht gegen sich selbst wandte. Hegel brachte dies auf die berühmte Formel von der „Furie des Verschwindens“,4 die entfesselt wurde, als sich die leere, abstrakte Freiheit verunendlichte und absolut setzte. Alles Einzelne wurde, so Hegel, zur Staatsaktion. Die großen universalen Parolen und ihre Realisierung lassen nichts neben sich bestehen, sie brechen mit christlicher Tradition, mit Herkunft, aber auch mit der Endlichkeit der menschlichen Natur. „Das einzige Werk und Tat der allgemeinen Freiheit ist daher der Tod und zwar ein Tod, der keinen inneren Umfang und Erfüllung hat.“5 Die absolute Freiheit treibt also den gleichfalls unbegrenzten Schrecken aus sich hervor. Im Tod, nirgends sonst, findet jene Freiheit ihr Gegenüber. In ihrem Sog zergeht Tradition zu nichts, was darin besonders sinnfällig wird, dass die verabsolutierte kalte Allmacht der Idee der absoluten Freiheit, die sich das Être supreme, einen neuen, aber auch seinerseits ganz und gar abstrakten Gottesbegriff, erdachte, auch die Zeit neu erfand.6 Sie „setzte“ einen von allem Habitus europäischen Ethos abgelösten leeren Tugendbegriff, der in jähem Umschlag in den Terror führte. Für die Vollstreckung jener totalen und zugleich gänzlich leeren Tugend firmiert wie eine Allegorie die Guillotine, ein auf äußerste Ökonomie gebrachtes Instrument massenhaften Tötens, unter dessen Ägide der leere Tod nach Hegel nicht mehr bedeutet, als ein durchschlagener Kohlstrunk und ein Schluck Wassers.7 Gleichwohl: der alte Immanuel Kant sah in der Französischen Revolution auch ein „Geschichtszeichen“ entworfen: was nichts anderes bedeutet, als dass die transzendentale Vernunftgeschichte in einem äußeren Ereignis zutage tritt und dass sinnfällig wird, dass die Natur sich für die Einung der Menschheit unter einer republikanischen Idee des Friedens verbürgt.8

II

Das Gegenbild, die Revolution von 1989, hatte ein langes Vorspiel, auch in Deutschland selbst. Dazu gehört nicht nur der 17. Juni 1953, dazu gehören auch die Biographien jener Opposition, die sich dem „eisernen Band“ der Ideologie stetig wie der Tropfen und teilweise entwanden.22 Man sollte bedenken, dass ohne die schmerzliche, aber zugleich nicht zu beugende Prägung dieser Biographien durch Jahrzehnte hindurch 1989 nicht möglich gewesen wäre. Manche Lebensläufe, die zu früh endeten, die durch Gewaltwirkung zerbrochen wurden, deren Potenziale sich nicht entfalten konnten, sind erst in dem guten Ausgang gerettet und bewahrt. Nicht wenige von ihnen erkannten seit Mitte der fünfziger Jahre, dass, wie mein philosophischer Lehrer Manfred Riedel (1936 - 2009) formulierte, im Ulbricht-Umkreis „die Phrase in die Phrase verliebt“ sei. Diese Phraseologie empörte sie, diesseits und jenseits gängiger politischer oder geschichtsphilosophischer Klischees. Nicht wenige von jenen denkenden jungen Menschen wurden in die Produktion verschickt, ihr Leben aus der Bahn geworfen: Unfälle, früher Tod waren nicht selten. Das Gesicht der „kommoden Diktatur“ hatte die DDR nur für die, die schwiegen und sich anpassten, und vor allem für die Linke des Westens. Die Fratze der totalen Überwachung, der Demütigung, Erziehungsdiktatur lag nicht allzu weit unter der Oberfläche verborgen. Die Geschichte der DDR-Opposition bis in das Jahr 1989 legt auch eindrucksvoll darüber Rechenschaft ab, dass sich nicht nur Unmut angestaut hatte, dass keinesfalls Hass bestimmend und keineswegs ein arbiträrer „DM-Nationalismus“ (wie Jürgen Habermas damals dekretierte) leitend war (wie verständlich auch die Suche nach einem ökonomisch besseren Leben ist!). Wesentliche Quellen des Wandels sind vielmehr ein unbändiger, oft jugendlicher Lebenswille bei jenen Frauen und Männern um das 40. Lebensjahr, die die damalige Revolution trugen, eine Parrhesia, ein Sagen- und Erkennenwollen. Den gedämpften, ergrauenden Ton wollten – und konnten – sie nicht ertragen. Ein durchgehender Tenor: Es gebe nichts Kostbareres als die eigene Lebenszeit. Sie darf nicht vergeudet werden. Kirchliche Räume bedeuteten ein Asylon, ganz im antiken Klang des Wortes: einen Raum der Unverletzlichkeit. Eine andere Sprache war dort zu hören als die der Partei. Und allein dies schärfte den Blick für den falschen Zungenschlag, für die Leerformeln von „Freiheit“, „Gleichheit“, „Frieden“, „sozialistischen Brüdervölkern“. Ein wesentlicher Ort waren dabei die Sprachenkonvikte und theologischen Seminare in Naumburg, Leipzig, Erfurt und Ost-Berlin. Oppositionsgeist, Widerspruch durchziehen, keineswegs nur oder auch nur primär von Akademikern geprägt, die Geschichte der DDR: von Neugier, Unbeugsamkeit bestimmt, ständig davon bedroht, zerstört und zerbrochen zu werden – und doch im letzten unverloren.

„Eine entgleisende Modernisierung der Gesellschaft im ganzen könnte sehr wohl das demokratische Band mürbe machen und die Art von Solidarität auszehren, auf die der demokratische Staat, ohne sie rechtlich erzwingen zu können, angewiesen ist. Dann würde genau jene Konstellation eintreten, die Böckenförde im Auge hat: Die Verwandlung der Bürger wohlhabender und friedlicher liberaler Gesellschaften in vereinzelte, selbstinteressiert handelnde Monaden.“39

Wolfgang Schuller ist in der Summe dieser Beobachtungen voll und ganz zuzustimmen, wenn er meint, dass sich gemeinsames Geschichtsbewusstsein der Deutschen in Europa vor allem auch auf den Herbst 1989 gründen lassen könnte: „Ein Ereignis, das ohne jegliche Relativierung ein neues deutsches Selbstgefühl der Freiheit begründen könnte? Das wäre eine glückhafte neue Identität aller Deutschen, die die Höhepunkte früherer deutscher Geschichte in sich einschließen könnte.“40 Und Ehrhart Neubert fügt überzeugend hinzu: Erstmals sei die Zeile der Nationalhymne: „Einigkeit und Recht und Freiheit“ 1989 wieder mit Leben erfüllt worden.41 Die Revolution von 1989 hatte auch dezidiert deutsche Züge, ohne dass je der Bruch von 1933  1945 zurückgenommen worden wäre.42 Doch Phänomen und Vermächtnis der Revolution weisen über die deutsche Dimension hinaus. Man wird sagen können, dies sei die erste Revolution der Deutschen gewesen, die den Namen verdient! Was für eine Revolution aber, eine die den Revolutionsbegriff selbst verändert, in der Sicherung von Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung vielleicht noch am ehesten der amerikanischen vergleichbar, ungleich näher aber der Reformation Luthers. 1968, aber auch 1918/​19 der Aufstand der Arbeiter- und Soldaten und die Räterepublik waren, wenn man sie „Revolutionen“ nennen soll, doch nur Surrogate, Filiationen von anderen großen Gärungen.

III

Spätestens hier kann man zum Fragekern vorgestoßen werden: Lässt sich eine geschichtstheologische Deutung dieser Revolution rechtfertigen, lässt sich gar begründet nahelegen, dass Gott...